hat gesagt, es sieht genauso aus wie Pocken«, erklärte Holger mürrisch.
»Aber er hat nicht gesagt, daß er denkt, Frau Matthäus sei daran erkrankt?«
»Nee, so direkt nicht«, gab Holger zu. »Aber er hat jedenfalls das Wort gebraucht – und dann macht man sich natürlich so seine Gedanken.«
Das konnte Adrian allerdings verstehen, und es war dem jungen Mann nicht vorzuwerfen, daß er beunruhigt gewesen war. Aber wie kam es nur, daß er den Eindruck hatte, er habe sich mehr Sorgen um sich selbst als um seine Verlobte gemacht?
»Können wir zu ihr?«
Adrian schüttelte bedauernd den Kopf. »Das möchte ich nicht gern, Frau Matthäus-Kleber, und Sie hätten auch nichts davon, denn Ihre Schwester kann sich im Augenblick ohnehin nicht mit Ihnen unterhalten. Sie hat noch immer hohes Fieber, das wir gerade zu senken versuchen. Bitte gedulden Sie sich bis morgen.«
»Aber Anlaß zur Sorge besteht nicht?« fragte Lolly ängstlich.
»Nein!« antwortete Adrian so ruhig und sicher, wie er es vermochte. Er verabschiedete sich von den beiden und kehrte zurück zu seiner Patientin. Kurz darauf kam die Nachricht aus dem Labor, daß Inga Matthäus nicht an einer Meningoenzephalitis erkrankt war. Er atmete auf: Endlich mal eine gute Nachricht!
*
Der Amtsarzt kam eine halbe Stunde später. Er stellte Adrian eine Unmenge Fragen, untersuchte die Patientin, entnahm einem der Bläschen das Sekret und ließ es, von Polizisten eskortiert, umgehend zum Hygieneinstitut transportieren, mit der Auflage, es umgehend zu untersuchen und ihm das Ergebnis mitzuteilen. Das würde ein Weilchen dauern, erklärte er Adrian und Schwester Claudia.
Er war ein mißmutig dreinblickender, etwas verknöchert wirkender Mann von etwa sechzig Jahren – ein ganz anderer Typ als der alte Dr. Walther, den Adrian zuvor um seine Hilfe gebeten hatte. »Wissen Sie eigentlich«, knurrte er jetzt unwillig, »daß Sie auch nur bei dem geringsten Verdacht auf eine Pockenerkrankung die Passagiere niemals hätten aussteigen lassen dürfen? Sie hätten sofort in Quarantäne gebracht werden müssen!«
»Aber ja«, antwortete Adrian, »natürlich weiß ich das. Aber es bestand ja gar kein…«
Der Amtsarzt warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Lassen Sie mich ausreden, junger Mann! Sie hätten sämtliche Personen ausfindig machen müssen, die mit der Patientin in Kontakt getreten sind. Alle hätten geimpft werden müssen. Und natürlich hätten Sie Pockenalarm auslösen müssen!«
»Ich weiß«, wiederholte Adrian. Er versuchte, seinen Ärger zu unterdrücken und geduldig zu bleiben. »Aber es bestand kein Verdacht – es gab nur ein vages Gerücht. Und auf dieses Gerücht hin…«
»Wenn sich das Gerücht als wahr erwiesen hätte, hätten Sie sich einer groben Pflichtverletzung schuldig gemacht«, schimpfte der Amtsarzt weiter, und Adrian öffnete schon den Mund, um ihm etwas zu erwidern, als Schwester Claudia sanft bemerkte: »Der Arzt im Flugzeug hätte das getan, nicht Herr Dr. Winter. Außerdem sind die Pocken seit den siebziger Jahren ausgestorben.«
»Was wissen Sie denn, junge Dame?« bellte der Amtsarzt. »Haben Sie hier auch mitzureden?«
»Schwester Claudia ist eine ausgezeichnete Krankenschwester«, bemerkte Adrian energisch, und seine Stimme ließ erkennen, daß er sich jetzt nicht mehr unterbrechen lassen würde. »Sie kann also sehr wohl mitreden, und sie hat völlig recht. Bevor ich Pockenalarm auslöse, muß zumindest Anfangsverdacht bestehen. Der lag jedoch nicht vor. Nur weil ein Kollege, der aus dem Urlaub kommt, laut nachdenkt und dabei zum Ausdruck bringt, daß das Erscheinungsbild der Patientin dem einer Pockenkranken ähnelt, kann ich nicht gleich ungeheuer teure und aufwendige Maßnahmen ergreifen – wenn ich zugleich weiß, daß eine Pockenerkrankung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist.«
Der Amtsarzt reagierte auf den heftigen Tonfall erstaunlich gelassen. »Ich habe Ihnen nur mitteilen wollen, was Sie im Falle eines Falles hätten tun müssen«, erklärte er jetzt deutlich milder als zuvor. »Ihr jungen Leute habt ja gar keine Pockenkranken mehr gesehen – von daher schadet es nichts, wenn man euch mal ins Gedächtnis zurückruft, was eine solche Erkrankung bedeutet hätte.«
»Warum haben Sie das Sekret denn noch einmal ins Hygiene-Institut geschickt?« fragte Claudia schüchtern. »Sind Sie doch nicht sicher, daß es Windpocken sind?«
»Es ist mir lieber, wir haben es schwarz auf weiß«, erklärte der Amtsarzt und fügte mit einer Kopfbewegung in Adrians Richtung hinzu: »In diesem Fall stimme ich mit dem Kollegen Winter völlig überein. Man kann sich gar nicht genug absichern.«
»Und warum mußte denn eine Polizeieskorte mitfahren?« fragte Claudia weiter. Adrian mußte insgeheim lächeln, denn das war typisch Claudia. Sie wollte immer alles ganz genau wissen.
»Weil Pocken so gefährlich sind, daß man sie nicht unbeaufsichtigt durch die Gegend transportieren lassen kann. Selbst wenn man annimmt, daß es eigentlich keine Pocken sein können, so ist man allein beim Gedanken daran schon übervorsichtig. Ein Unfall zum Beispiel, bei dem das Gefäß zu Bruch geht, in dem sich das Sekret befindet, wäre im Falle von Pocken eine Katastrophe.«
Claudia nickte zustimmend. »Danke schön«, sagte sie, und der Blick des Amtsarztes wurde noch milder.
Er sah sich um. »Gibt es irgendwo Kaffee im Haus? Ich möchte das Ergebnis gern hier abwarten, aber ich brauche etwas, das mich wach hält.«
»Ich kann Ihnen einen kochen«, bot Claudia an, und Adrian dankte ihr mit einem stummen Blick. »Wollen Sie mit mir ins Ärztezimmer kommen?«
Das ließ sich der Arzt nicht zweimal sagen, er folgte ihr sofort und ließ seinen jungen Kollegen mit der Patientin allein.
Adrian aber beschloß, Schwester Claudia am nächsten Tag Blumen mitzubringen. Daß sie sich von diesem mürrischen älteren Herrn nicht hatte einschüchtern lassen, fand er außerordentlich bewundernswert.
*
Es war spät geworden, bis die Kinder endlich schliefen. Nun aber saßen Lolly und Burkhard in ihrem Wohnzimmer nebeneinander auf dem Sofa. Er hatte einen Arm um sie gelegt, und sie kuschelte sich hinein, als suche sie Schutz vor der bösen Welt.
»Wenn Inga diesen unsensiblen, unreifen Knaben heiratet, dann werd ich verrückt, Burkhard«, sagte sie nach einer Weile. Sie hatte ihrem Mann bereits erzählt, was Holger alles gesagt oder auch nicht gesagt hatte. »Er hatte vor allem Angst um sich selbst, nicht um Inga. Und ich bin fest davon überzeugt, daß er am liebsten gleich nach Hause gefahren wäre – so nach dem Motto: Was soll ich denn im Krankenhaus machen, da kann ich sowieso nichts tun.«
Burkhard Kleber hatte nun doch das Gefühl, seinen Geschlechtsgenossen verteidigen zu müssen. »Na ja, vergiß bitte nicht, daß er ganz schön geschockt gewesen sein muß, Lolly«, meinte er. »Der Flug war bestimmt nicht sehr angenehm für ihn – er wird sich ja auch Sorgen gemacht haben.«
»Ja, wie ich schon sagte, um sich selbst«, erwiderte sie unwillig. »Inga muß vor dem Rückflug schon krank gewesen sein – aber glaub nur nicht, daß er auf die Idee gekommen wäre, mal einen Arzt zu rufen. Der hatte einzig im Sinn, daß er den Flug nicht verpaßt, damit er keine Unannehmlichkeiten bekommt. Dann hätte er sich ja mal selbst um irgendwas kümmern müssen.«
»Du bist ein bißchen ungerecht, finde ich«, stellte ihr Mann milde fest. »Und außerdem noch immer ziemlich aufgeregt, was ich verstehen kann. Aber nun solltest du versuchen, dich wieder zu beruhigen, sonst werden wir in dieser Nacht nämlich überhaupt keinen Schlaf mehr finden.«
»Die Nacht ist sowieso gelaufen!« behauptete Lolly, obwohl ihre Augen ganz klein vor Müdigkeit waren.
»Ach, was!« entgegnete Burkhard energisch. »Wir trinken jetzt noch ein Glas Rotwein, das hilft uns zu entspannen, und danach gehen wir ins Bett.«
Sie widersprach ihm nicht, und er stand auf, um aus der Küche eine Flasche Wein und zwei Gläser zu holen. Als er zu seiner Frau zurückkehrte, schlief sie fest. Lächelnd setzte er sich in einen