Friedrich Kirchner

Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe


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      Ausnahme (lat. exceptio) ist die Aufhebung eines Gesetzes für den einzelnen Fall. Jede Ausnahme verringert die Gültigkeit eines Gesetzes. Werden die Ausnahmen zur Regel, so hört die Gesetzlichkeit des Vorganges auf. Vielfach entsteht aber der Schein der Ausnahme nur durch verkehrte Fassung des Gesetzes. So hat die ältere Sprachwissenschaft durch mangelhafte Fassung der Sprachgesetze fast überall Ausnahmen von den Regeln zulassen müssen, während die jetzige Sprachwissenschaft durch richtigere Fassung der Gesetze fast überall die Scheinbarkeit der Ausnahmen nachweisen kann. (Vgl. Gesetz, Hypothese.)

      Aussage heißt 1. Urteil (s. d.), 2. Zeugnis in bezug auf eine Tatsache.

      Ausschließung des Dritten (exclusio tertii) ist die Nichtzulassung eines Mittleren zwischen zwei Entgegengesetzten. Bei kontradiktorischen Gegensätzen gilt die Regel: tertium non datur (ein Drittes ist nicht vorhanden), die Sache ist entweder A oder Non-A. Dieser Satz vom ausgeschlossenen Dritten (principium exclusi tertii seu medii) gilt aber nur bei kontradiktorisch, nicht bei konträr Entgegengesetztem. Es gibt z. B. zwischen gut und nicht-gut kein Drittes, wohl aber zwischen gut und böse. Im allgemeinen kann man also nur sagen: Gegensätze schließen sich aus (contraria mutuo se excludunt). – Die Ausschließungssätze (propositiones exclusivae) behaupten 1. etwas von einem Subjekte mit Ausschließung aller anderen Subjekte, z. B. der Mensch allein besitzt die Kunst, oder 2. etwas mit Ausschließung eines Teils des Prädikates, z. B. Cajus hat Glück, außer im Spiele.

      Außenwelt heißt die Gesamtheit aller Dinge unserer sinnlichen Wahrnehmung, die sich uns in Raum und Zeit darstellen und die zu unserem Innern einen Gegensatz bilden. Auf der Unterscheidung der Innenwelt von der Außenwelt beruht das Selbstbewußtsein und die Idee der Persönlichkeit. Der naive Realismus schreibt der Außenwelt die Existenz im vollen Umfange zu. Anders die Philosophie. Schon die Eleaten (c. 550-400) leugneten die Existenz der Vielheit, der Bewegung, des Werdens und der Veränderung. Die Atomisten Leukippos und Demokritos (im 5. Jahrh. v. Chr.) bestritten die Existenz des Qualitativen in der Außenwelt. Platon (427 bis 347) sah in der Materie ein Nichtreales. Locke (1632-1704) schied die sekundären Eigenschaften (Licht, Farbe, Ton usw.) von den primären (Größe, Gestalt, Zahl, Lage, Bewegung, Ruhe) und erkannte nur die letzteren als wirkliche Eigenschaften der äußeren Dinge an. Berkeley (1685-1753) bekämpfte die Lehre von einer an sich existierenden Körperwelt und setzte das Sein derselben als gleichbedeutend mit dem Vorgestelltwerden (esse = percipi). Für Leibniz (1646 bis 1676) sind die wahrhaft existierenden Wesen die Monaden, punktuelle Seelenwesen mit der Kraft der Vorstellung. Die Außenwelt und alles Körperliche besteht aus Monaden und wird nur in verworrener Vorstellung als räumlich gefaßt. Nach Kant (1724-1804) ist die Außenwelt nicht Ding an sich, sondern Erscheinung. Es kommt ihr Realität, aber nur empirische Realität zu. Das Ansich der Dinge ist nur ein unbestimmbares X. Nach Fichte (1762-1814) ist die Außenwelt, das Nicht-Ich, nur eine Setzung des Ichs, das Material unseres Pflichtbegriffes. Nach Hegel (1770-1831) ist die Welt die sich logisch entwickelnde Vernunft. Der Natur kommt nur die Stellung zu, daß sie die absolute Vernunft in ihrer Selbstentäußerung, die Idee in der Form des Anderssein ist. So hat also die Philosophie besonders in ihren idealistischen Systemen die naive Vorstellung von der Außenwelt vielfach beschränkt und umgestaltet. – Aber auch die moderne Physik, die im wesentlichen die Idee der Atomisten aufgenommen hat, führt alles Qualitative in der Außenwelt auf Quantitatives zurück und steht etwa auf dem Standpunkt, den Locke philosophisch fixiert hat. Die Existenz einer objektiven Welt wird aber, ohne daß dadurch ihr Wesen bekannt wird, bewiesen durch das Unfreiwillige und Ungewollte unserer Sinneswahrnehmungen.

      Austerität (lat. austeritas) heißt Strenge, unbiegsame Hartnäckigkeit (der Tugend und Moral).

      Autarchie (gr. autarchia) heißt Selbstherrschaft. – Autarch heißt Selbstherrscher.

      Autarkie (gr. autarkeia) heißt die Selbstgenügsamkeit, welche die Kyniker und Stoiker dem Weisen zusprechen, indem sie sich auf Sokrates (469-399) beriefen, welcher diese Tugend für den Grundstein aller Moral erklärte. (Vgl. Xenophon, Memor. IV 5, 2 ff. Diog. Laert. VI § 11; VII § 127.) Sokrates bekannte seine Überzeugung mit den Worten: »Nichts zu bedürfen ist göttlich, so wenig wie möglich zu bedürfen macht uns Gott am ähnlichsten« (to men mêdenos deisthai theion einai, to de hôs elachistôn engytatô tou theiou. Xenophon, Mem. I 6, 10). Vgl. Bedürfnislosigkeit.

      Authadie (gr. authadeia) heißt Selbstgefälligkeit.

      Authentie (gr. authentia) heißt eigtl. die Machtvollkommenheit, dann (von Schriften) die durch Kritik festgestellte Echtheit. Authentisch heißt die Auslegung einer Schrift, welche entweder mit den eigenen Worten des Verfassers (verba ipsissima) oder in seinem Geiste geschieht. Im allgemeinen gilt der Grundsatz: Jeder ist der beste Ausleger seiner Worte (verborum suorum quisque optimus interpres). Vgl. Kritik.

      Autochirie (gr. autocheiria) heißt das Hand an sich selbst Legen, der Selbstmord. Vgl. Selbstmord.

      Autodidakt (gr. autodidaktos), eigentlich selbstgelehrt, heißt derjenige, welcher keinen regelrechten Unterricht genossen, sondern sich durch Bücher, Muster, Lebenserfahrung und Denkarbeit selbst gebildet hat. Selbständigkeit, Kraft und Gewandtheit des Geistes sind die Vorzüge – Einseitigkeit, Selbstüberschätzung und Eigentümlichkeit die Mängel solchen Studienganges.

      Autodidachie heißt das Lernen ohne Lehrer.

      autodynamisch (gr. autodynamos) heißt selbstkräftig, durch sich selbst wirkend.

      Autognosie (aus dem Gr. geb.) heißt Selbsterkenntnis, Selbstprüfung; autognostisch heißt auf Selbsterkenntnis beruhend.

      Autohypnose (aus dem Gr. geb.) heißt die durch eine Person an sich selbst erzeugte Hypnose (vgl. d. W.).

      Autokratie (gr. autokrateia) heißt Selbst- oder Alleinherrschaft. Autokrator, Autokrat (russisch: Samoderzec, Titel des russischen Kaisers) heißt der Selbstherrscher.

      Autoktonie (gr. von autoktonos = Selbstmörder) heißt Selbstmord (vgl. d.).

      Automachie (aus dem Gr. geb.) heißt Selbstwiderspruch.

      Automat (gr. automatos) heißt von selbst geschehend, zufällig; so heißt bei Aristoteles (384-322) to automaton der Zufall; dann heißt das Wort von selbst bewegend; daher wird so ein Kunstwerk genannt, welches irgend eine Bewegung scheinbar von selbst ausführt. Cartesius (1596-1650) nannte die Tiere Automaten, indem er ihnen fälschlich die Seele absprach, und Spinoza (1632-1677) und Leibniz(1646-1716) bezeichneten so die menschliche Seele. Automatisch, d. h. unabhängig von äußeren Reizen, in den Nervenzentren selbst entstehend, sind im Tier- und Menschenkörper z. B. der Herzschlag und die Bewegung der Blutgefäßmuskeln.

      Autonomie (gr. autonomia), eigentl. Selbstgesetzgebung, hieß ursprünglich das Recht eines Staates, sich selbst zu regieren, also die Souveränität. Bei Kant (1724-1804) bedeutet es die Fähigkeit der Vernunft, sich selbst sittliche Gesetze zu geben, während Heteronomie der Zustand ist, in welchem die Vernunft das Gesetz anderswoher empfängt. Kants Kritik der praktischen Vernunft (1788) stellt die Frage, »ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange, oder ob sie nur als empirisch-bedingte ein Bestimmungsgrund derselben sein könne« (S. 30), und Kant beantwortet diese Frage, die gleichbedeutend ist mit der Frage, ob der praktischen Vernunft Autonomie zukomme, bejahend. Es gibt ein allgemeines Sittengesetz aus reiner Vernunft: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Aber die Autonomie der praktischen Vernunft