so leichtsinnig ist, das Wort ›Pocken‹ überhaupt in den Mund zu nehmen, wenn er es offenbar gar nicht ernst meint. Sonst hätte er schließlich die Behörden informieren müssen.«
Er schüttelte den Kopf und fragte sich, was eigentlich in den Köpfen mancher Kollegen vorging.
»Jedenfalls wird die Frau sofort nach der Ankunft hierhergebracht.«
»Wann wird das sein?«
»Sie landen in einer Stunde.«
»Und was machen wir jetzt?« murmelte Adrian. »Das ist ja vielleicht eine verrückte Situation. Ich kann doch nicht auf einen nicht einmal gut begründeten Verdacht hin die Leute alle in Quarantäne schicken! Ich habe die Frau ja noch nicht einmal gesehen! Was denkt sich dieser Kollege im Flugzeug eigentlich?«
»Wir sollten alles für die Ankunft der Frau vorbereiten«, meinte Schwester Claudia, praktisch wie immer.
»Das auf jeden Fall«, stimmte Adrian zu. »Aber darüber hinaus sollten wir noch einiges mehr tun. Lassen Sie mich bitte einen Augenblick in Ruhe nachdenken, Claudia, damit wir nichts falsch machen.« Gleich darauf hellte sich sein Gesicht auf. »Ich weiß, was wir tun!«
Er erklärte es ihr, und dann machten sie sich beide an die Arbeit.
*
»Mann, dauert das vielleicht lange!« quengelte Kitty, und ausnahmsweise war Kai ganz ihrer Meinung.
»Wir warten bestimmt schon zehn Stunden, Mami!« behauptete er. »Und Tante Inga ist immer noch nicht da!«
Lolly und ihr Mann Burkhard wechselten einen gequälten Blick. Die Kinder hatten recht – es dauerte wirklich sehr lange. Zwar keine zehn Stunden, wie Kai gesagt hatte, aber doch schon deutlich länger, als sie erwartet hatten.
Das Flugzeug war schon vor über einer Stunde gelandet, aber noch war kein Passagier aufgetaucht. Die Wartenden vertrieben sich die Zeit damit, daß sie Spekulationen darüber anstellten, ob vielleicht etwas passiert sei. War zum Beispiel jemand beim Schmuggeln verbotener Güter erwischt worden, und wurden deshalb jetzt alle anderen Passagiere auch ganz besonders gründlich ›gefilzt‹?
Kitty und Kai, die diese Vermutung aufschnappten, griffen sie begeistert auf und schmückten sie mit ihrer überreichlich vorhandenen Phantasie noch erheblich aus. Auf diese Weise vertrieben sie sich die Zeit, bis ihnen auch das zu langweilig wurde.
Selbst Burkhard Kleber, dem man im allgemeinen nicht nachsagen konnte, daß er zu großer Ungeduld neigte, fing an, unruhig hin und her zu wandern. »Verflixt und zugenäht!« knurrte er. »Da muß doch wirklich was passiert sein, wenn es so lange dauert. Das gibts doch gar nicht!«
Lolly begnügte sich damit, zustimmend zu nicken. Sie war müde, und warten fand sie sowieso schrecklich. Aber sie freute sich sehr, ihre kleine Schwester endlich wiederzusehen, und so nahm sie alle Unannehmlichkeiten ergeben in Kauf.
Endlich öffneten sich die Türen. Die ersten Passagiere kamen heraus und wurden von ihren Freunden oder Verwandten jubelnd empfangen. Von nun an riß der Strom der Ankommenden nicht mehr ab, und hin und wieder schnappte Lolly Wortfetzen auf, die stets das gleiche Thema zu berühren schienen: »Kranke Frau an Bord.«
»Da scheint jemand krank geworden zu sein«, sagte nun auch ihr Mann. »Eine Frau, die schon von einem Krankenwagen erwartet worden ist. Sie hat zuerst noch eine Spritze bekommen, und alle anderen mußten warten, bis die Sanitäter sie von Bord gebracht hatten.«
»Da ist Holger!« schrie Kitty. »Aber Tante Inga ist nicht dabei!«
Wieder wechselten Lolly und Burkhard einen Blick, doch diesmal lag eindeutig Beunruhigung darin. Wieso war Holger allein? Und warum sah er so ernst und zerknittert aus?
Fünf Minuten später wußten sie es. Die kranke Frau, die sich an Bord des Flugzeugs befunden hatte, war Inga. Und Inga befand sich jetzt bereits auf der Isolierstation der Kurfürsten-Klinik.
*
Dr. Adrian Winter und Schwester Claudia trugen Schutzkleidung und einen Mundschutz, als die Patientin Inga Matthäus eingeliefert wurde. Als Adrian sie sah, erschrak er. Zumindest konnte er jetzt verstehen, was den Kollegen im Flugzeug veranlaßt hatte, das Wort ›Pocken‹ in den Mund zu nehmen.
Die junge Frau sah schrecklich aus. Er versuchte, mit ihr zu sprechen, aber das war nicht möglich. Sie öffnete zwar kurz die Augen, wenn er sie ansprach, aber sie schloß sie ebenso schnell wieder. Ihr Fieber war außerordentlich hoch, und sie war nicht nur im Gesicht, sondern am ganzen Körper mit Flecken und Pusteln bedeckt. Außerdem klagte sie, was Adrian nur mit Mühe verstehen konnte, daß ihr der Nacken so weh tat.
»Zu allererst machen wir eine Lumbalpunktion«, ordnete er an. »Mir gefällt die Benommenheit und die Nackensteife der Patientin nicht, Claudia. Hoffentlich hat sie keine Meningoenzephalitis. Wir müssen das zunächst ausschließen.«
Claudia nickte und begann mit den Vorbereitungen. »Hoffentlich sind das nicht doch tatsächlich Pocken«, sagte sie unsicher. »Ich habe so was noch nie gesehen, Herr Dr. Winter.«
»Ich auch nicht«, gab Adrian zu, der die Patientin gründlich untersuchte. »Trotzdem glaube ich nicht, daß sie Pocken hat. Es ist unverantwortlich, einen solchen Verdacht laut zu äußern und dann nichts zu unternehmen. Ich hoffe, der Dermatologe wird gleich kommen.«
Adrian hatte sich daran erinnert, daß er einen alten Dermatologen kannte, mit dem er früher oft fachliche Probleme diskutiert hatte. Dieser hatte ihm auch einmal von einem Pockenfall erzählt, den er behandelt hatte. Dr. Walther würde jedenfalls imstande sein, eine eindeutige Auskunft zu geben, da war Adrian ganz sicher. Er glaubte zwar nicht, daß die Patientin Pocken hatte, aber er wollte sich nicht auf Spekulationen verlassen – in jedem Fall mußte hundertprozentige Sicherheit geschaffen werden.
Schwester Claudia und er hatten beschlossen, zunächst einmal nichts davon verlauten zu lassen, daß im Zusammenhang mit Inga Matthäus von Pocken die Rede gewesen war. »Um Himmels willen, nur das nicht, Schwester Claudia!« hatte Adrian gesagt. »Was meinen Sie, was das für Folgen haben würde. Nein, wir warten ab, bis mein älterer Kollege hier ist. Und vielleicht verständigen wir danach auch noch den Amtsarzt – das hängt ganz davon ab, was Dr. Walther sagt. Aber bis dahin lassen wir gar nichts in dieser Richtung verlautbaren. Kein Sterbenswort! Es ist höchst unangebracht, in einem solchen Fall leichtfertig zu spekulieren.«
Sie hatte nur genickt, und er war froh, daß sie es war, die mit ihm zusammen Dienst hatte. Er konnte sich blind auf sie verlassen. Der Zustand der Patientin bereitete ihm dennoch größte Sorgen, auch wenn er nicht an eine Pockenerkrankung glaubte. Er nahm die Lumbalpunktion vor, und die Probe wurde umgehend ins Labor geschickt – mit der Bitte um sofortige Analyse.
»Dr. Walther ist angekommen«, sagte Claudia kurz darauf, und Adrian begrüßte den Kollegen, der mittlerweile die Siebzig längst überschritten hatte, voller Dankbarkeit.
»Ich bin froh, daß Sie trotz der späten Stunde so schnell hergekommen sind, Herr Walther«, sagte er ernst.
Der andere erwiderte knapp: »Das ist selbstverständlich.« Er war ein großer, etwas gebeugt gehender Mann mit schneeweißen Haaren und klugen braunen Augen. Seine Nase war groß und ein wenig gebogen – sie verlieh ihm das Aussehen eines Raubvogels, aber dieser Eindruck wurde durch den freundlichen Mund sofort wieder aufgehoben. Er hatte ein interessantes Gesicht, man sah ihm an, daß er trotz seines Alters noch immer regen Anteil am Leben nahm.
»Ich habe Ihnen die Situation ja schon erklärt«, sagte Adrian. »Hätte der Kollege im Flugzeug nicht diesen Verdacht geäußert, wäre ich vermutlich gar nicht auf die Idee gekommen – aber so… Ich wollte auf jeden Fall ganz sicher gehen.«
Dr. Walther hatte sich bereits über Inga gebeugt und betrachtete sie prüfend. »Sie hat keine Pocken«, erklärte er kurz darauf mit Nachdruck. »Sie hat Windpocken.«
»Windpocken?« fragte Adrian ungläubig.
»Windpocken kommen auch bei Erwachsenen vor, und dann verläuft die Krankheit in der Regel sehr viel schlimmer als bei Kindern«,