antwortete nicht sofort. Erst nach einer Weile fragte sie: »In welchem Zustand war ich, als wir abgeflogen sind?«
»Es ging dir nicht besonders«, antwortete Holger zurückhaltend. Ihm ging dieses Gerede auf die Nerven. Warum hörte sie denn nicht endlich damit auf? Er wollte wieder weg, sie sah so schrecklich aus, daß er es nicht über sich brachte, sie anzusehen. Beharrlich blickte er in eine andere Richtung, obwohl er spürte, daß ihre Augen fest auf ihn gerichtet waren. »Was soll das alles, Inga? Du bist jetzt hier. Also, warum hackst du immer darauf herum, wie es dir ging, als wir abgeflogen sind?«
Etwas in ihr rastete aus. »Ach, nur so«, antwortete sie, und fast ohne es zu wollen fügte sie noch einige Sätze hinzu: »Du brauchst mich nicht mehr zu besuchen, Holger. Ich glaube, das mit uns, das war ein Irrtum. Ich will dich nicht mehr sehen.«
Sie meinte es eigentlich nicht ernst. Vielmehr wollte sie ihn nur endlich aus seiner merkwürdigen Erstarrung lösen. Sie wollte, daß er sich wieder normal verhielt und nicht mehr so tat, als sei sie eine Fremde für ihn. Er sollte ihr sagen, daß er sie liebte, und er sollte über ihre bevorstehende Hochzeit reden. Denn sie hatten sich schließlich in Südafrika verlobt – oder etwa nicht? Auch wenn das nur auf einem Mißverständnis beruhte…
Aber Holger tat nichts von dem, was sie erwartet hatte. Er nickte nur, sagte leise: »Wahrscheinlich hast du recht« und
verließ augenblicklich das Zimmer. Und wenn sie sich nicht
sehr täuschte, dann war er sogar erleichtert darüber gewesen.
Sie schloß die Augen und wartete darauf, daß der Schmerz kam und sie überrollte. Sie wartete auf die Tränen, die sie dem schönen Holger nachweinen würde, auf das ganze schreckliche Unglück, das Liebeskummer zwangsläufig bedeutet. Aber nichts geschah, in ihrem Inneren blieb alles ruhig. Sie fühlte nichts. Jedenfalls keine Trauer und auch kein Unglück.
Als Dr. Winter das nächste Mal nach ihr sah, war sie fest eingeschlafen.
*
»Seht mal, wer da ist!« rief Dr. Julia Martensen ihren Kolleginnen und Kollegen zu, als Adrian Winter die Notaufnahme betrat. »Was willst du denn hier, Adrian? Bist du auf der Isolierstation nicht ausgelastet?«
»Natürlich ist er ausgelastet«, warf Dr. Bernd Schäfer ein. »Hast du noch nichts von dieser Pocken-Geschichte gehört, Julia?«
Adrian stöhnte laut auf. »Rede nicht von Pocken, Bernd, die Patientin hat Windpocken.«
»Erzählt mir sofort, wovon ihr sprecht!« verlangte Julia. »Ich habe mal wieder nichts mitbekommen.«
Bernd Schäfer ließ sich das nicht zweimal sagen, und er berichtete ihr sofort, was er wußte. Adrian mußte an mehreren Stellen korrigierend eingreifen, denn sein jüngerer Kollege neigte zu Dramatisierungen an äußerst unpassenden Stellen. »Und dann ist das Sekret mit einer Polizeistafette ins Hygiene-Institut gebracht worden, stell dir das mal vor, Julia!« schloß er gerade.
»Im Ernst?« wunderte sich die aparte Internistin. »Dann ist das ja genauso verlaufen, Adrian, wie du es dir gewünscht hast, oder? Du wolltest doch Erfahrungen auf anderen Gebieten sammeln.«
»Aber nicht unbedingt alle auf einmal«, seufzte er, doch er lächelte dabei.
»Und nun ist alles geklärt?« fragte Julia. »Die Patientin hat Windpocken und befindet sich bereits auf dem Wege der Besserung.«
»Ja, so sieht es aus«, bestätigte er. Nun endlich wandte er sich seinem Freund Martin Sommer zu, der sich, wie stets, bescheiden im Hintergrund gehalten hatte. »Ich bin eigentlich hier, um euch einen Freund von mir vorzustellen, Martin Sommer, der ebenfalls Arzt ist. Er würde sich gern ein wenig bei uns umsehen, und ich habe ihm erzählt, daß dazu keine Abteilung besser geeignet ist als die Notaufnahme, weil es hier von freundlichen und hilfsbereiten Kollegen nur so wimmelt.«
»Interessant, das zu hören«, grinste Bernd Schäfer und streckte seine Hand aus. »Wenn Sie ein Freund von Adrian sind, dann sind Sie uns natürlich herzlich willkommen. Wie ist es: Wollen Sie sich auch ein bißchen nützlich machen?«
Alle lachten, als Martin zögernd zugab: »Eigentlich nicht, wenn es nicht unbedingt sein muß.«
»Schade«, seufzte der wohlbeleibte Assistenzarzt. »Gerade heute hätte ich gern ein bißchen Unterstützung gehabt.«
»Wie stehts denn?« fragte
Adrian. »Kommt ihr zurecht?«
»Ohne dich? Kaum!« spottete Julia. »Aber wir geben uns die größte Mühe.« Dann nahm sie ihn in den Arm und gab ihm einen leichten Kuß auf jede Wange. »Klar kommen wir zurecht. Aber es ist schöner, wenn du da bist. Wir freuen uns darauf, wenn du zurückkommst, Adrian.«
Er erwiderte ihre Umarmung und küßte sie ebenfalls.
Später an diesem Tage sagte Martin Sommer nachdenklich: »Du hast wirklich unglaublich nette Kollegen, Adrian. Allmählich beneide ich dich richtig. Auch dieser Herr Laufenberg heute vormittag – das ist schon ein ganz toller Typ. Was macht er eigentlich?«
Er bemerkte Adrians verschlossene Miene nicht, als dieser antwortete: »Er ist unser neuer Verwaltungsdirektor.«
»Echt? Da könnt ihr aber von Glück sagen, daß ihr einen so aufgeschlossenen Mann auf einem solchen Posten habt. Ich fand ihn auf Anhieb gleich sympathisch.«
Adrian nickte nur, sagte aber kein Wort. Schon wieder einer, dachte er. Bald würde er der einzige sein, der mit Thomas Laufenberg nicht gut auskam.
*
»Wie hat Ihnen denn Ihr erster Tag in Berlin gefallen, Herr Sommer?« erkundigte sich Carola Senftleben, als Martin Sommer sein Gepäck bei ihr abholte.
»Großartig, Frau Senftleben, aber ich hatte eigentlich nichts anderes erwartet. Die Klinik ist sehr beeindruckend, das muß ich sagen. Ich habe mich für morgen dort noch einmal angekündigt. Alle sind sehr aufgeschlossen und hilfsbereit und haben nichts dagegen, wenn sich ein Kollege mal vor Ort umsieht. Ich habe beschlossen, dem Verwaltungsdirektor noch einen Besuch abzustatten, nachdem ich ihn heute zufällig kennengelernt habe. Ein äußerst sympathischer Mann.«
»Ja?« fragte Frau Senftleben und schaffte es, einigermaßen unbefangen zu erscheinen. Von ihrem Nachbarn Adrian Winter hörte sie ja immer ganz andere Sachen über diesen Herren Laufenberg – als sympathisch hatte er ihn jedenfalls noch nie bezeichnet. »Beschreiben Sie ihn mir!« bat sie. »Es ist für mich sehr interessant, wie Sie die Dinge in der Klinik sehen – ich höre die Geschichten ja sonst immer nur von Herrn Winter.«
»Und das erscheint Ihnen ein bißchen einseitig?« Martin Sommer machte ein verschmitztes Gesicht. »Ehrlich gesagt, ich habe das Gefühl, er hat was gegen den Verwaltungsdirektor, obwohl er kein Wort darüber gesagt hat. Wissen Sie, ob die beiden sich mal in der Wolle hatten?«
Carola Senftleben schüttelte den Kopf, das mußte sie schon aus Solidarität mit Adrian Winter tun. Sie wollte nicht verraten, daß er ihrer Ansicht nach eine ausgesprochen kindische Abneigung gegen Thomas Laufenberg hegte.
»Keine Ahnung«, behauptete sie. »Aber es ist doch wunderbar, daß er Ihnen sympathisch ist, Herr Sommer!«
»Ja, das finde ich auch. Also, tschüß, Frau Senftleben. Bis bald!«
Weg war er. Lächelnd schloß Carola Senftleben die Tür. Sie war froh, daß ihr Nachbar Besuch von diesem ausgesprochen sympathischen Mann hatte. Es würde ihm gut bekommen, mal eine Zeitlang Gesellschaft zu haben!
*
»Es ist wirklich endgültig aus, Inga?« fragte Lolly einige Tage später. Sie war allein gekommen, obwohl die Zwillinge wieder mal gequengelt und gebettelt hatten, aber sie wollte sie nicht jeden Tag mit in die Klinik nehmen. Außerdem brannte sie darauf, endlich in Ruhe mit Inga über Holger zu reden, was nicht möglich war, wenn die Kinder dabei waren.
»Ja«, bestätigte Inga. Sie sah bedeutend besser aus als bei ihrer Einlieferung, und sie kam allmählich auch wieder zu Kräften. »Endgültig.«