uns, er, daß ›Frau Soundso‹ achtunddreißig alt sei, und ich, daß ich eine Vierzigjährige anbetete. Als wir so beide eine gewisse unbestimmte Angst losgeworden waren, erschöpften wir uns in neuen Geständnissen, da wir uns ja als Mitbrüder in der Liebe ansahen. Dann handelte es sich darum, wer von uns beiden ein glühenderes Gefühl empfände. Der eine hatte einmal einen Weg von zweihundert Meilen gemacht, um mit seiner Geliebten eine Stunde lang zusammenzusein. Der andere hatte riskiert, in einem Park für einen Wolf gehalten und niedergeschossen zu werden, um sich zu einem nächtlichen Rendezvous einzufinden. So beichteten wir uns alle unsere Torheiten! Wenn es angenehm ist, sich an vorübergegangene Gefahren zu erinnern, ist es nicht auch sehr süß, entschwundener Freuden zu gedenken? Genießt man dann nicht zum zweitenmal? Bestandene Gefahren, große und kleine Seligkeiten, alles gestanden wir einander, selbst Scherze. Die Gräfin meines Freundes hatte eine Zigarre geraucht, nur ihm zu Liebe; die meinige bereitete mir meine Schokolade selbst und ließ keinen Tag vorübergehen, ohne mir zu schreiben oder mich zu besuchen; die seinige hatte drei Tage in seiner Wohnung zugebracht auf die Gefahr hin, sich ins Verderben zu stürzen; und die meinige hatte noch Besseres oder, wenn man will, noch Schlimmeres getan. Die Ehemänner beteten im übrigen unsere Gräfinnen an; sie waren von dem Reiz, den alle liebenden Frauen ausströmen, gefesselt; und vorschriftswidrig töricht, bedeuteten sie für uns gerade so viel Gefahr, wie nötig war, um unsere Genüsse noch zu steigern. Oh, wie schnell der Wind unsere Worte und unser fröhliches Lachen davontrug!
Als wir in Pouilly anlangten, prüfte ich sehr genau die Persönlichkeit meines neuen Freundes. Ich war schnell überzeugt, daß er sicherlich sehr ernsthaft geliebt würde. Man stelle sich einen jungen Mann von mittlerem aber sehr wohlproportioniertem Wuchse vor, mit einem angenehmen ausdrucksvollen Gesicht. Er hatte schwarzes Haar und blaue Augen; seine Lippen waren leicht gerötet, seine Zähne weiß und wohlgebildet; eine reizvolle Blässe hob seine feinen Züge noch mehr hervor, seine Augen waren von leichten dunklen Ringen umzogen, als ob er eine Krankheit überstanden hätte. Nimmt man dazu, daß er weiße, schön modellierte und wie bei einer hübschen Frau gepflegte Hände besaß, daß er sehr gebildet erschien und geistvoll war, so wird man zugestehen müssen, daß mein Reisegenosse dazu angetan war, einer Gräfin Ehre zu machen. Mehr als ein junges Mädchen hätte ihn gewiß gern zum Manne genommen, denn er war Vicomte und besaß eine Rente von zwölf- bis fünfzehntausend Franken, ungerechnet das, was er noch zu »erwarten« hatte. Eine Meile hinter Pouilly stürzte die Diligence um. Mein unglücklicher Kamerad glaubte sich in Sicherheit bringen zu können, wenn er auf ein frisch beackertes Feld hinübersprang, anstatt wie ich sich an die Sitzbank anzuklammern und das Umfallen mitzumachen. Ich weiß nicht, ob er schlecht absprang oder ausglitt, aber der Wagen stürzte auf ihn, und er wurde zerschmettert. Wir brachten ihn in das Haus eines Bauern. Mitten zwischen dem Stöhnen, das ihm seine furchtbaren Schmerzen auspreßten, konnte er mir noch die Erfüllung eines Vermächtnisses ans Herz legen, dem der letzte Wunsch eines Sterbenden ein geheiligtes Siegel aufprägte. Mitten in seinem Todeskampfe wurde das arme Kind in all der Unschuld, die in seinem Alter so oft zu finden ist, von dem Gedanken an den Schrecken gepeinigt, der seiner Geliebten eingejagt werden würde, wenn sie seinen Tod plötzlich aus der Zeitung erführe. Er bat mich, zu ihr zu gehen und ihr selbst davon Mitteilung zu machen. Dann ließ er mich einen Schlüssel suchen, den er an einem Bande auf der Brust trug. Ich fand ihn halb ins Fleisch eingebohrt. Der Sterbende ließ keine Klage laut werden, als ich ihn so sanft wie nur möglich aus der Wunde, die er gemacht hatte, herauszog. Als er mir alle erforderlichen Aufklärungen gegeben hatte, wie ich bei ihm in Charité-sur-Loire die Liebesbriefe seiner Geliebten an mich nehmen sollte, und nachdem er mich beschworen hatte, sie ihr zu übergeben, konnte er mitten im Satze nicht weiter sprechen und gab mir nur mit einer Geste zu verstehen, daß mir der verhängnisvolle Schlüssel für die Erfüllung meiner Mission als Ausweis bei seiner Mutter dienen sollte. Traurig darüber, daß er mir kein einziges Wort des Dankes mehr sagen konnte, denn er zweifelte nicht an meinem Eifer, seinen Wunsch zu erfüllen, betrachtete er mich einen Augenblick mit flehenden Blicken und nahm Abschied von mir mit einem Zucken seiner Wimpern; dann neigte er sein Haupt und verschied. Sein Tod war das einzige Unglück, das das Umwerfen des Wagens verursacht hatte. Und daran hatte er selbst ein wenig schuld, wie der Kondukteur sagte.
In Charité erfüllte ich das mündliche Vermächtnis des armen Reisenden. Seine Mutter war, gewissermaßen zu meinem Glück, abwesend. Trotzdem mußte ich eine alte Dienerin in ihrem Schmerze trösten, die beinahe umgesunken wäre, als sie den Tod ihres jungen Herrn erfuhr; sie fiel halbtot auf einen Stuhl, sobald sie den noch blutbedeckten Schlüssel erblickte; da ich mich aber mit einem viel schlimmeren Schmerz beschäftigen mußte, dem einer Frau, der das Schicksal den Gegenstand ihrer letzten Liebe entrissen hatte, so ließ ich die alte Haushälterin mit ihren Klagen allein und nahm die kostbare Korrespondenz mit mir, die mein Eintagsfreund sorgfältig eingeschlagen hatte.
Das Schloß, das die Gräfin bewohnte, lag acht Meilen von Moulins entfernt, und um hinzugelangen, mußte man auch noch einige Meilen nach dem Gute zu Fuß machen. Es war also ziemlich schwierig für mich, meinen Auftrag auszuführen. Durch ein Zusammentreffen verschiedener Umstände, deren Aufzählung überflüssig wäre, besaß ich nicht genug Geld, um Moulins zu erreichen. Gleichwohl beschloß ich in meiner jugendlichen Begeisterung, den Weg zu Fuß zu machen, und zwar eilig, um der Verbreitung der bösen Nachricht, die so schnell vor sich zu gehen pflegt, zuvorzukommen. Ich erkundigte mich nach dem kürzesten Wege und ging auf den Fußsteigen des Bourbonnais, indem ich sozusagen einen Toten mit mir schleppte. Je näher ich dem Schlosse von Montpersan kam, um so schrecklicher erschien mir die eigenartige Pilgerfahrt, die ich unternommen hatte. Meine Phantasie spiegelte mir Tausende von romantischen Bildern vor. Ich stellte mir alle Situationen vor, in denen ich Frau von Montpersan, oder um der romanhaften Poesie zu genügen, der so sehr geliebten ›Juliette‹ des jungen Reisenden begegnen könnte. Ich dachte mir geistvolle Antworten auf Fragen aus, von denen ich annahm, daß sie mir gestellt werden könnten. An jeder Waldesecke, an jedem Hohlweg wiederholte sich die Szene von Sofias und seiner Laterne, der er den Schlachtbericht abstattet. Wie ich zu meiner Schande gestehen muß, dachte ich zunächst nur an mein Auftreten, an meine geistreichen Worte, an die Gewandtheit, die ich entwickeln wollte; erst als ich mich auf dem Gute selbst befand, traf mich eine Erwägung wie ein Blitzstrahl, der einen Schleier grauer Wolken durchdringt und zerreißt.