aber als Leiter der Notaufnahme bin ich immer hier – ich fühle mich irgendwie ausgelaugt. Kannst du das verstehen, oder klingt das für dich merkwürdig?«
Julia Martensen sah ihn nachdenklich an. »Das klingt überhaupt nicht merkwürdig, Adrian. Niemand arbeitet so viel wie du, das weiß doch jeder hier. Ich habe mich schon oft gefragt, wie du das eigentlich schaffst – du hast ja ebensowenig wie ich eine Familie, die dich wieder aufbaut, wenn du abends nach Hause kommst.«
»Ich habe immerhin Frau Senftleben«, murmelte Adrian.
Julia mußte lachen. »Ich kenne deine Nachbarin ja leider nicht, aber ich kann dich nur um sie beneiden. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was du manchmal erzählst, dann muß sie völlig unbezahlbar sein.« Sie wurde wieder ernst. »Aber zurück zu dir. Was genau hast du denn vor?«
»Das weiß ich noch nicht. Wenn ich mich mit Herrn Laufenberg ein bißchen besser verstehen würde, dann könnte ich zu ihm gehen, ihm mein Problem vortragen und hoffen, daß ihm etwas dazu einfällt. Aber so, wie die Dinge liegen, werde ich das natürlich nicht tun.«
»Vielleicht würde ihm wirklich etwas einfallen«, meinte Julia. »Ich würde ihn an deiner Stelle fragen – egal, wie eure Beziehungen zur Zeit aussehen. Vielleicht würden sie sich dadurch sogar endlich normalisieren. Es ist absolut albern, daß sich ausgerechnet zwei hochmotivierte und talentierte Männer wir ihr nicht verstehen.«
»Von ›hochmotiviert‹ habe ich bei ihm bisher noch nichts bemerkt«, entgegnete Adrian mit verschlossenem Gesicht. »Und was seine Talente betrifft, die sind mir auch verborgen geblieben, muß ich gestehen.«
»Weil du eine vorgefaßte Meinung hast, von der du nicht abgehen willst«, bemerkte Julia tadelnd und betrachtete ihn kopfschüttelnd. »So kenne ich dich gar nicht, Adrian! Und das paßt auch nicht zu dir. Als Arzt bist du so besonnen – aber was Herrn Laufenberg betrifft, da kann ich nur sagen, daß du ein ausgesprochen unreifes Verhalten an den Tag legst!«
»Ist mir egal«, erwiderte Adrian grimmig. »Ich mag ihn nicht, und damit basta. Außerdem will ich mit dir gar nicht über ihn reden, sondern ich will wissen, ob ich auf dich zählen kann, wenn ich mich wirklich darum bemühe, der Notaufnahme mal für ein paar Wochen den Rücken zu kehren. Ich wüßte nicht, wer mich sonst vertreten sollte. Bernd ist noch nicht soweit, und Werner ist als Anästhesist ständig im Einsatz. Außerdem könnte ich mir vorstellen, daß ihm das auch zu stressig ist, er ist immerhin schon Ende fünfzig.«
»Er hat aber noch nie darüber geklagt, daß er sich ausgelaugt fühlt«, sagte Julia spitz. Sie ärgerte sich noch immer über Adrian, weil er sich in ihren Augen wie ein bockiger kleiner Junge verhielt, wenn es um den neuen Verwaltungsdirektor ging.
Adrian wurde rot, dann lächelte er verlegen. »Sei nicht böse auf mich«, bat er. »Ich weiß auch nicht, warum ich auf den Namen Laufenberg immer so gereizt reagiere.«
»Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung«, murmelte Julia. »Um deine Frage zu beantworten: Natürlich kannst du auf mich zählen. Ich finde, daß das eine gute Idee von dir ist, die eigentlich Schule machen sollte. Für jeden von uns wäre es gut, von Zeit zu Zeit aus dem gewohnten Trott auszubrechen.«
»Danke«, sagte Adrian, und nach kurzem Zögern schloß er seine schlanke Kollegin in die Arme und küßte sie auf beide Wangen. Dabei flüsterte er ihr ins Ohr: »Und du bist auch die einzige, die mir von Zeit zu Zeit mal die Meinung sagen darf!«
»Das tue ich sowieso, ob ich das nun darf oder nicht«, erwiderte Julia. »Und wie willst du das mit der anderen Station machen? Du weißt doch ganz genau, daß du mit Herrn Laufenberg darüber reden mußt – oder?«
»Darüber denke ich noch nach«, antwortete Adrian. »Ich hoffe, daß mir eine andere Lösung einfällt, eine interne, wenn du so willst. Es ist ein bißchen blöd, ihn wegen dieser Sache zu fragen, wo ich mich dauernd bei ihm darüber beschwere, daß wir hier zu wenig Personal haben – und dann komme ich auch noch an und will selbst für ein paar Wochen von der Station verschwinden. Das will ich nun gerade ihm nicht unbedingt sagen.«
»Unverbesserlich, der Mann«, meinte Julia.
»Wer?« erkundigte sich Bernd Schäfer interessiert. Der junge Assistenzarzt der Chirurgie war zu seinem Leidwesen in einen ständigen Kampf mit seinen zahlreichen überschüssigen Pfunden verwickelt. Außerdem war er Frauen gegenüber schüchtern, und deshalb war er meistens allein. Aber er tat so, als mache ihm das nur wenig aus. Er war oft verliebt, aber meistens erfuhren die betreffenden Frauen es nicht einmal. Nur die Kollegen in der Notaufnahme, mit denen er oft zusammenarbeitete, wußten über sein ›Liebesleben‹ recht gut Bescheid.
»Adrian«, antwortete Julia kurz angebunden. »Kaum fällt der Name Laufenberg, schon verwandelt sich der sonst so vernünftige Mann in einen unverständigen kleinen Jungen. Aber ich sage zu dem Thema nichts mehr. Wenn du willst, Bernd, dann kannst du ja dein Glück mal versuchen.«
Bernd hob abwehrend beide Hände. »O nein!« rief er. »Das Thema ist tabu, Julia!«
Er wechselte einen verschwörerischen Blick mit seiner Kollegin.
Adrian hatte genug. »Wollen wir uns vielleicht endlich mal wieder unseren eigentlichen Aufgaben zuwenden?« fragte er. »Oder möchtet ihr noch länger über mich sprechen? Dann geh ich schon mal vor.«
Bernd grinste breit,und Julia tat es ihm nach. Adrian gab sich geschlagen. »Ihr habt gewonnen«, sagte er. »Aber das nächste Mal ist einer von euch dran, darauf könnt ihr euch verlassen. Jeder Mensch hat seine schwachen Seiten, vergeßt das nicht.«
»Wem sagst du das?« fragte Bernd Schäfer und klopfte sich betrübt auf seinen runden Bauch.
In diesem Augenblick öffneten sich die Türen der Notaufnahme, und mehrere Unfallopfer wurden hereingebracht. Schlagartig änderte sich die Stimmung, von Ruhe war jetzt nichts mehr zu spüren. Die Schmerzensschreie der Verletzten erfüllten die Station, während die Ärzte sie in fliegender Eile untersuchten und erste Hilfsmaßnahmen einleiteten. In der nächsten halben Stunde fiel kein privates Wort mehr. So lange dauerte es, bis die Patienten soweit versorgt und stabilisiert waren, daß sie zur Weiterbehandlung in die Operationssäle geschickt werden konnten.
Als die Aufregung etwas nachließ, gestattete sich Julia Martensen einen prüfenden Blick zu
Adrian Winter. Nichts war zu spüren gewesen davon, daß er sich ausgelaugt fühlte. Völlig souverän hatte er dafür gesorgt, daß die Patienten behandelt wurden, nicht eine Sekunde lang hatte er die Übersicht verloren.
Ihr fiel niemand ein, der imstande gewesen wäre, eine so kritische Situation ebenso gelassen zu meistern wie er. Sie fragte sich, ob er wußte, wie gut er als Chef der Notaufnahme war. Vielleicht wußte er es nicht. Und vielleicht war genau das sein Problem.
*
An diesem Samstagmorgen saß Lolly Matthäus-Kleber mit ihrem Mann Burkhard beim Frühstück und studierte die Post. »Eine Karte von Inga!« sagte sie erfreut. »Die ist aber schnell angekommen, sie war nicht einmal eine Woche unterwegs, stell dir das mal vor.«
Burkhard Kleber nickte, ohne von seiner Zeitung aufzusehen. Das tat er erst, als seine Frau einen ziemlich schrillen Schrei ausstieß. »Was ist los, Lolly?« fragte er. »Irgendeine Katastrophe?«
»Holger hat sie gefragt, ob sie ihn heiraten will«, stieß Lolly hervor. Ihr hübsches rundes Gesicht hatte einen völlig entgeisterten Ausdruck angenommen.
»Sie hat ›nein‹ gesagt«, vermutete Burkhard gelassen, »und jetzt ist der ganze Urlaub verdorben.«
»Sie hat ›ja‹ gesagt!« stieß Lolly hervor.
Endlich ließ ihr Mann die Zeitung sinken. »Im Ernst?« fragte er mit wachsendem Interesse. »Warum?«
»Sie schreibt, es sei eigentlich ein Mißverständnis gewesen. Sie will es aber nicht aufklären, weil sonst der Urlaub verdorben wäre.«
»Kann ich mir denken. Wenn Jung-Holger nicht bekommt, was er sich in den Kopf gesetzt hat, dann kann er bestimmt ganz