Friedrich Kirchner

Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe


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eigtl. Erfassen, heißt, ein Ding oder einen Vorgang in seinem Zusammenhange, nach seinen Ursachen, seinem Wesen, seinem Zweck, seinen Beziehungen verstehen lernen. Begriffen ist also eine Sache nur dann, wenn wir nicht nur wissen, was sie ist, sondern warum sie so ist und wozu sie dient und wie sie mit allen anderen Dingen zusammenhängt. Der Stoiker Zenon († 258 v. Chr.) schilderte den Übergang von der Erfahrung zum Begreifen, indem er die Wahrnehmung mit den ausgestreckten Fingern, die Zustimmung mit der halbgeschlossenen Hand, das Begreifen mit der Faust und das Wissen mit beiden zusammengedrückten Fäusten verglich (Cicero, Acad. II, 47, 145). Nach Kant (1724-1804) gehören zum Begreifen Vernunftbegriffe, wie zum Verstehn Verstandesbegriffe. Das Begreifen ist also ein Vernunftgeschäft. Vollständig begreift man nur, was man a priori einsieht. (Kant, Kr. d. r. Vern. II. Aufl., S. 367.)

      Begriff (lat. conceptus, notio, gr. logos, ennoia) heißt dasjenige psychische Gebilde, durch welches ein Mannigfaltiges zur einheitlichen Gedankenbeziehung verknüpft wird. In einem Begriff sind verschiedene Einzelvorstellungen nicht bloß zusammengefügt, wie in der Anschauung, sondern sie sind durch die Denkbeziehungen in Verbindung gesetzt, welche die Form ihrer Zusammengehörigkeit zum Ausdruck bringen. Daher führt nur Denken und Urteilen, nicht aber bloße Anschauung und Erfahrung, zur Bildung von Begriffen. Der Begriff ist somit nicht bloß die abgeschlossene Gesamtvorstellung, sondern er entsteht erst aus den Vorstellungen durch deren Vergleichung und die Heraushebung des Gemeinsamen. Der Begriff ist also das Produkt einer Analyse der Einzeldinge und Synthese ihrer gemeinsamen Merkmale (notae) durch Abstraktion. Er bestimmt daher ein Allgemeines und nicht ein Einzelnes. Der Begriff Dreieck, Mensch, Pferd usw. ist z. B. nicht die Vorstellung eines einzelnen Dreiecks, eines Menschen, eines Pferdes usw. überhaupt, sondern die Gesamtvorstellung vieler Dreiecke, Menschen, Pferde usw. Diese läßt sich freilich in jedem einzelnen Falle, wo man sie veranschaulichen will, nur dadurch zur Anschauung bringen, daß man sich ein spezielles Dreieck usw. vorstellt. Darum ist, was die Logik einen Begriff nennt, mehr eine Denkforderung als eine Denkleistung. Wir denken den Begriff auf einmal nur durch die Forderung der Zusammenfassung aller der einzelnen Dinge, auf die wir ihn anwenden wollen, während wir ihn in seinen Anwendungen nur in einer Reihe sukzessiver Vorstellungen und Denkakte erfassen können. Ein Begriff heißt klar, wenn das Bewußtsein ihn von allen anderen bestimmt unterscheidet, im entgegengesetzten Falle dunkel; er heißt deutlich, wenn auch die einzelnen Merkmale klar vorgestellt werden, im entgegengesetzten Falle verworren. Von Cartesius (1596-1650) bis auf Kant (1724-1804) galt Klarheit und Deutlichkeit als Kriterium der Wahrheit; in der Tat wird dadurch mindestens formale Richtigkeit erreicht und die Zuverlässigkeit der Erkenntnis angebahnt. – Man unterscheidet an jedem Begriff Inhalt (complexus) und Umfang (ambitus). Jener ist die Summe aller seiner Merkmale, dieser die Menge der unter ihm befaßten Dinge. Je reicher der Inhalt ist, d. h. je größer die Zahl der Merkmale eines Begriffes sind, desto enger ist sein Umfang, d. h. desto kleiner die Zahl der Dinge, die er umfaßt; jede Hinzufügung eines Merkmals beschränkt das Geltungsgebiet eines Begriffes. Während z. B. das Parallelogramm nur die Quadrate, Rechtecke, Rhomben und Rhomboiden umfaßt, ist der Umfang des Begriffes »Viereck« größer, weil sein Inhalt kleiner ist, d. h. weil ihm das Merkmal des Parallelismus der Seitenpaare fehlt. Der Begriff, in dessen Umfang andere fallen, heißt in bezug auf diese der höhere oder übergeordnete; diese selbst heißen untergeordnet im Verhältnis zu dem übergeordneten, nebengeordnet im Verhältnis zueinander; die niederen haben bei engerem Umfang reicheren Inhalt. Nach den verschiedenen Stufen der Über- und Unterordnung der Begriffe scheidet man Reich, Kreis, Klasse, Ordnung, Familie, Gattung, Art, Abart, Spielart. – Dem Inhalte nach sind die Begriffe entweder verwandt oder disparat, je nachdem sie Merkmale gemeinsam haben oder nicht. So sind Eiche und Buche verwandte Begriffe, Ton und Farbe dagegen disparate. In bezug auf den Umfang heißen Begriffe, welche derselben Gattung angehören, homogén (aber spezifisch verschieden); die, welche kein Merkmal gemeinsam haben, heterogén (toto genere diversae). Begriffe, deren Umfang ganz derselbe ist, heißen Wechselbegriffe (aequipollentes, reciprocae), z. B. gleichseitiges und gleichwinkliges Dreieck. Begriffe kreuzen sich, wenn ihre Umfänge zum Teil ineinander fallen, wie Neger und Sklave; doch findet eine Kreuzung nur statt, wenn die Begriffe überhaupt vereinbar sind. Unvereinbar dagegen nennt man die Begriffe, welche demselben Gegenstand nicht in derselben Beziehung zugleich beigelegt werden können; und zwar unterscheidet man konträre Begriffe, d. h. solche, die nicht im Umfange des anderen liegen können, und kontradiktorische, d. h. solche, bei denen jeder Unterbegriff, der nicht im Umfange des einen liegt, in demjenigen des anderen liegen muß. So schließen die Begriffe schwarzes und braunes Pferd einander konträr, die Begriffe Sein und Nichtsein kontradiktorisch aus. Die Einteilung des Inhaltes eines Begriffs heißt Partitio, die des Umfanges Divisio. Die äußerste Grenzstellung nehmen unter den Begriffen einerseits die Kategorien, die allgemeinsten Begriffsformen, andererseits die Individualbegriffe, die äußersten Sonderformen des Begriffs, ein. Das Ideal der Klassifikation durch Begriffe ist das wissenschaftliche System (s. d.), welches alle durch Erklärung und Einteilung auseinander abgeleiteten Begriffe enthält, wie es die Naturwissenschaften anstreben. Den Wert der Begriffsbildung hat zuerst Sokrates (469-399) erkannt; seitdem hat kein Philosoph ihn geleugnet. Vgl. Beiordnung und System.

      Behagen ist das dunkle Gefühl der Befriedigung durch das sinnfällig Angenehme der Gegenwart, wie es sich etwa in dem Gedanken ausspricht: »Wirklich ist es allerliebst auf der lieben Erde« und von Goethe, zu dessen Seelenstimmungen das Behagen gehörte, in seinem Tischlied: Mich ergreift, ich weiß nicht wie, himmliches Behagen usw. poetisch ausgeführt ist.

      Beharrungsvermögen oder Trägheit (vis inertiae) ist die Eigenschaft der Materie, im Zustand der Ruhe oder im Zustand einer bestimmten Bewegung unverändert zu bleiben, bis durch irgend eine Kraft dieser Zustand geändert wird. Alle Körper beharren in Ruhe, bis sie bewegt werden. Ein sich bewegender Körper würde sich ins Unendliche mit unveränderter Geschwindigkeit und Richtung fortbewegen, brächten ihn nicht Kräfte, z. B. die Reibung, zur Ruhe oder veränderten seine Geschwindigkeit und Richtung. Das Beharrungsgesetz war im Altertum unbekannt. Bei Galilei (1564-1641) hat es die Fassung: Ein Körper, der auf einer wagerechten Ebene in Bewegung gesetzt wird, würde sich, insofern kein Hindernis vorhanden ist, geradlinig und gleichförmig ohne Aufhören weiterbewegen, wenn die Ebene sich bis ins Unendliche ausdehnte. Wir fassen es jetzt allgemeiner in die Form: Ein Körper, auf den keine Kraft wirkt, ändert seinen Bewegungszustand nicht, d. h. er verharrt in dem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung. Vgl. Poske, Oberstufe der Naturlehre, Leipzig 1907, § 7 und § 14. Vgl. Substanz, Materie, Trägheit.

      Beifall (assensio, synkatathesis) ist die Zustimmung, welche wir einem Urteil, einer Handlung oder einem Kunstwerk zu teil werden lassen, weil wir sie für wahr, gut oder schön halten. Die Skeptiker forderten, daß man den Beifall ganz zurückhielte (epochê); doch ist das ebenso unmöglich als die Forderung, gegen den Beifall der anderen Menschen ganz gleichgültig zu sein.

      Beiordnung (coordinatio) heißt das Verhältnis mehrerer Begriffe, welche ein und demselben höheren Begriff untergeordnet (subordiniert) sind; so sind z. B. Tier und Pflanze einander beigeordnet, aber dem Begriff: Organismus untergeordnet. Wundt unterscheidet fünf Arten beigeordneter Begriffe: a) disjunkte (z. B. rot und blau), b) korrelate (z. B. Mann und Frau), c) konträre (z. B. weiß und schwarz), d) kontingente (z. B. weiß und gelb), e) interferierende (z. B. Neger und Sklave). (Logik I, S. 115 f.)

      Beispiel (exemplum) heißt der einzelne aus der Erfahrung geschöpfte konkrete Fall, insofern er dazu dient, einen Begriff oder Satz durch eine Anschauung zu beleuchten oder eine allgemeine Regel durch eine einzelne Tatsache zu bestätigen. Das einzelne Beispiel beweist positiv wenig; es kann aber negativ beweisen, daß eine für allgemein gehaltene Regel auch Ausnahmen hat. Andrerseits haben viele Beispiele zusammen eine Beweiskraft (Induktion), mit der man sich auf manchen Gebieten begnügen muß. Besonders auf dem Gebiete des Lebens, des Unterrichts, des Rechtes, der Kunst und der Wissenschaft haben Beispiele große Bedeutung, weil sie sowohl die Ausführbarkeit