Friedrich Kirchner

Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe


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einer Vorstellung oder eines Gedankens durch das individuelle Bewußtsein; Auffassungsvermögen heißt die Anlage dazu. Zur Auffassung, welche noch keine Beurteilung der Sache einschließt, gehört nicht bloß die Rezeptivität (Empfänglichkeit), sondern auch die Reproduktion und geistige Durcharbeitung. Von der Auffassung der Dinge, die etwas Individuelles an sich hat, hängt unser Urteil und auch unsere Handlungsweise ab.

      Aufklärung ist das Streben des 18. Jahrhunderts, Klarheit des Urteils durch vorurteilfreies Denken zu verbreiten. Dies geschah durch philosophische Betrachtung, populäre, d. h. leichtverständliche Darstellung der Wissenschaft und durch Bekämpfung der Vorurteile und des Aberglaubens. Nachdem schon Bacon (1561-1626), Spinoza (1632-1677) und Locke (1632-1704) diese Geistesrichtung im 17. Jahrhundert vorbereitet hatten, wetteiferten im 18. Jahrh. deutsche, englische und französische Denker, die Philosophie des gesunden Menschenverstandes zu verbreiten. Zu ihnen gehören die »Freethinkers« in England, die Enzyklopädisten in Frankreich und die Rationalisten in Deutschland, denen Männer wie Friedrich der Große, Lessing, Mendelssohn, Nicolai beizugesellen sind. Da aber einzelne Denker, wie z. B. Bahrdt, Nicolai, Lamettrie und Holbach, ins Extrem gingen, alles Religiöse als Pfaffentrug, alles Übersinnliche als Aberglaube bekämpften, so kam die Aufklärung bei den Jüngeren im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts in Mißkredit, und Hamann, Herder, Goethe, auch Kant und die Romantiker traten gegen den Rationalismus auf. Namentlich haben die älteren Romantiker der Richtung der Aufklärung ein Ende bereitet. Vgl. Kant: Was ist Aufklärung? Lecky, Gesch. d. Aufklärung in Europa; a. d. Engl. Leipzig 1873.

      Aufmerksamkeit ist die mehr oder weniger absichtliche und anhaltende Hinlenkung des Bewußtseins auf eine zu erwartende Vorstellung, Vorstellungsmasse oder Sinnesempfindung, durch welche diese leicht, klar und deutlich aufgefaßt wird. Voraussetzung für sie ist das Interesse (s. d.), welches uns entweder unwillkürlich anzieht oder unseren Willen zu energischer Betätigung anspornt. Die beim Zustandekommen der Aufmerksamkeit zusammenwirkenden Vorgänge sind folgende: Eine äußere oder innere Reizung erzeugt eine Empfindung, Anschauung, Vorstellung, Erinnerung oder ein Phantasiebild. Dieses übt einen verstärkenden Einfluß sowohl auf die Empfindungstätigkeit als auch auf die Bewegungsmuskeln, in denen Spannungen hervortreten, aus. Die so erhöhte Bewußtseinsstärke ermöglicht die leichtere, schnellere, klarere und bestimmtere Erfassung neuer Reizungen und ihre bessere Verarbeitung. Man kann hierbei von einem sukzessiven Einrücken der Vorstellung in das Blickfeld und in den Blickpunkt des Bewußtseins reden. In der Aufmerksamkeit verbindet sich also wie in jedem Akt der Apperzeption (s. d.) immer Bewußtseins- und Willenstätigkeit. Je nachdem die hierbei erzeugte innere Willenstätigkeit geringer oder größer ist, kann man von unwillkürlicher und willkürlicher oder besser von passiver und aktiver Aufmerksamkeit reden. (Siehe Wundt, Grundz. d. phys. Psych. II, S. 253 ff. Grundriß der Psych. § 15.) Anhaltende Aufmerksamkeit ermüdet bald den Geist, einseitige schädigt ihn. – Die Aufmerksamkeit auf sich selber ist Selbstbeobachtung; Aufmerksamkeit im sittlichen Sinne heißt s. a. Rücksichtnahme auf andere. Vgl. Jean Paul, Levana § 133. Th. Ribot, Psychologie de l'attention. 1889.

      Aufopferung ist die Verzichtleistung auf unseren eigenen Vorteil; sie ist die höchste Leistung der Liebe und bildet das Gegenteil zu der Handlungsweise der uns angeborenen Selbstsucht. Je selbstloser die Aufopferung geschieht, desto wertvoller ist sie. Bisweilen steigert sie sich zur Aufopferung des Lebens (Alkestis, Decius Mus, Winkelried und die Märtyrer). Vgl. Altruismus.

      Aufrechtsehen (das). Auf der Netzhaut entsteht beim Sehprozeß ein umgekehrtes verkleinertes Bild des vor dem Auge befindlichen Gegenstandes. Trotzdem sehen wir den Gegenstand aufrecht. Die Erklärung dieses Vorgangs hat große Schwierigkeit gemacht; man hat ihn physikalisch, physiologisch oder psychologisch zu deuten gesucht. Cartesius (1596-1650) nahm eine die Umkehrung ausgleichende Nebeneinanderlagerung der Sehnervenfasern im Gehirn an. Kepler (1571-1630) erklärte den Vorgang aus dem Gegensatze der Kategorien von Aktion und Passion. Priestley (1733-1804) dachte, die Korrektur geschehe durch den Tastsinn. Schopenhauer (1788 bis 1860) läßt die Seele das Bild nach der dem eindringenden Strahl entgegengesetzten Richtung projizieren. – Die Schwierigkeiten des Problems schwinden, wenn man sich klar macht, daß die Seele zwar Gesichtsempfindungen, aber kein inneres Auge hat, um die Vorgänge auf der Netzhaut des äußeren Auges zu beobachten, daß sie nicht Netzhautbilder, sondern nur die zu ihr fortgepflanzten Erregungen wahrnimmt, und daß das Sehen darin besteht, daß der Sehende den qualitativ und intensiv bestimmten Inhalt seiner Netzhautempfindungen in gewissen Linien nach außen projiziert und in den Raum hineinversetzt. Wir sehen unmittelbar weder aufrecht noch umgekehrt, weder einfach noch doppelt; denn wir sehen zunächst weder Gestalten noch Gesichtsfelder, sondern nur Lichterscheinungen. Ebensowenig wissen die Gesichtsempfindungen etwas, sei es vom Orte ihres Bildes auf der Netzhaut oder von der Lage der Netzhaut selbst. Das Netzhautbild ist außerdem noch doppelt, konkav, mosaikartig und von dem »blinden Fleck« durchbrochen – was uns alles doch auch nicht stört. Durch die Erklärung des Aufrechtsehens ist die Theorie von Johannes Müller und Überweg, wonach die von uns gesehene Welt eine kleine auf den Kopf gestellte Welt innerhalb unseres Sehapparates ist, der eine viel größere, auf den Füßen stehende reale Welt, unabhängig von unserem Bewußtsein, gegenübersteht, widerlegt. (Vgl. Helmholtz, physiologische Optik, S. 64 ff.; Liebmann, zur Analysis der Wirklichkeit, S. 128 ff.; Wundt, Grundriß der Psychologie, § 10, 31.)

      aufrichtig ist derjenige, welcher freiwillig und unaufgefordert seine Gesinnung zu erkennen gibt. Der Gegensatz von Aufrichtigkeit ist Verstellung oder Verschlossenheit.

      Augenschein oder Evidenz bedeutet die über allen Zweifel erhabene, unmittelbare und anschauliche Gewißheit. Doch ist das Auge ebenso wie die anderen Sinne Täuschungen ausgesetzt. Vgl. Sinnestäuschungen, Illusion, Halluzination, Vision.

      Ausbildung ist im weiteren Sinne die höchste zulässige Vervollkommnung einer Sache oder Person. Sie erfolgt mechanisch, wenn die Dinge äußerlich bearbeitet werden, organisch, wenn sie von innen heraus sich entwickeln. Ferner kann sie physisch oder geistig sein. Im engeren Sinne ist sie die höchste Entwicklung der Fähigkeiten und Anlagen des Menschen. Von der Bildung unterscheidet sich die Ausbildung durch ihre relative Vollendung.

      Ausdehnung ist die allen Körpern zukommende mathematische Eigenschaft, einen gewissen Raum einzunehmen. In der Ausdehnung, nicht in der Raumerfüllung, sah Cartesius (1596-1650) das Wesen der einen Substanz, der Materie, während er das Wesen der zweiten Substanz, des Geistes, in das Denken setzte. Auch Spinoza (1632-1677) bezeichnete als Wesen der Materie die Ausdehnung, setzte aber Ausdehnung und Denken zu Attributen einer einzigen Substanz herab. Leibniz (1646-1716) setzte das Wesen der Substanz in die vorstellende Kraft und sah in der Ausdehnung nur eine verworrene menschliche Vorstellung des Wirklichen. Nach Kant (1724-1804) ist die Ausdehnung Anschauung a priori und besitzt transscendentale Idealität, aber empirische Realität. – Die neuere Physik versteht im Gegensatz zur Mathematik unter Ausdehnung die Raumerfüllung, die entweder mechanisch oder dynamisch gedacht werden kann. – Ausdehnbarkeit bedeutet die Fähigkeit der Körper, ohne Änderung ihrer Masse einen größeren Raum einzunehmen.

      Ausdruck heißt die Darstellung unserer Vorstellungen oder Empfindungen durch sinnliche Zeichen, seien es Laute, Töne, Mienen, Gebärden, oder sei es ein Stoff (Marmor, Erz u. dgl.). So ist die Sprache (s. d.) Ausdruck unserer Vorstellungen. Ein Gesicht ist ausdrucksvoll, wenn sich das geistige Wesen der Person in seinen Zügen kundgibt.

      Ausdrucksbewegungen sind Bewegungen des Körpers, durch die sich die Gemütszustände kundtun und welche die Mitteilung letzterer zwischen verwandten Wesen ermöglichen. Sie sind teils unwillkürlich, teils willkürlich. Wundt (geb. 1832) führt die menschlichen Ausdrucksbewegungen nach ihrem Ursprunge auf drei Prinzipien zurück, das Prinzip der Innervationsveränderungen, das Prinzip der Assoziationen analoger Empfindungen und das Prinzip der Beziehung der Bewegungen zu Sinnesvorstellungen. (Wundt, Grundz. d. phys. Psych. II, 504 ff.)

      Ausgelassenheit