Friedrich Kirchner

Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe


Скачать книгу

Empirist muß anders urteilen. Wohl wird er anerkennen, daß durch Hinzufügung eines Merkmals der Umfang begrenzt, aber er wird auch behaupten, daß dem Ding selbst neuer Inhalt positiv hinzugefügt wird. – Im moralischen Sinne heißt Bestimmung des Menschen der Zweck seines Daseins. Vgl. das höchste Gut, Moralprinzip. Vgl. J. Fiske, Die Bestimmung des Menschen, dtsch. v. F. Kirchner, Leipzig 1890.

      Bestimmungsgrund heißt logisch der Grund, welcher den Verstand zur Ableitung einer Folgerung, moralisch der Grund, der den Willen zum Handeln bestimmt.

      bestürzt ist derjenige, welcher durch plötzlichen Schreck der Besonnenheit beraubt ist. Die Bestürzung ist ein Affekt (s. d.).

      betäubt ist jemand, der Empfindung und Bewußtsein verloren hat. Die Betäubung kann entweder durch Nervenreize (Gerüche, Opium, narkotische Mittel, Gehirnerschütterung) oder durch Schreck entstehn. In der Moral ist Betäubung s. a. die absichtliche Erstickung des Gewissens.

      Betonung, s. Ton.

      betrachten heißt 1. allgemein, beobachten, forschen, untersuchen; 2. im besonderen, etwas genau ansehen oder auch anhören; was den Menschen interessiert, betrachtet er. Die Betrachtung spielt ihre Rolle nicht nur in der exakten Naturwissenschaft, deren Hauptmittel Beobachtung und Experiment ist, sondern auch in der theoretischen Philosophie, welche das Wesen der Dinge zu erfassen strebt. 3. In der Moral heißt praktische Betrachtung die Abschätzung des Verhältnisses, in welchem ein Gegenstand zu uns steht. Diese Abschätzung kann sich entweder auf den Nutzen oder auf den sittlichen Wert des Gegenstandes richten. 4. Der Begriff der Betrachtung gehört auch in die Ästhetik. Schön heißt nur ein mit den Sinnen wahrgenommenes, nie ein bloß gedachtes Objekt; die sinnlichen Wahrnehmungen, auf die sich jedes ästhetische Urteil gründet, sind aber nur die der höheren Sinne, des Gesichts und Gehörs. Durch die niederen Sinne erfaßt der Mensch die Dinge nur leidend, empfindend, bleibt mit ihnen eins. Durch die höheren Sinne aber stellt er sie außer sich, sondert seine Persönlichkeit von ihnen ab, betrachtet sie; es erscheint ihm eine Welt, weil er aufgehört hat, mit den Dingen eins auszumachen. »Die Betrachtung ist das erste liberale Verhältnis des Menschen zum Weltall, das ihn umgibt.« Auf der Betrachtung beruht jedes ästhetische Urteil, nicht auf physischem Genuß. (So Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, Br. 25, 1794 und schon in dem Gedichte »Die Künstler« (1789); und so jede Ästhetik außer der des Naturalismus.) – Die Betrachtung ist also eine allgemeine menschliche Geistes- oder eine wissenschaftliche Tätigkeit oder ein praktisches oder ein ästhetisches Verhalten des Menschen.

      Betrug (dolus) ist im allgemeinen Sinne jede absichtliche Verletzung oder Unterdrückung der Wahrheit; im engeren Sinne eine gewinnsüchtige Täuschung des anderen.

      Bettelstolz besitzt derjenige, der seinem Stolze durch äußeres Gepränge schmeicheln will, es jedoch nicht kann, ohne die Armseligkeit seiner Umstände zu zeigen.

      Beweggrund, vgl. Bestimmungsgrund, Motiv.

      Bewegung nennt man die Ortsveränderung eines Körpers, Ruhe dagegen sein Verharren an demselben Orte. Man unterscheidet zunächst absolute und relative Bewegung und Ruhe. Jene ist die an sich gedachte Ortsveränderung eines Körpers oder sein an sich gedachtes Verharren an demselben Orte im unendlichen Raume, diese seine Ortsveränderung oder sein Verharren an demselben Orte in Beziehung auf einen anderen Körper. – Alle wahrnehmbare Bewegung und Ruhe ist in Wahrheit nur relativ; mit der Idee der absoluten Bewegung und Ruhe überschreiten wir den Kreis der Erfahrung. Die relative Bewegung und Ruhe ist entweder wirklich oder scheinbar. Wirklich ist die Bewegung und Ruhe, wenn der bewegte Körper für bewegt und der ruhende für ruhend angesehen wird, scheinbar, wenn der bewegte Körper als ruhend und der ruhende als bewegt gilt. So ist die tägliche Bewegung der Erde um ihre Achse und die Ruhe des Sternenhimmels wirklich, die tägliche Sternbewegung aber und die Erdruhe scheinbar. Ob eine Bewegung scheinbar oder wirklich ist, ist oft sehr schwer festzustellen. So ist die Achsendrehung der Erde jahrtausendelang nicht als wirkliche Bewegung erfaßt worden, und es hat schwieriger Forschungen bedurft, sie nachzuweisen und ebenso schwerer Kämpfe, die Wahrheit gegen das Vorurteil zur Geltung zu bringen. Auch im Leben ist es nicht immer leicht, über Scheinbarkeit oder Wirklichkeit einer Bewegung zu urteilen. Denken wir uns z. B. auf ein Schiff versetzt, das auf dem Äquator von Osten nach Westen fährt, und gehen wir ebenso schnell, als das Schiff fährt, auf demselben vom Bug zum Heck. Wie steht es dann mit Bewegung und Ruhe? Wir gehen scheinbar von Westen nach Osten – aber wir fahren ebenso schnell von Osten nach Westen – also schließen wir, daß wir wirklich ruhen; aber wir bewegen uns ja mit der Erdachsendrehung in bestimmter Geschwindigkeit von Westen nach Osten und mit der Erde um die Sonne andrerseits mit anderer Geschwindigkeit nach Westen und mit unserem ganzen Planetensystem in wieder anderer Geschwindigkeit und Richtung: Hier kümmern wir uns im alltäglichen Leben nur um das Nächstliegende und überlassen das Weitere dem wissenschaftlichen Forscher. – Zur Bestimmung jeder Bewegung gehört der vom Körper oder vielmehr seinem Schwerpunkt zurückgelegte Weg, die Bahn der Bewegung, und die Zeitdauer der Bewegung. Geradlinig heißt die Bewegung eines Körpers, wenn derselbe seine Richtung während der Bewegung unverändert beibehält, krummlinig, wenn er sie stetig ändert. Gleichförmig heißt die Bewegung eines Körpers, wenn er stets in gleichen Zeiten gleiche Wegstrecken zurücklegt, ungleichförmig, wenn dies nicht der Fall ist. Eine ungleichförmige Bewegung heißt beschleunigt, wenn die in gleichen Zeiten zurückgelegten Wegstrecken stets wachsen, verzögert, wenn sie stets abnehmen. Das Verhältnis des in einem bestimmten Zeitabschnitte zurückgelegten Weges zur Größe dieses Zeitabschnittes heißt die Geschwindigkeit des Körpers. Gleichmäßig beschleunigt oder verzögert heißt die Bewegung eines Körpers, wenn die Geschwindigkeit desselben in gleichen Zeiten gleichviel zu- oder abnimmt. – Die Bewegung führen wir vom Standpunkt des Dynamismus (s. d.) aus in jedem Falle auf verursachende Kräfte zurück, und in den Bewegungen erforschen wir die Kräfte. Jede Änderung in dem Bewegungszustande eines Körpers leiten wir von einer Kraft ab. Wir fordern, daß kein bewegter Körper in Ruhe, kein ruhender in Bewegung geraten kann, ohne daß eine Kraft dies bewirkt. Der Kinetiker sucht ohne Kräfte mit dem Begriff Impuls auszukommen. Einfach nennen wir die Bewegung, wenn wir sie auf eine Kraft, zusammengesetzt, wenn wir sie auf mehrere Kräfte zurückführen. Wirken auf einen Körper zwei Kräfte in gleicher Richtung, so ist die Geschwindigkeit gleich der Summe, wirken sie in entgegengesetzter Richtung, so ist die Geschwindigkeit gleich der Differenz der Geschwindigkeiten, welche beide Ursachen, einzeln wirkend, dem Körper erteilt haben würden. Wirken auf einen Körper zwei Kräfte, deren Richtungen einen Winkel bilden, so erfolgt die Bewegung in der Richtung und Größe der Diagonale desjenigen Parallelogramms, welches sich aus der Richtung und Größe der beiden Kräfte ziehen läßt (Parallelogramm der Kräfte). – Eine Bewegung heißt frei, wenn ein Körper ungehindert der Wirkung der ihn bewegenden Kräfte folgen kann, unfrei, wenn ihm (wie bei einem Eisenbahnzug oder den Teilen einer Maschine) eine feste Bahn vorgeschrieben ist. Unter der Größe der Bewegung versteht man die Gewalt, die ein bewegter Körper auf andere auszuüben vermag. Die Größe der Bewegung ist gleich dem Produkt aus der bewegten Masse und der Geschwindigkeit. – Die Bewegung ist ein Grundphänomen alles Geschehens in der Außenwelt. Frühzeitig hat sich daher der Blick der Naturforscher und Philosophen auf diesen Begriff gelenkt. Während unter den griechischen Philosophen Herakleitos (um 500) lehrte, daß sich alles in der Natur beständig bewege (panta rhei), haben die Eleaten (6. u. 5. Jahrh. v. Chr.) die Realität der Bewegung gänzlich geleugnet und die Bewegung für Sinnestrug erklärt; vor allem hat Zenon (geb. zw. 490 u. 485) die Lehre des Parmenides von der Nichtexistenz der Bewegung streng zu beweisen versucht. Aber seine Beweise schließen den mathematischen Fehler in sich ein, daß sie nicht beachten, daß die Summe einer unendlichen konvergierenden Reihe unter einer endlichen Größe zurückbleibt. Auch Aristoteles (384-322), der in der Bewegung den Übergang vom Möglichen zum Wirklichen sah, hat das Wesen