Friedrich Kirchner

Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe


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werde, nur in dem Falle umkehren, wenn ein Ding oder Gedanke nicht mehrfach, sondern nur durch eins bedingt ist, nicht, wenn ein Bedingtes von mehreren Bedingungen abhängt. Wo mehrere Bedingungen da sind, kann man Haupt- und Nebenbedingungen, sowie positive und negative unterscheiden. Vgl. Grund, Folge, Ursache, Causalität.

      Bedürfnis. Von Natur ist der menschliche Organismus so eingerichtet, daß seine Erhaltung an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. Das aus dem Bewußtsein der Bedingungen, an welche die Erhaltung des Lebens geknüpft ist, entstehende Streben des Menschen nach Erfüllung derselben heißt Bedürfnis. Wo das Bedürfnis keine Befriedigung findet, entsteht das Gefühl des Mangels. Kant definiert Bedürfnis allgemeiner als das Verhältnis eines lebenden Menschen zu dem nötigen Gebrauche gewisser Mittel in Ansehung eines Zweckes. Das Bedürfnis ist also für ihn eine praktische, in dem Begehrungsvermögen begründete, subjektive Notwendigkeit (Kr. d. pr. V. 56. 255-259). Die Bedürfnisse sind zahlreich; man kann sie nach ihrer Art qualitativ in körperliche und seelische einteilen. Gegenstände der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse sind: Nahrung, Kleidung, Wohnung, Schutz usw.; Gegenstände der Befriedigung seelischer Bedürfnisse: Betätigung, Erkenntnis, Ausdruck usw. Die Bedürfnisse unterscheiden sich auch quantitativ nach der Stärke, mit welcher sie sich geltend machen, und nach dem Bedarf, d. h. nach der Menge wirtschaftlicher Güter, die zu ihrer Befriedigung erforderlich sind. Die Stärke der Bedürfnisse hängt ab von ihrer Intensität, ihrer Verbreitung und ihrer Dauer. Nach ihrer Intensität unterscheidet man entbehrliche und unentbehrliche, absolute und relative, notwendige und freie, aufschiebbare und dringliche Bedürfnisse. Nach ihrer Verbreitung sind die Bedürfnisse allgemein menschliche, nationale, soziale und individuelle, nach ihrer Dauer ständige und vorübergehende. Nach dem Bedarf sind die Bedürfnisse bescheidene oder anspruchsvolle, beschränkte oder umfassende, einfache oder zusammengesetzte. Auch nach ihrer Entstehung unterscheiden sich die Bedürfnisse und sind in natürliche und künstliche oder konventionelle einzuteilen. Die Bedürfnisse haben ihre untere und obere Grenze; jene ist bestimmt durch das zur Erhaltung des Lebens Notwendige, diese ist bei den Selbsterhaltungsbedürfnissen wohl durch die Natur bestimmt, aber meist verschiebbar, so daß der Mensch oft im Genuß die natürlichen Grenzen überschreitet, bei den Vervollkommnungsbedürfnissen ist sie ohne bestimmte Grenze. – Die Befriedigung der Bedürfnisse ist mit Genuß verknüpft, der bei körperlichen Bedürfnissen im Maße der Befriedigung verhältnismäßig schnell abstumpft, bei seelischen Bedürfnissen viel andauernder ist. Die Geschichte der Bedürfnisse zeigt eine stetige Vermehrung derselben, zum Teil eine Veredlung, zum Teil eine Entartung ins Unnatürliche. Bei ihrer Mannigfaltigkeit ist für ein und dasselbe Subjekt gleichzeitig eine Konkurrenz der Bedürfnisse oft unvermeidlich; doch gibt meist in dieser Konkurrenz eine Vergleichung ihrer Notwendigkeit und der Grad der Möglichkeit ihrer Befriedigung jedesmal den Ausschlag. Vgl. Luxus, Mode, Interesse. (A. Döring, Güterlehre 1888.)

      Bedürfnislosigkeit, die Freiheit von Bedürfnissen, ist vollkommen keinem Menschen eigen. Der Organismus wird nur erhalten durch die Befriedigung der Bedürfnisse, und kein Mensch kann, ohne z. B. den Hunger und den Durst zu befriedigen, existieren. Unter Bedürfnislosigkeit hat man daher den möglichst niederen Grad der Bedürftigkeit verstanden, und diesen haben als ethisches Ziel Sokrates, die Cyniker und die Stoiker aufgestellt. Vgl. Autarkie.

      Befehlsautomatie ist eine Willenshemmung des Hypnotisierten, welche aus der Hinwendung der Aufmerksamkeit auf den Hypnotiseur entsteht. Vgl. Suggestion, Hypnose.

      Begehren heißt das Streben nach Lust durch die Verwirklichung eines Vorgestellten. Begehrungsvermögen heißt die Fähigkeit eines Wesens, seinen Vorstellungen Wirklichkeit zu verleihen und hierdurch der Lust teilhaftig zu werden. Aus ihm entspringt das Wünschen und Meiden, das Streben und Widerstreben. Richtet es sich darauf, einen zukünftigen, als angenehm vorgestellten Zustand herbeizuführen, so heißt es Begehren im engeren Sinne; sucht es dagegen einen unangenehmen zu vermeiden, so heißt es Verabscheuen. Ohne die, wenn auch dunkle Vorstellung dieser Zustände entsteht keines von beiden. Die ältere Psychologie unterschied ein höheres und ein niederes Begehrungsvermögen; die neuere unterscheidet ein materielles und intellektuelles. Jenes umfaßt die sinnlichen Triebe, dieses die geistigen. Das vernünftige Begehren heißt Wollen. Kant(1724-1804) definiert das Begehrungsvermögen als das Vermögen eines lebenden Wesens, durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit ihres Gegenstandes zu sein oder doch sich selbst zur Bewirkung desselben zu bestimmen, mag das physische Vermögen zur Hervorbringung des begehrten Objekts hinreichend sein oder nicht (Kr. d. pr. V. S. 16, Anm. S. 29-30). Vgl. Trieb, Neigung, Wille usw.

      Begeisterung ist die durch lebhafte Erfassung eines neu an uns herantretenden wertvollen Objektes oder bedeutenden Vorganges erzeugte Steigerung unserer Geistestätigkeit. Durch die Begeisterung wird die Einbildungskraft entfesselt, der Verstand geschärft, das Gefühl erwärmt, das Interesse gespannt und der Wille gestärkt. Die Menschen sind in sehr verschiedenem Grade der Begeisterung fähig; am meisten diejenigen, welche lebhafte Phantasie und ein tiefes Gemüt bei sanguinischem Temperament besitzen; doch bedürfen sie auch starker Reflexion und Willenskraft, um nicht in Schwärmerei oder selbst Wahnwitz zu verfallen. Die höheren Grade der Begeisterung äußern sich so, daß ein Geist oder ein Dämon aus dem begeisterten Menschen zu sprechen scheint; so erschienen ihrer Umgebung die Propheten und die ersten Christen. Nach ihrem Objekt kann man eine moralische, ästhetische, religiöse und politische Begeisterung unterscheiden. Die Begeisterung ist die Ursache mancher bedeutenden Leistung geworden. Vgl. Inspiration, Genialität.

      Begierde (cupido) ist im Unterschied von dem bezüglich des erstrebten Objekts unbewußten Triebe das bewußte Streben nach Erreichung eines als angenehm vorgestellten Objektes. Niemand begehrt etwas, wovon er keine Vorstellung hat. (Ignoti nulla cupido.) Die Begierden, die aktive Willenszustände sind, zerfallen in sinnliche(materielle)und geistige(intellektuelle),die letzteren wieder in unmittelbare und mittelbare. Das Gegenteil der Begierde heißt Abscheu oder Widerstreben. Jede Begierde hat Inhalt, Stärke und Rhythmus. Ihr Inhalt ist die Vorstellung des Begehrten, die Lust, welche man durch Gewinnung des Objekts zu erlangen wähnt. Ihre Stärke hängt von dem Triebe, aus dem sie hervorwächst, der Wertschätzung des Begehrten und den Hindernissen, welche man zu überwinden hat, ab. Ihr Rhythmus ist das Steigen und Sinken der Begierde, indem sie teilweise durch Befriedigung gestillt, teilweise von neuem aufgestachelt wird. Inhalt, Stärke und rhythmische Bewegung der Begierden sind bei den verschiedenen Personen sehr verschieden und ändern sich auch mit dem Alter, der Lebensweise, dem Gedankenkreise jeder einzelnen Person. Der Zusammenhang von leiblichen und seelischen Vorgängen tritt bei der Begierde deutlich hervor; denn sie nimmt, wie jeder an sich beobachten kann, bald im Geiste, bald in der Sinnlichkeit ihren Ursprung, äußert sich aber alsbald auch auf der anderen Seite. So erzeugt die Vorstellung leckerer Speisen eine erhöhte Absonderung der Speicheldrüsen, und der sinnliche Trieb nach Nahrung (Hunger) erweckt in uns alsbald Vorstellungen von Speisen. Nach Descartes (1596-1650 Passiones animae II, 86) ist die Begierde eine durch die Lebensgeister bewirkte Erregung der Seele, durch die sie bestimmt wird, für die Zukunft Dinge zu wollen, die sie sich als angenehm vorstellt; nach Spinoza (1632-1677 Ethica III, 9) ist die Begierde der bewußte Trieb (appetitus cum eiusdem conscientia), der Trieb aber das eigene Wesen des Menschen, insofern es sich in dem Zustande befindet, das zu tun, was seiner Erhaltung dient (ipsa hominis essentia, quatenus ex data quacumque eius affectione determinata est ad ea agendum, quae ipsius conservationi inserviant). Nach Kant (1724-1804 Anthropologie § 70) ist die Begierde (appetitio) die Selbstbestimmung der Kraft eines Subjekts durch die Vorstellung von etwas Künftigem, als einer Wirkung derselben. Die habituelle sinnliche Begierde heißt Neigung, das Begehren ohne Kraftaufwendung des Objekts ist der Wunsch. Nach Herbart (1776-1841), der das Wesen aller Seelenvorgänge im Vorstellen sieht, entstehen Begierden, wenn die Vorstellung irgend eines Gegenstandes im Bewußtsein zu steigen sucht, aber Hemmnissen begegnet. Das Bewußtwerden des Anstrebens einer Vorstellung oder einer Vorstellungsmasse gegen ihr widerstrebende Hemmnisse ist die Begierde. Nach Wundt (Phys. Psych. I, S. 535) ist die Begierde die