versucht haben, sie ausfindig zu machen. Frau Wördemann war auf dem Weg zu ihnen, als der Unfall passiert ist.«
»Ich bin gleich bei Ihnen«, rief Adrian. »Das interessiert mich, die Sache mit den Freunden. Außerdem bin ich sowieso nur so früh gekommen, um nach Frau Wördemann zu sehen.«
»Dann bis gleich«, erwiderte der Stationsarzt und legte auf.
*
Bettina schwamm durch eine Welt, die ihr völlig unbekannt war. Staunend nahm sie Dinge wahr, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, aber wenn sie sich ihnen näherte, zerflossen sie plötzlich und lösten sich vor ihren Augen in nichts auf. Sie konnte sich das nicht erklären und versuchte es immer wieder – aber die Welt um sie herum blieb in Bewegung, sie veränderte sich ständig.
Allmählich war sie es leid, immer weiter herumzuschwimmen und nicht ans Ziel zu kommen. Erst allmählich fiel ihr auf, daß das merkwürdige blaue Licht, das um sie herum war, nicht überall gleich aussah. War es nicht da hinten viel heller?
Sie legte den Kopf zurück und blinzelte. Ja, tatsächlich, es gab in dieser merkwürdigen, zerfließenden Welt einen hellen Fleck, und sie beschloß, es noch ein letztes Mal zu versuchen. Sie würde sich diesem Fleck nähern und darauf achten, ob er Bestand haben oder sich ebenso auflösen würde wie all die anderen Dinge, denen sie sich bisher genähert hatte.
Langsam glitt sie darauf zu. Sie schwamm jetzt nicht mehr, sondern es war eine Art der Fortbewegung, die sie noch nie zuvor ausprobiert hatte. Sie ging nicht, sie glitt. Wie sie das machte, war ihr nicht ganz klar, aber sie kam ziemlich schnell voran, und das freute sie.
Der weiße Fleck vor ihr wurde größer, das machte ihr Mut. Er war zumindest noch immer da und hatte sich bisher nicht aufgelöst. Er wuchs weiterhin, jetzt hörte sie sogar eine Stimme. Es war eine Stimme, die ganz deutlich ihren Namen sagte. Ihren Vor- und ihren Nachnamen.
»Bettina Wördemann! Hallo, Bettina Wördemann!«
»Das bin ich«, sagte sie glücklich und glitt weiter. Der Fleck vergrößerte sich noch einmal, und plötzlich wußte sie, daß gleich etwas Entscheidendes passieren würde. Sie würde etwas entdecken, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ihr Herz schlug heftig vor Aufregung, und wieder hörte sie die Stimme ihren Namen sagen.
»Bettina Wördemann, so wachen Sie auf!«
Sie wollte sagen, daß sie nicht aufwachen mußte, weil sie doch längst wach war, aber komischerweise wollten ihr die Worte nicht über die Lippen kommen, so sehr sie sich auch darum bemühte. Dabei hatte sie noch nie Schwierigkeiten mit dem Sprechen gehabt, soweit sie sich erinnern konnte.
»Kommen Sie, Sie hören mich, das weiß ich.«
Der weiße Fleck war jetzt direkt vor ihr. Er löste sich nicht auf, und sie streckte die Hand danach aus, um ihn zu fassen. Dann erst würde sie wissen, worum es sich eigentlich handelte. Aber es war schwer, die Hand zu heben, doch der Fleck war noch immer da.
»Frau Wördemann!«
Und in diesem Moment wußte sie, was sie zu tun hatte. Die Lösung war so einfach, daß sie sich fragte, warum ihr das nicht früher schon eingefallen war. Sie schlug ganz einfach die Augen auf.
Sofort war der weiße Fleck verschwunden. Sie sah in warme braune Augen, die sie freundlich ansahen.
»Wo bin ich?« fragte sie erstaunt. »Und wer sind Sie?«
»Sie sind in der Kurfürsten-Klinik, Frau Wördemann. Sie hatten gestern abend einen schweren Unfall.«
»Ja?« Ihre Stimme klang ungläubig.
»Ja. Mein Name ist Adrian Winter, ich leite die Notaufnahme dieser Klinik. Man hat Sie hierher zu uns gebracht – übrigens mit einem Hubschrauber. Ich habe Sie heute nacht noch operiert. Und ich habe schon einmal mit Ihnen gesprochen. Wissen Sie das noch?«
»Nein«, antwortete sie verwirrt und fragte dann: »Was… was fehlt mir denn?«
»Ein paar Brüche, eine verletzte Milz, ein paar Schnittwunden. Und Sie haben eine schwere Gehirnerschütterung«, antwortete der Arzt. »Deshalb können Sie sich nicht an den Unfall erinnern – das nennt man retrograde Amnesie. Alles, was vorher war, wissen Sie noch, aber an den Unfall selbst haben Sie keine Erinnerung.«
»Ja, das stimmt«, sagte sie leise.
»Die Polizei wird Sie befragen wollen, Frau Wördemann.«
»Warum?« fragte sie unsicher.
»Weil Sie viel zu schnell gefahren sind und einen anderen Autofahrer in große Gefahr gebracht haben. Der Mann hat Anzeige erstattet.«
»Zu schnell gefahren?« fragte sie und runzelte die Stirn, so heftig dachte sie offenbar nach.
»Ja, viel zu schnell, wenn man bedenkt, was für ein Unwetter letzte Nacht geherrscht hat. Die Sicht muß schlecht gewesen sein, die Straßen waren glatt – aber Sie sind gerast.«
Er schwieg und sie begriff, daß er eine Erklärung von ihr erwartete. Doch statt dessen biß sie sich heftig auf die Lippen, als wollte sie sich daran hindern, voreilig etwas zu sagen. »Tut mir leid«, brachte sie nach einer Weile zögernd heraus, »aber daran kann ich mich nicht erinnern.«
Adrian Winter sah sie durchdringend an. »Es fällt Ihnen sicher noch ein, Frau Wördemann. Ich bin jedenfalls froh, daß es Ihnen den Umständen entsprechend gutgeht. Am besten, Sie schlafen jetzt weiter. Wir haben den Polizisten gesagt, daß Sie vor dem Abend auf keinen Fall vernommen werden können.«
Er stand auf und machte Anstalten, sich zu verabschieden, sie hielt ihn jedoch zurück. »Herr Dr. Winter«, sagte sie hastig, »wie hat sich dieser… dieser Unfall eigentlich abgespielt?«
Er erklärte es ihr und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Sie stellte jedoch keine weiteren Fragen und gab auch keinerlei Erklärungen dazu ab. Er hatte das sichere Gefühl, daß sie mehr wußte, als sie zugeben wollte.
»Auf Wiedersehen, Frau Wördemann. Ich habe wieder Nachtdienst, wahrscheinlich komme ich im Laufe der Nacht noch einmal vorbei und sehe nach Ihnen.«
»Vielen Dank für alles«, sagte sie, bevor er das Zimmer verließ, aber sie sagte es so leise, daß er es nicht mehr hören konnte.
Adrian beschloß, noch einmal mit Julia Martensen über die Patientin zu sprechen. Sie hatte eindeutig recht gehabt: Etwas stimmte hier nicht. Schließlich hatte ihm der Stationsarzt zuvor erzählt, daß Frau Wördemanns Freunde sich nach einem Mann erkundigt hatte, der angeblich bei ihr hätte sein müssen. Demnach hatten zwei Personen im Auto gesessen. Wo aber war dieser Mann? Und warum hatte Frau Wördemann selbst ihn bisher nicht erwähnt?
Erst als er schon in der Notaufnahme war, fiel ihm wieder ein, daß sie sich schon zweimal erkundigt hatte, ob bei dem Unfall noch jemand verletzt worden sei. Vielleicht hatte sie dabei gar nicht an ein mögliches Opfer in einem anderen Auto gedacht, sondern an jemanden, der während der Fahrt neben ihr gesessen hatte?
*
Als Bettina das nächste Mal erwachte, saßen zwei Polizeibeamte an ihrem Bett, die sich mit ›Baier und Frentrup‹ vorstellten. Sie erinnerte sich vage an den Besuch von Dr. Winter und dessen Ankündigung, und sie wußte, daß sie aufpassen mußte, was sie jetzt sagte.
»Frau Wördemann«, begann der Beamte mit Namen Baier, »können Sie sich erinnern, wie es zu dem Unfall gekommen ist?«
»Nein«, sagte sie leise. »Jedenfalls nicht richtig. Ich weiß nur noch, daß es sehr stürmisch war und geregnet hat. Und dann kam u… mir ein Auto entgegen, das mich geblendet hat. An mehr kann ich mich nicht erinnern.«
»Sie wissen, daß Sie viel zu schnell gefahren sind?«
»Nein, davon weiß ich nichts«, antwortete sie zögernd. »Ich fahre normalerweise nicht zu schnell. Warum sollte ich es denn in einer solchen Nacht tun?«
»Das haben wir uns auch schon gefragt.« Jetzt war es der andere Polizist, der sprach. »Sie müssen nicht nur ein bißchen zu schnell