so schnell festgestellt?« fragte Adrian. »Verstehen Sie, ich selbst habe Pocken ja nicht mehr erlebt, deshalb weiß ich nicht, wie sie aussehen.«
»Man kann Windpocken sehr leicht mit Pocken verwechseln, denn die Pusteln sehen tatsächlich ähnlich aus. Aber Pockenpusteln sind immer im gleichen Stadium, während diese junge Frau sowohl Flecken als auch Pusteln hat. Sehen Sie das? Hier und hier. Diese Flecken werden noch zu Pusteln, während diese Pusteln hier allmählich austrocknen werden. Es wird sich Schorf bilden, der schließlich abfällt.«
Ingas Hand zuckte hoch, um sich an einer der Pusteln zu kratzen. Sanft hielt Dr. Walther ihre Hand fest.
»Verbinden Sie ihr am besten die Hände«, riet er. »Windpocken hinterlassen normalerweise keine Narben – es sei denn, man kratzt sie auf, und die Wunden entzünden sich. Wenn Sie also der Patientin einen Gefallen tun wollen, dann hindern Sie sie daran, sich zu kratzen.«
»Es ist also ganz sicher, daß
sie Windpocken hat?« erkundigte sich Adrian.
Dr. Walther nickte. »Ja, ganz sicher. Aber wissen Sie was, Herr Winter? Ich an Ihrer Stelle würde trotzdem den Amtsarzt benachrichtigen. Wenn so ein Wort erst einmal gefallen ist, dann tut man gut daran, jeglichen Zweifel auszuräumen und sich auch abzusichern. Benachrichtigen Sie ihn, damit Ihnen hinterher niemand einen Vorwurf machen kann. Wobei dieser Vorwurf natürlich eigentlich dem Kollegen gelten müßte, der in der Maschine gesessen hat, nicht Ihnen. Aber um solche Feinheiten kümmert sich niemand mehr, wenn das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen ist. Lassen Sie das Sekret auf amtsärztliche Anordnung untersuchen, dann sind Sie ganz sicher und haben auf jeden Fall alles getan, was in Ihrer Macht stand.«
»Ja, das werde ich sofort in die Wege leiten«, sagte Adrian. »Ich danke Ihnen nochmals sehr, Herr Walther.«
Der alte Arzt nickte nur und verließ ohne weiteres Wort das Zimmer.
»Und jetzt?« fragte Schwester Claudia.
»Der Amtsarzt«, antwortete Adrian entschlossen. »Genau wie Dr. Walther es vorgeschlagen hat. Er ist ein schlauer Fuchs, Claudia, das war er früher schon. Und ich will mir hinterher wirklich nicht vorwerfen lassen, etwas übersehen zu haben. Ich rufe ihn sofort an.«
»Da wird er sich aber freuen«, meinte Claudia trocken, »daß er so spät am Abend noch Arbeit bekommt.«
*
Lolly weinte während der ganzen Fahrt, die sie mit Holger im Taxi zurücklegte. Burkhard war mit den Zwillingen zurück nach Hause gefahren. Zwar hatten sie gebeten, mit in die Klinik fahren zu dürfen, aber sowohl Lolly als auch Burkhard waren dagegen gewesen.
Holger sagte nichts, er starrte trübe auf die Straße, und Lolly mußte ihm jede Information einzeln herauslocken. »Aber ich verstehe das nicht, Holger«, begann sie erneut, während sie sich mit dem Taschentuch über die Augen wischte. »Wieso hat sie sich denn nicht da unten in Südafrika schon untersuchen lassen, wenn es ihr so schlecht ging? Warum seid ihr nicht zum Arzt gegangen? Man wird doch nicht plötzlich während eines Fluges todkrank! So etwas kündigt sich doch vorher an.«
Holger reagierte mürrisch. Überhaupt fand sie, daß er sich reichlich merkwürdig verhielt. Er tat ja gerade so, als sei Inga krank geworden, um ihm eins auszuwischen. Außerdem hatte er ihr immer noch nicht gesagt, was ihrer Schwester eigentlich fehlte. ›Fieber und Ausschlag‹ war alles, was er ihr auf ihre diesbezüglichen Fragen hin geantwortet hatte.
»Ihr war ein bißchen komisch vorher, das war alles«, sagte er nun und verzog genervt das Gesicht. »Kein Grund jedenfalls, gleich in Panik auszubrechen.« Er wollte sie mit seinem Tonfall einschüchtern, damit sie endlich aufhörte, ihn mit Fragen zu bombardieren. Das fehlte noch, daß man ihm an Ende Vorwürfe machte, weil er keinen Arzt gerufen hatte! Im Bus war Inga schließlich noch gar nicht so krank gewesen, was wußten denn ihre Verwandten schon? Sie waren ja schließlich nicht dabei gewesen!
Lolly schwieg tatsächlich, aber nicht, weil sie eingeschüchtert war, sondern weil sie sich ärgerte. Außerdem begriff sie, daß sie aus Holger nichts herausbekommen würde, also konnte sie es auch gleich aufgeben.
Endlich hielt das Taxi vor der Kurfürsten-Klinik, und Lolly bezahlte. Sie bemerkte nicht, daß Holger nicht einmal nach seiner Geldbörse gegriffen hatte. Holgers Gepäck hatte Burkhard mitgenommen, alles andere wäre zu unpraktisch gewesen. Insgeheim hatte Lolly den Verdacht, daß Holger viel lieber nach Hause gefahren wäre – aber er hatte sich dann nach kurzem Zögern doch entschlossen, sie zu begleiten, obwohl er gemurmelt hatte, er sei völlig kaputt, und er könne in dieser Nacht ja sowieso nichts mehr für Inga tun.
Sie sagten am Empfang, wer sie waren und wohin sie wollten, und gingen dann zu einem der Fahrstühle. Auf der Isolierstation wurden sie von einer Schwester empfangen, die ihnen erklärte, sie werde Herrn Dr. Winter rufen – er sei der behandelnde Arzt.
Es dauerte eine Viertelstunde, bis ein noch junger Arzt mit dunkelblonden Haaren, braunen Augen und einem freundlichen, vertrauenerweckenden Gesicht auf sie zukam. Lolly atmete auf, als sie ihn sah. Sofort fühlte sie sich besser. Wenn dieser Mann sich um Inga kümmerte, dann war sie gewiß in guten Händen.
»Frau Matthäus-Kleber? Sie sind die Schwester unserer Patientin, nicht wahr? Ich bin Dr. Winter.«
»Wie geht’s ihr, Herr Doktor?« fragte Lolly sofort voller Sorge, ohne Holger vorzustellen.
Dieser war darüber hochgradig verärgert. Da fuhr er mitten in der Nacht mit ihr zum Krankenhaus, und sie tat so, als sei er gar nicht anwesend! »Ich bin der Verlobte, Holger Weinmann«, sagte er, bevor der Arzt antworten konnte.
»Guten Abend«, sagte Dr. Winter freundlich. Dann wandte er sich wieder Lolly zu. »Es geht ihr schlecht, aber das ist auch kein Wunder. Sagen Sie, Frau Matthäus-Kleber, hat Ihre Schwester als Kind die Windpocken gehabt?«
»Nein, hat sie nicht«, antwortete Lolly prompt.
»Da sind Sie sicher?«
»Ganz sicher. Meine Mutter hat nämlich immer gesagt, es wäre besser, wenn sie sie gehabt hätte, weil man als Erwachsener viel mehr darunter zu leiden hat, wenn sie einen erwischen.«
»Kluge Frau, Ihre Mutter. Nun, Ihre Schwester hat die Windpocken – jedenfalls gehen wir davon aus, es ist so gut wie sicher. Ich werde aber zur Vorsicht das Sekret – also die Flüssigkeit, die sich in den Bläschen und Pusteln befindet – noch einmal einschicken und untersuchen lassen. Dann sind auch die letzten Zweifel ausgeräumt.«
»Zweifel?« fragte Holger. »Was denn für Zweifel?«
»Keine bestimmten«, erklärte Adrian, der ahnte, worauf der junge Mann, den er auf Anhieb höchst unsympathisch fand, hinauswollte. »Ich möchte das Untersuchungsergebnis nur gern schwarz auf weiß vor mir haben.«
»Die Windpocken«, sagte Lolly gedehnt. »Arme Inga.«
»Ja, es geht ihr nicht gut. Sie hat hohes Fieber, und sie ist über und über mit Flecken und Pusteln bedeckt.« Adrian wandte sich an Holger. »Hatten sie bereits die Windpocken?«
Holger nickte. Lediglich Windpocken – nicht Pocken! Er war zugleich erleichtert und wütend. Wegen so einer Krankheit hatte er sich dermaßen aufregen müssen, daß ihm fast schlecht geworden war im Flugzeug! Aber vielleicht sagte dieser Arzt ja auch gar nicht die Wahrheit? Er wirkte sowieso merkwürdig, fand Holger und beschloß, am nächsten Tag auf jeden Fall seinen Arzt aufzusuchen und ihm die Geschichte zu erzählen. Das hatte er sich bereits im Flugzeug vorgenommen. Er wollte nichts riskieren.
»Sind Sie sicher, daß es Windpocken sind und nicht Pocken?« fragte er laut.
»Holger!« Lolly machte ein entsetztes Gesicht. »Wie kommst du denn auf diese Idee?« Sie sah den Arzt an. »Das ist doch Unsinn, oder? Hat irgend jemand gesagt, sie könnte Pocken haben? Ich dachte, die gibts gar nicht mehr. Ich bin noch zweimal dagegen geimpft worden, aber Inga schon nicht mehr, das weiß ich genau.«
»Pocken sind ausgestorben«, erklärte Adrian mit fester Stimme. Er fand den jungen Mann jetzt nicht nur unangenehm, sondern langsam