zehn Jahre betrug. Lolly, die eigentlich Lorene hieß, aber von niemandem so genannt wurde, war Ingas ältere Schwester. Sie hatte gerade ihren fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert, während Burkhard bereits vierzig war. Die beiden hatten zwei Kinder, Kitty und Kai, die mit großer Liebe an ihrer jungen Tante Inga hingen.
Die zweieiigen Zwillinge waren jetzt acht, sehr aufgeweckte Kinder, die ihre Eltern manchmal zur Verzweiflung brachten – meistens aber kamen sie gut miteinander aus. An diesem Wochenende waren sie bei Freunden, und Lolly und Burkhard genossen die ungewohnte Ruhe.
»Aber wenn sie seinen Heiratsantrag angenommen hat, kann sie doch hinterher nicht einfach sagen: ›April, April‹, Burkhard! Das geht nicht, finde ich.«
Burkhard griff über den Tisch nach der Hand seiner Frau. »Mach dir keine Sorgen, Lolly. Inga macht das schon. Du kennst sie doch.«
»Das sagst du so leicht. Sie ist jetzt schon über ein halbes Jahr mit diesem Kerl zusammen, und manchmal hab ich wirklich Angst, daß sie an ihm hängenbleibt.«
»Das wird sie nicht. Irgendwann wacht sie auf, reibt sich die Augen und schickt Holger in die Wüste. Er sieht nun mal gut aus, das blendet sie wahrscheinlich. Aber das hört auf. Sie ist ein kluges Mädchen, die bleibt nicht auf Dauer mit so einem Typ wie Holger zusammen!«
Das klang ein wenig verächtlich, drückte aber recht genau aus, was Burkhard Ingas Freund gegenüber empfand. Er war mit seiner Frau über dessen Beurteilung völlig einig. Holger Weinmann war verwöhnt, unreif und egoistisch. Er war kein Mann für die temperamentvolle Inga, der alle Herzen zuflogen, weil sie immer lächelte und das Leben von der heiteren Seite nahm. Man konnte ihr nur schwer widerstehen.
Lolly und Inga hatten ein sehr enges und herzliches Verhältnis zueinander, obwohl der Altersunterschied zwischen ihnen so groß war. Aber Lolly hatte sich für ihre kleine Schwester immer verantwortlich gefühlt, und Inga hatte zu Lolly geradezu unbegrenztes Vertrauen. Da hatte es sich nicht einmal störend ausgewirkt, daß Lolly Ingas Freund Holger unmöglich fand.
»Hoffentlich hast du recht«, sagte Lolly bedrückt. »Ehrlich, Burkhard, wenn Inga unglücklich würde, das wäre für mich ganz schrecklich.«
»Sie wird ihn nicht heiraten!« wiederholte ihr Mann nachdrücklich und tätschelte noch einmal ihre Hand. »Ich würde darauf wetten. Und jetzt laß dir nicht den Tag von dieser Karte verderben, Schätzchen. Wir sind an diesem Wochenende ohne Kinder, das muß schließlich gebührend gefeiert werden, oder?«
»Hattest du etwas Bestimmtes im Auge?« erkundigte sich Lolly lächelnd.
Er erhob sich, stellte sich neben ihren Stuhl und zog sie in die Höhe. »Und ob!« sagte er. »Findest du nicht auch, daß wir uns noch mal ein bißchen ins Bett zurückziehen könnten?«
Sie gab ihm einen Kuß und ein paar Laute von sich, die er als Zustimmung auslegte. Eng umschlungen gingen sie zurück ins Schlafzimmer.
*
Inga Matthäus lag mit einer schlanken dunkelhaarigen Frau am Strand. Ulrike Monheim hatte einige Jahre als Entwicklungshelferin gearbeitet, nun aber machte sie Urlaub, genau wie Inga und Holger. Südafrika, hatte sie erzählt, sei schon lange ihr Traum gewesen, den sie sich jetzt endlich habe erfüllen können. Sie hatte eine leise, angenehme Stimme und konnte außerordentlich interessant erzählen.
Inga war mit Holger eine Woche durchs Land gereist, jetzt aber wollten sie sich wieder ein paar Tage erholen. Holger hatte keine Lust gehabt, sie an den Strand zu begleiten, er war im Hotel geblieben. Und so hatte Inga Gelegenheit, sich mit Ulrike Monheim zu unterhalten, die sie bereits an ihrem ersten Tag in Südafrika kennengelernt hatten. Sie wohnte im selben Hotel, aber Holger hatte sie von Anfang an nicht gemocht, und deshalb waren sie einander bisher nicht nähergekommen, was Inga sehr bedauerlich fand. Nun hatten sie sich zufällig am Strand getroffen und unterhielten sich lebhaft miteinander.
»Und Sie waren Entwicklungshelferin in Äthiopien?« staunte Inga. »Das finde ich hochinteressant. Wissen Sie, ich bin Einkäuferin für junge Mode. Ich arbeite für ein großes Kaufhaus, und das ist ziemlich stressig, weil ich mich niemals vertun darf, die Sachen müssen sich ja hinterher verkaufen lassen – und wenn sie es nicht tun, ist es meine Schuld. Ich mache die Arbeit gern, auch das Risiko gefällt mir eigentlich, auf diese Weise wird es nicht so schnell langweilig. Und von purer Routine kann auch keine Rede sein. Aber ich habe schon oft darüber nachgedacht, ob es nicht schöner wäre, einen Beruf zu haben, in dem man etwas für andere Menschen tun kann. Etwas wirklich Sinnvolles. Ich bewundere Sie, daß Sie so etwas machen!«
Ulrike Monheim lächelte. »Ach, überschätzen Sie das nicht, ich selbst finde mich nicht besonders bewundernswert. Was wir machen, klingt vielleicht edelmütig, aber in Wirklichkeit bekommen wir für unseren Einsatz auch so viel Liebe zurück, daß ich oft das Gefühl habe, reich beschenkt zu werden. Es ist eine anstrengende, aber wunderbare Arbeit.«
»Das klingt schön, wie Sie das sagen«, meinte Inga nachdenklich und warf ihre glatten dunkelblonden Haare nach hinten. »Jedenfalls fragen Sie sich doch bestimmt nie, ob Ihr Leben überhaupt einen Sinn hat, oder? Denn es ist ja ganz klar, daß es einen hat. Bei mir bin ich da nicht so sicher.«
Die andere schüttelte den Kopf. »Zweifel haben wir alle«, stellte sie sachlich fest. »Wissen Sie, wenn ich sehe, wie wir uns bemühen, den Menschen in den ärmsten Ländern dieser Welt wenigstens ein paar Grundregeln der Hygiene beizubringen, und wie sie dann doch immer wieder Wasser aus verseuchten Flüssen trinken oder ohne Kondom Geschlechtsverkehr haben – dann frage ich mich schon auch, ob das nicht alles sinnlos ist, was ich da tue.«
»Aber Sie haben wenigstens versucht zu helfen«, meinte Inga. »Und das zählt doch auch.«
»Ja, das zählt. Aber jeder Mensch hat andere Begabungen. Und man muß sie nutzen. Warum soll jemand als Entwicklungshelfer arbeiten, wenn ihm dazu die Geduld, das Einfühlungsvermögen und auch die Stärke fehlen? Oder ganz einfach die Lust? Das wäre sinnlos. Lust gehört nämlich auch dazu.«
»Von dieser Seite habe ich das noch nie betrachtet«, meinte Inga. Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Ich rede mit Ihnen, Sie sind so anders als die meisten Menschen, die ich kenne.«
Ulrike Monheim lächelte voller Zuneigung. »Danke, gleichfalls. Aber ich fürchte, unser Gespräch wird gleich beendet sein. Ihr Freund kommt. Und wenn ich das richtig sehe, dann redet er mit mir überhaupt nicht gern.«
Bevor Inga etwas erwidern konnte, hatte Holger die beiden jungen Frauen schon erreicht. Mürrisch sagte er: »Guten Tag« zu Ulrike, die seinen Gruß freundlich und gelassen erwiderte.
»Komm mit, Inga!« forderte er dann. »Laß uns schwimmen gehen.«
»Geh allein, ich hab keine Lust. Ich möchte mich noch ein bißchen unterhalten.«
Er durchbohrte sie fast mit seinen Blicken, und für einen Augenblick tat es ihr leid, so reagiert zu haben. Er würde sie den ganzen Abend mit seiner schlechten Laune tyrannisieren. Aber sie wollte jetzt nicht nachgeben.
Schließlich wandte sich Holger ab und ging zum Wasser. Selbst sein Rücken drückte aus, wie sehr er sich ärgerte.
»Gehen Sie ihm nach«, riet Ulrike Monheim. »Wir können uns ein anderes Mal weiter unterhalten.«
»Soviel Zeit bleibt nun auch nicht mehr«, meinte Inga. »Wir haben schon mehr als die Hälfte unseres Urlaubs herum. Und Sie?«
»Oh, ich bleibe noch vier Wochen!« lachte Ulrike. »Dieses ist für mich der erste Urlaub in zehn Jahren – der muß sich doch lohnen, finden Sie nicht?«
»Der erste Urlaub in zehn Jahren!« Ingas Stimme klang fast andächtig. »Ehrlich, Frau Monheim, ich weiß nicht, wie Sie das machen. Ich wäre völlig kaputt, wenn ich nicht wenigstens einmal im Jahr alle viere von mir strecken und meinen Job vergessen könnte.«
»Das ist alles Gewohnheitssache«, meinte Ulrike.
Sie schwiegen einträchtig, und Inga merkte nicht einmal, daß Holger wieder aus dem Wasser kam. Er blieb neben ihr stehen, in der Hoffnung, sie werde sich ihm nun endlich