fuhr von der Kurfürsten-Klinik aus nicht direkt nach Hause zu Mona. Er brauchte Zeit für sich, er mußte darüber nachdenken, was die Entdeckung für ihn bedeutete, daß er Bettina nach wie vor liebte.
Aber er wußte die Antwort eigentlich schon jetzt. Er würde schneller wieder abreisen, als er geplant hatte, das bedeutete es. Mona hatte zwar gesagt, Bettina liebe ihren Freund nicht mehr, weil sie ihn endlich durchschaut habe, aber offenbar hatte sie sich getäuscht. Nichts als Liebe sprach aus Bettinas eigensinnigem Verhalten. Auch Frau Dr. Martensen hatte das so gesehen.
Er lief blind und taub für seine Umwelt durch die Straßen. Wie hatte er sich auf Berlin gefreut und darauf, Bettina nach all den Jahren endlich wiederzusehen! Hatte er nicht gewußt, daß er sie immer noch liebte? Hatte er nicht geahnt, was dieses Wiedersehen in ihm auslösen würde?
Er sah ihr zerschundenes Gesicht vor sich und hätte am liebsten laut aufgeschrien vor Verzweiflung – aber auch vor ohnmächtigem Zorn. Bettina schützte den Mann, der für ihre Verletzungen verantwortlich war, sie klagte ihn nicht einmal an. Statt dessen ließ sie es sogar zu, daß man sie selbst an seiner Stelle beschuldigte, wie eine Wahnsinnige gefahren zu sein und andere in Gefahr gebracht zu haben. Es war völlig klar, was das zu bedeuten hatte. Mona hatte sich in ihrer Einschätzung über Bettina geirrt.
Er blieb stehen und sah sich um. Es dauerte einige Augenblicke, bis er sich orientiert hatte und wußte, wo er war. Langsam drehte er sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Es war Zeit, zu Mona zu fahren, sie wartete sicher schon auf ihn. Mona hatte immer gewußt, was in ihm vorging, kein Wunder, daß er sie nicht hatte täuschen können, so wie er sich selbst lange Zeit getäuscht hatte.
Er würde seiner Liebe kein Ende bereiten können, aber er mußte ihr zumindest aus dem Weg gehen, so aussichtslos wie sie war. Er wollte nicht in Bettinas Nähe sein, wo ihn seine Gefühle noch mehr quälten als sonst. Wenn viele tausend Kilometer zwischen ihnen lagen, dann gelang es ihm zumindest zwischendurch immer wieder, sich einzubilden, er werde sie eines Tages vergessen können.
Niemals, hämmerte es in seinem Kopf. Du wirst sie niemals vergessen, und das weißt du jetzt auch.
*
Bettina verstand sich selbst nicht mehr. Sie hatte begriffen, was Jens getan hatte, aber es war ihr gleichgültig. Oder zumindest fast gleichgültig. Sie brachte es einfach nicht fertig, richtig böse auf ihn zu sein. Wie war das nur möglich? Was er getan hatte, war schrecklich und absolut unverzeihlich. Warum also blieb sie jetzt so gelassen?
Die Erkenntnis darüber traf sie wie ein Hammer. Sie blieb deshalb so ruhig, weil Jens ihr gleichgültig geworden war. Sie wußte nicht mehr, wann sie aufgehört hatte, ihn zu lieben, aber sie ahnte, daß es schon vor längerer Zeit geschehen sein mußte, ohne daß es ihr bewußt geworden war.
Aber jetzt sah sie auf einmal ganz klar. Sie erkannte deutlich, daß sie eigentlich nie füreinander dagewesen waren. Vielmehr hatte Jens sie stets ausgenutzt, sie war vermutlich unglaublich bequem für ihn gewesen. Aber darüber durfte sie sich nicht beklagen, sie hatte es ja nicht anders gewollt. Schließlich war sie erwachsen und selbst für sich und das Leben, das sie führte, verantwortlich.
Aber mußte erst ein so schrecklicher Unfall geschehen, um ihr die Augen zu öffnen? Sie hätte sich längst von Jens trennen sollen. Schließlich wußte sie schon lange, daß er ein unreifer großer Junge war, der nur an sich dachte und stets versuchte, auf möglichst einfache Art und Weise durchs Leben zu kommen.
Und warum dann jetzt auf einmal diese Klarheit? grübelte sie weiter. Was hatte sich denn nun für sie geändert? Auch das wußte sie, stellte sie erstaunt fest. Es war der Anblick von Wolf gewesen, der so plötzlich an ihrem Bett gestanden und vertraut und fremd zugleich gewesen war. Wie oft hatte sie dieses Gesicht gesehen, ohne daß es etwas Besonderes für sie gewesen war? Ihr ›großer Bruder‹, so alltäglich wie die Mahlzeiten zu Hause und der Gang zur Schule. Was war jetzt plötzlich so anders geworden?
Sie konnte es nicht sagen, aber sie fühlte, daß ihr Herz laut und schmerzhaft gegen die Rippen pochte, und sie wünschte sich ein paar Jahre zurück. Damals war Wolf noch schrecklich in sie verliebt gewesen, und sie hatte überhaupt nicht verstanden, wie er auch nur auf die Idee hatte kommen können, sie werde seine Gefühle jemals erwidern.
Wie dumm bin ich doch damals gewesen, dachte sie, wie unglaublich dumm.
*
Jens Banter fühlte sich unsicher. Ständig blickte er sich um, aber er wußte eigentlich gar nicht genau, warum er das tat. Er rechnete nicht damit, daß ihn jemand verfolgte, trotzdem hatte er ein flaues Gefühl im Magen.
Er hatte sich erkundigt und wußte, wohin er gehen mußte. Niemand hatte ihn merkwürdig angesehen oder gefragt, ob er überhaupt das Recht hätte, hier zu sein. Nur ich, dachte er, nur ich weiß, daß ich dieses Recht nicht habe. Daß ich eigentlich ganz woanders sein sollte.
Das Gespräch mit Mona war schrecklich gewesen. Sie hatte ihm zunächst gar nichts sagen wollen, sondern nur geweint und ihn angeschrien, als sie seine Stimme erkannt hatte. Aber schließlich hatte er doch erfahren, daß Bettina den Unfall überlebt hatte. Das hatte ihm einen Schlag versetzt.
Natürlich war er froh darüber, daß sie lebte, aber es machte sein eigenes Handeln nur noch schlimmer, als es ohnehin gewesen war. Er hätte ihr helfen können, helfen müssen und hatte es demnach nicht getan.
Ich bin völlig durcheinander, dachte er, während er durch die langen Gänge lief. Alles habe ich falsch gemacht. Endlich hatte er das Zimmer gefunden, das er suchte. Eine Schwester blickte ihn fragend an, er sagte ihr, was er wollte, und sie nickte nur. Dann öffnete sie die Tür und sagte in den Raum hinein: »Frau Wördemann, hier ist Besuch für Sie.« Zu Jens gewandt, fügte sie hinzu: »Aber nicht länger als zehn Minuten, Frau Wördemann braucht noch viel Ruhe.«
Zögernd betrat Jens das Zimmer und lief auf das Bett zu, in dem Bettina lag. Sie sah ihm entgegen, und ihm stockte der Atem. Ihr Gesicht war über und über mit kleinen und kleinsten Wunden bedeckt, die ihr offenbar unzählige Glassplitter zugefügt hatten. Sie war ja aus dem Wagen geschleudert worden. Er hatte sich alles Mögliche vorgestellt, aber bestimmt nicht das.
»Hallo, Jens«, sagte sie so ruhig, daß ihm ohne jede Vorwarnung Tränen in die Augen stiegen. Wieso sprach sie so? Wieso warf sie ihn nicht sofort aus dem Zimmer?
»Ich dachte, du wärst tot«, stammelte er. »Ehrlich, ich dachte, du wärst tot, sonst wäre ich bestimmt dageblieben und hätte…« Er unterbrach sich und ließ den Kopf hängen. »Ich war betrunken und völlig durcheinander, Tina! Kannst du mir jemals verzeihen, was ich getan habe?«
»Schon passiert«, sagte sie leise. »Ehrlich, Jens.«
Er kam näher und setzte sich an ihr Bett, während er vorsichtig nach ihrer Hand griff. »Aber wieso?« fragte er unsicher. »Was ich getan habe, kann man nicht einfach verzeihen. Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Ich meine, ich weiß, daß ich ein Egoist bin und überhaupt kein guter Mensch – aber…«
»Schon gut«, sagte sie. »Ich habe nachgedacht, Jens. Ich liebe dich nicht, und du liebst mich auch nicht. Das stimmt doch, oder?«
Er versuchte, seine Betroffenheit über diese Worte nicht zu zeigen. Wenn er ein anderer Mensch werden wollte, dann würde er das nicht allein schaffen, er brauchte Hilfe dabei. Aber noch während er das dachte, wurde ihm bewußt, daß er sich bereits wieder verhielt wie immer. Er dachte nur an sich.
»Ja«, gab er endlich zu, »das stimmt wohl. Bei dir kann ich es nicht beurteilen, aber wenn ich dich geliebt hätte, dann wäre ich bei dir geblieben, als du da draußen lagst. Nein, falsch. Ich wäre gar nicht erst betrunken Auto gefahren. Ich hätte alles anders gemacht, glaube ich. Aber das kann ich nicht mehr ändern. Die Vergangenheit, meine ich.«
»Nein«, bestätigte sie, »das kannst du nicht.«
»Sucht mich die Polizei schon?« fragte er.
»Alle denken, ich hätte den Wagen gefahren«, erklärte sie. »Das heißt, es sind Zweifel aufgetaucht, aber bisher habe ich nicht gesagt, daß