Nina Kayser-Darius

Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman


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um die Schultern. »Na und?« fragte er voller Sympathie. »Älter werden wir alle, daran ist nun einmal nichts zu ändern. Aber ich habe vorhin noch gedacht, daß du eine der attraktivsten Frauen von knapp vierzig bist, die ich kenne.«

      Das brachte sie zum Lachen. »Danke für das Kompliment, Adrian. Normalerweise habe ich für diesen Jugendwahn ja nicht viel übrig, das weißt du. Aber manchmal, wenn ich die jungen Frauen sehe und daran denke, daß ich bald fünfzig werde, da bekomme ich so eine merkwürdige Panik…«

      Noch nie hatte sie so mit ihm gesprochen, und noch nie hatte er sich ihr so nahe gefühlt. Julia Martensen war eine eher kühle Frau, die ihren Mitmenschen nur selten einen Blick in ihr Herz erlaubte. Der einzige, dachte Adrian, den sie etwas näher hatte herankommen lassen, war Werner Roloff. Der Anästhesist mochte sie, wie Adrian wußte, ebenfalls sehr gern. Aber er war ja mit dieser verrückten Opernsängerin verheiratet.

      »Die Panik vergeht wieder«, meinte er tröstend. »Du weißt doch, daß sie einen in regelmäßigen Abständen überfällt. Als ich dreißig wurde, habe ich auch gedacht, daß ab sofort alles anders wird. Und was war? Es hat sich überhaupt nichts verändert. Du glaubst doch wohl nicht, daß eine Fünf am Anfang einen Unterschied ausmacht? Außerdem hast du noch ein paar Jahre Zeit bis dahin.«

      »Zwei«, stellte sie fest, aber sie lächelte schon wieder.

      »Laß uns noch einmal über Bettina Wördemann reden«, bat er. »Du glaubst, sie hat nicht getrunken?«

      »Das nehme ich an, aber wie gesagt, wir werden ihr Blut darauf untersuchen.«

      »Aber warum ist sie dann gerast wie eine Verrückte?« fragte er. »Das haben sie doch gesagt, oder? Daß sie viel zu schnell gefahren ist und deshalb von der Fahrbahn abgekommen ist.«

      »Ja, das haben sie gesagt. Es gibt einen Zeugen dafür – diesen Autofahrer, der ihr entgegengekommen ist. Er hat gebremst und noch gesehen, wie sie quer über die Straße geschossen ist. Zum Glück hat er gleich die Polizei alarmiert.«

      »Meinst du, sie hat sich umbringen wollen?«

      »Ich weiß es nicht, Adrian. Aber ich habe ein merkwürdiges Gefühl bei der Sache. So ein Gefühl, als wenn etwas nicht stimmt. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen.«

      »Wann kommen die Polizisten wieder?«

      »Keine Ahnung. Aber da ich ihnen gesagt habe, daß sie vor dem Abend sicher nicht mit ihr sprechen können, haben sie eigentlich keinen Grund, vorher zu kommen.«

      »Ruf doch gleich mal im Labor an«, bat er. »Es interessiert mich, was bei der Blutuntersuchung herauskommt. Und weißt du was?«

      Sie sah ihn fragend an.

      »Ich glaube, du hast recht mit deinem komischen Gefühl. Das hat überhaupt nichts mit Alter und Sentimentalität zu tun.«

      Sie lächelte, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Danke, Adrian. Du bist ein guter Freund.«

      »Und wer küßt mich?« erkundigte sich Bernd Schäfer und ließ seine Augen aufmerksam zwischen ihnen hin und her wandern.

      »Ich«, antwortete Julia freundlich und ließ dieser Ankündigung sofort die Tat folgen. Dann verließ sie das Zimmer so energiegeladen, wie man das von ihr kannte.

      »Eine tolle Frau«, schwärmte Bernd voller Bewunderung. »Ein bißchen zu alt für mich, aber…«

      »Halt den Mund, Bernd«, sagte Adrian schmunzelnd. »Und komm mit. Wir haben noch immer jede Menge Arbeit.«

      *

      »Laß uns aufhören«, sagte Mona erschöpft. »Das hat keinen Sinn, Wolf, wir werden heute nacht von niemandem eine Auskunft bekommen. Du hörst es doch: Chaos in jedem Berliner Krankenhaus.«

      Aber Wolf schüttelte verbissen den Kopf und wählte bereits die nächste Nummer. Als sich jemand am anderen Ende der Leitung meldete, erklärte er, was er wollte, und bekam die Antwort, die er sich schon seit Stunden anhörte: »Versuchen Sie es bitte morgen früh wieder, Herr Mickwitz. Wir haben so viele Neuzugänge gehabt in den letzten Stunden, daß wir im Augenblick keine Auskunft geben können. Es tut mir leid, aber Sie müssen sich gedulden.« Die Stimme, die das sagte, klang sehr müde. Wahrscheinlich hatte sie diese Auskunft schon unzählige Male gegeben in dieser Nacht. Dann wurde aufgelegt.

      »Und?« fragte Mona.

      »Wieder nichts«, antwortete Wolf trübe. »Es ist zum Verzweifeln, Mona.«

      »Wir hören jetzt auf«, sagte sie energisch, »und versuchen, wenigstens noch ein bißchen Schlaf zu bekommen. Morgen früh machen wir weiter. Das bringt doch nichts, Wolf. Wir machen uns hier nur verrückt – und es hilft niemandem.«

      Sie hatte recht, und er wußte es. Er wußte aber auch, daß er jetzt nicht würde schlafen können. »Ich kann nicht schlafen, Mona. Wenn ich mir vorstelle, daß Bettina…« Aber er sprach es nicht aus.

      »Laß uns schlafen gehen«, wiederholte sie drängend. »Ehrlich, Wolf, ich kann nicht mehr. Obwohl ich mir schreckliche Sorgen um Bettina mache, aber wir helfen ihr nicht dadurch, daß wir die ganze Nacht vergeblich telefonieren.«

      »Ja, ich weiß«, sagte er leise.

      Sie erhob sich und fing an, das Sofa auszuziehen, auf dem er schlief. Er hätte ihr sagen können, daß sie sich die Mühe nicht machen mußte, denn er würde kein Auge zutun in dieser entsetzlichen Nacht, aber er ließ es sein. Er würde sich ausstrecken und seine schmerzenden Glieder entspannen. Wenigstens das.

      Und vielleicht schlief zumindest Mona noch ein paar Stunden. Er hatte kein Recht, sie davon abzuhalten. Es war seine Angst, seine Verzweiflung, und damit mußte er selbst fertigwerden. Sie konnte ihm nicht helfen. Er wußte, daß auch Mona Angst um Bettina hatte, aber sie ging anders damit um. Seine Schwester war eine Optimistin, sie rechnete immer damit, daß sich alles zum Guten wenden würde.

      Er selbst tat das normalerweise auch – nur dann nicht, wenn es um Bettina ging. Dann beherrschten ihn Ängste, die völlig irrational waren. Aus ihnen beiden würde niemals ein Paar werden, das wußte er. Und vielleicht war ja die jetzige Situation gerade deshalb besonders schlimm. Wenn er nur hätte für sie dasein dürfen!

      Ich bin verrückt, dachte er. Ich glaube allen Ernstes, daß kein anderer Mann sie so lieben kann wie ich. Aber obwohl er die Anmaßung erkannte, die darin lag, war er tatsächlich davon überzeugt.

      »Versuch zu schlafen«, sagte Mona, gab ihm einen Kuß und verschwand in ihrem Schlafzimmer.

      Er zog sich aus und legte sich hin. Bettina, wo bist du? dachte er. Und dann merkte er verwundert, daß ihm die Augen zufielen und sich seine Gedanken verirrten. Wenige Minuten später war er fest eingeschlafen.

      *

      »Wie geht’s ihr?« fragte Adrian den diensthabenden Arzt auf der Intensivstation leise, als er am frühen Morgen noch einmal nach Bettina Wördemann sehen wollte.

      »Es geht, wir machen uns noch immer Sorgen um sie. Das Herz will noch nicht so richtig«, antwortete der Kollege.

      »Ist sie schon einmal wach gewesen?«

      »Nein, bisher nicht.«

      »Dann warte ich noch ein bißchen, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Adrian. »Ich wäre ruhiger, wenn ich ein paar Sätze mit ihr gesprochen hätte.«

      »Können Sie denn die Notaufnahme so lange allein lassen?«

      »Mein Dienst ist zu Ende«, erklärte Adrian. »Wir hatten eine furchtbare Nacht, aber jetzt ist es ruhig unten.«

      »Es war überall furchtbar«, erwiderte sein Kollege. »Sie sehen ja, wir sind auch voll belegt hier – so voll ist es auf der Intensivstation schon lange nicht mehr gewesen.« Er wandte sich zum Gehen. »Bis später, Herr Winter.«

      Adrian nickte nur. Er betrachtete das zerschundene Gesicht der Patientin und dachte über sein Gespräch mit Julia Martensen nach. Sie hatte recht gehabt: Die Blutuntersuchung hatte ergeben,