erfolgte genau zwei Stunden später. Die Patientin hatte tatsächlich die Windpocken, und damit war auch der letzte Zweifel, falls es ihn überhaupt gegeben hatte, ausgeräumt. Der Amtsarzt verabschiedete sich. Er war im Verlauf seines Aufenthalts in der Kurfürsten-Klinik zu Adrians größtem Erstaunen immer umgänglicher geworden. Zum Schluß benahm er sich fast wie ein väterlicher Freund.
»Ich werde Ihrer Klinikleitung natürlich Meldung machen von diesem Fall«, sagte er. »Aber das ist reine Routine und hat wirklich nichts weiter zu bedeuten. Gute Nacht.«
Mit diesen Worten ging er, und Adrian dachte, daß ihm nun vermutlich auch noch Ärger mit dem Verwaltungsdirektor ins Haus stehen würde. Ärger, den er eigentlich nicht verdient hatte, fand er.
»Dann wollen wir auch mal nach Hause gehen, was, Claudia?« fragte er müde. »Unser Dienst ist schließlich schon längst beendet.«
»Ja, aber die anderen waren froh, daß wir uns um Frau Matthäus gekümmert haben«, antwortete diese. »Hier auf der Station ist eine Menge los im Augenblick.«
»Ich hab sonst überhaupt nichts mitbekommen«, gestand Adrian. »Für einen, der neu auf dieser Station ist, war das ein bißchen viel für den Anfang.«
Sie sahen noch einmal nach der Patientin, informierten die Kollegen über den Fall und verließen dann gemeinsam die Klinik. »Gute Nacht, Schwester Claudia, bis morgen«, sagte Adrian, als sie sich voneinander verabschiedeten.
»Gute Nacht«, erwiderte sie, drehte sich um und lief eilig davon.
Eine Viertelstunde später schlich Adrian müde die Treppen zu seiner Wohnung hoch. Oben angekommen, fand er einen Zettel von Frau Senftleben an seiner Tür. Ihr Besuch ist angekommen und schläft heute nacht bei mir. Es geht ihm gut, er ißt fast soviel wie Sie.
Adrian mußte lachen. Dann entdeckte er, daß Martin ganz unten etwas dazu gekritzelt hatte. Danke, daß Du nicht da warst – sonst hätte ich Deine wunderbare Nachbarin vielleicht gar nicht kennengelernt.
Er schloß auf, suchte einen Zettel und schrieb den beiden nun seinerseits eine Nachricht, die er an Frau Senftlebens Tür klebte. Dann zog er sich aus. Für diese Nacht hatte er nur noch einen einzigen Wunsch: Er wollte schlafen.
*
»Wieso hat Tante Inga Windpocken, wo sie doch gar kein Kind mehr ist?« wollte Kitty wissen. »Ich hatte schon längst Windpocken und Kai auch – wieso hatte sie denn noch keine?«
»Man kriegt nicht alle Kinderkrankheiten, solange man noch ein Kind ist«, erklärte Lolly. »Und leider sind solche Krankheiten, wenn man sie später bekommt, viel schlimmer. So ist es jetzt Tante Inga ergangen. Es hat sie ziemlich schlimm erwischt, der Arzt wollte uns heute nacht nicht einmal zu ihr lassen.«
»Dann war sie ganz allein?« fragte Kitty. Sie war einmal im Krankenhaus gewesen und konnte sich seitdem nichts Schrecklicheres vorstellen.
»Ja, sie war allein, aber sie hat nicht viel davon gemerkt«, erwiderte Lolly beruhigend. »Sie hat hohes Fieber und schläft die ganze Zeit.«
»Kann ich bitte mitgehen, wenn du sie besuchst?« bettelte Kitty.
»Du spinnst wohl!« Lolly wurde energisch. »Ihr geht schön in die Schule, ich werde allein in die Klinik gehen. Papa ist auch ins Büro gegangen, genau wie immer. Ingas Windpocken sind kein Grund, die Schule zu schwänzen.«
»Aber sie ist doch meine Lieblingstante!« jammerte Kitty ganz dramatisch.
»Sie ist deine einzige Tante«, stellte Lolly trocken fest, »weil sie meine einzige Schwester ist und weil Papa keine Geschwister hat. Erzähl hier bloß keinen Blödsinn. Außerdem kann ich es nicht leiden, wenn du Theater spielst, Kitty, also hör auf damit.«
»Siehste!« sagte Kai und zeigte seiner Schwester hinter dem Rücken seiner Mutter die Zunge. »Ich kann es auch nicht leiden, wenn du Theater spielst, Kitty!«
Lolly mußte an sich halten, um nicht dazwischenzufahren. Wer behauptet eigentlich immer, Zwillinge seien ein Herz und eine Seele? Vielleicht galt das nur für eineiige? Ihre jedenfalls lagen sich ständig in den Haaren.
»Verschwindet!« sagte sie. »Es ist höchste Zeit, daß ihr euch auf den Weg macht, sonst gibts wieder Ärger, weil ihr zu spät gekommen seid.«
»Och, Mann!« maulte Kitty. »Ich kann heute überhaupt nicht aufpassen, weil ich immer an Tante Inga denken muß, Mami. Da brauche ich doch gar nicht erst zu gehen. Das ist pure Verschwendung.«
»Kitty!« Mehr mußte Lolly diesmal nicht sagen, ihre Tochter verstand den Tonfall und den Blick, den ihre Mutter ihr zuwarf. Fünf Minuten später trabte sie neben ihrem Bruder her zur Schule.
Lolly räumte das Frühstücksgeschirr weg und blickte dann auf die Uhr. Es war noch zu früh. Dr. Winter hatte ihr gesagt, wann er wieder Dienst hatte, und sie wollte gern noch einmal mit ihm in Ruhe über ihre Schwester reden und nicht mit einem anderen Arzt. Also würde sie sich ein bißchen gedulden müssen.
*
Adrian schlief fünf Stunden lang tief und fest, dann wurde er wach. Er wußte sofort, daß es ihm nicht gelingen würde, wieder einzuschlafen. Die aufregenden Vorfälle der vergangenen Nacht waren ihm gleich präsent, und dann fiel ihm auch noch ein, daß sein Freund Martin Sommer ja angekommen war und in der Wohnung seiner Nachbarin schlief.
Er blieb noch einige Minuten liegen, dann stand er auf, duschte ausgiebig und überlegte, ob er es bereits wagen könnte, bei Frau Senftleben zu klingeln. Sie war eine ausgemachte Nachteule, und morgens ließ man sie besser in Ruhe. Andererseits war der Vormittag schon fortgeschritten, und so beschloß er, das Wagnis einzugehen.
Er klingelte etwas zaghaft, aber zu seiner größten Verwunderung wurde ihm im nächsten Augenblick schon geöffnet. »Adrian!« rief Martin Sommer und strahlte über das ganze Gesicht. »Du hast dich überhaupt nicht verändert!«
Sie umarmten einander, und dann tauchte, ein wenig verschlafen noch, aber immerhin schon wach, Frau Senftleben auf.
»Guten Morgen«, sagte sie gähnend. Angezogen war sie bereits. »Ich mache jetzt das Frühstück«, kündigte sie an. »Wie wäre es, wenn Sie beide zum Bäcker gingen und frische Brötchen holten? Für den Rest werde ich dann sorgen.«
Das ließen sich die Freunde nicht zweimal sagen, sie machten sich sofort auf den Weg. »Eine hinreißende Frau!« schwärmte Martin Sommer. »Sie kann sehr interessant erzählen, aber auch gut zuhören. Und sie ist eine begnadete Köchin.«
»Wem sagst du das?« Adrian lachte. »Ohne Frau Senftleben wäre ich verloren, das steht fest.«
Es war, als hätten sie sich am vergangenen Abend zum letzten Mal gesehen. Es gab keinerlei Fremdheitsgefühle zwischen ihnen, sie verstanden sich so gut wie zu der Zeit, als sie sich in England kennengelernt hatten. Lebhaft diskutierend legten sie den Weg zum Bäcker zurück, und sie setzten ihre Unterhaltung genauso lebhaft fort, als sie schließlich mit Frau Senftleben an ihrem großen Küchentisch saßen. Ganz selbstverständlich beteiligte sich Adrians Nachbarin an diesem Gespräch, und so kam es ihnen nach einiger Zeit so vor, als seien sie alle drei seit langem miteinander befreundet.
»Nun erzählen Sie aber endlich mal, warum Sie heute nacht so spät nach Hause gekommen sind, Adrian«, forderte Carola Senftleben. »Oder ist das eine indiskrete Frage? Dann überhören Sie sie einfach.«
»Nein, nein«, versicherte Adrian. »Ich hatte eine ausgesprochen aufregende erste Nacht auf der Isolierstation.« Er erzählte seinen beiden Zuhörern, was sich ereignet hatte, und sie stellten ihm eine Menge interessierter Fragen.
»Meinst du, du könntest mir eure Klinik mal zeigen?« fragte Martin schließlich. »Ich sehe mich immer gern in anderen Häusern um, man weiß ja nie…«
»Klar, jederzeit«, antwortete Adrian. »Die Kollegen in der Notaufnahme gefallen dir bestimmt, wir sind ein großartiges Team dort. Auf der Isolierstation kenne ich mich allerdings noch nicht so gut aus.«
»Aber ansehen könnte ich sie trotzdem? Das interessiert