tierische Hunger alle vernünftige menschliche Überlegung besiegt. So hatte ich zu gleicher Zeit die Natur in all ihrer Nacktheit in zwei Bildern beobachten können, bei denen das Komische inmitten des furchtbarsten Schmerzes zutage trat. Der Abend verlief in trüber Stimmung. Ich war sehr ermüdet. Der Domherr wandte all seinen Scharfsinn auf, um den Grund für den Jammer seiner Nichte herauszubekommen. Der Ehemann verdaute stillschweigend, nachdem er sich mit einer ziemlich unbestimmten Aufklärung begnügt hatte, die ihm die Gräfin durch ihre Kammerfrau geben ließ, und die, wie ich glaube, in Zusammenhang mit dem natürlichen Unwohlsein der Frauen gebracht wurde. Dann begaben wir uns alle zeitig zur Ruhe. Da ich bei dem Zimmer der Gräfin vorbeikam, um mein Nachtlager unter Führung des Kammerdieners aufzusuchen, erkundigte ich mich ängstlich nach ihrem Befinden. Als sie meine Stimme erkannte, ließ sie mich bei sich eintreten und wollte mit mir sprechen; aber sie konnte kein Wort herausbringen, nickte nur mit dem Kopfe, und ich zog mich zurück. Trotz der furchtbaren Aufregungen, die ich mit der vollen Anteilnahme eines jungen Menschen durchgemacht hatte, schlief ich gleich ein, überwältigt von Müdigkeit infolge meines Gewaltmarsches. Da wurde ich in später Nachtstunde durch das kreischende Geräusch der Ringe meiner Bettvorhänge jäh geweckt, die heftig zurückgezogen wurden, und ich sah die Gräfin zu Füßen meines Bettes sitzen. Ihr Antlitz war von der Lampe meines Tisches hell beleuchtet.
»Ist es denn wirklich wahr, mein Herr?« sagte sie. »Ich weiß nicht, wie ich nach dem furchtbaren Schlage, der mich getroffen hat, noch weiter leben soll; aber jetzt bin ich ganz ruhig. Ich will alles wissen.«
›Eine schöne Ruhe!‹ sagte ich mir, als ich die erschreckende Blässe ihres Gesichts wahrnahm, die von der braunen Farbe des Haars abstach, als ich den Grabeston ihrer Stimme hörte und entsetzt feststellte, wie verwüstet und verzerrt ihr Antlitz war. Sie erschien wie verblüht, wie ein Blatt, das seine letzten Herbstfarben eingebüßt hat. Ihre Augen waren rot und geschwollen, hatten alle ihre Schönheit verloren und spiegelten nur ihren tiefen bittern Schmerz wider: man hätte sagen mögen, daß an Stelle der lachenden Sonne eine graue Wolke getreten war.
Ich schilderte ihr in einfacher Weise, ohne allzusehr gewisse Einzelheiten, die für sie zu schmerzlich sein mußten, zu berühren, den plötzlichen Unglücksfall, der ihr ihren Herzensfreund geraubt hatte. Ich erzählte ihr von unserem ersten Reisetage, der mit den Erinnerungen an ihre Liebe ausgefüllt war. Sie weinte nicht, sie hörte begierig zu, das Haupt zu mir hin geneigt, wie ein sorgsamer Arzt, der einer Krankheit auf der Spur ist. Als ich sie ganz ihrem Schmerz hingegeben und in ihr Unglück versunken sah, ergriff ich die Gelegenheit, ihr von den Befürchtungen des sterbenden armen Jungen zu berichten, und weshalb er mir den traurigen Auftrag gegeben hatte. Das düstere Feuer, das tief in ihrer Seele flammte, ließ ihre Tränen verfliegen. Sie wurde womöglich noch bleicher. Als ich ihr die Briefe reichte, die ich unter meinem Kopfkissen verwahrt hatte, nahm sie sie mechanisch entgegen; dann ging ein heftiges Zittern durch ihren Körper, und sie rief mit rauher Stimme: »Ach, und ich habe die seinigen verbrannt! Nichts von ihm habe ich, nichts, nichts!«
Und sie schlug sich heftig vor die Stirn.
»Gnädige Frau«, sagte ich. Sie machte eine krampfhafte Bewegung und sah mich an. »Ich habe ihm eine Locke abgeschnitten,« fuhr ich fort, »hier ist sie.«
Und ich gab ihr dieses unverwüstliche Restchen dessen, den sie liebte. Ach, wenn ihr wie ich die glühenden Tränen gefühlt hättet, die jetzt auf meine Hand tropften. Dann würdet ihr wissen, was Dankbarkeit ist, die unmittelbar auf eine Wohltat folgt. Sie preßte meine Hände und sagte mit erstickter Stimme, während ihre Augen im Fieber glänzten und inmitten ihres furchtbaren Schmerzes ein Strahl flüchtigen Glücksgefühls hervorbrach:
»Ach, auch Sie lieben! Mögen Sie stets glücklich sein und die, die Ihnen teuer ist, nie verlieren!«
Sie vollendete den Satz nicht und entfloh mit ihrem Schatze.
Am andern Morgen erschien mir diese mit meinen Träumen vermischte nächtliche Szene ganz unwirklich. Es bedurfte erst, um mich von ihrer traurigen Wahrheit zu überzeugen, des vergeblichen Suchens nach den Briefen unter meinem Kissen. Von den Ereignissen des nächsten Tages ist nichts erwähnenswert. Ich verweilte noch einige Stunden bei Juliette, die mein armer Reisegenosse mir so sehr gerühmt hatte. Die geringsten Äußerungen, Gesten und Handlungen dieser Frau überzeugten mich von der Vornehmheit ihres Denkens und der Zartheit ihres Empfindens, die sie zu einem jener köstlichen für die Liebe und die Hingebung geschaffenen Wesen machten, die so spärlich auf dieser Erde vorkommen. Am Abend brachte mich der Graf von Montpersan persönlich nach Moulins. Als wir dort anlangten, sagte er ziemlich verlegen zu mir: »Wenn ich damit Ihre Freundlichkeit nicht mißbrauche, mein Herr, und nicht allzu vertraulich gegenüber einem Unbekannten handle, gegen den wir uns schon genug verpflichtet fühlen, so würde ich Sie bitten, in Paris, wohin Sie ja reisen, bei Herrn von … (den Namen habe ich vergessen) in der Rue Sentier einen Betrag, den ich ihm schulde, und den er bald zu empfangen wünscht, abzugeben.«
»Gern«, sagte ich.
Und ich nahm in aller Unschuld eine Rolle von fünfundzwanzig Louisdors entgegen, die mir dazu verhalf, nach Paris zurückzukehren, und die ich dann getreulich dem Korrespondenten, dem sogenannten Gläubiger des Herrn von Montpersan wieder zustellte.
Erst in Paris wurde mir, als ich den Betrag in das angegebene Haus brachte, die feinsinnige Geschicklichkeit klar, mit der mir Juliette einen Dienst leistete. Die Form, in der mir dieses Gold geliehen wurde, die über meine leicht erkennbare Geldnot bewahrte Diskretion – zeigen sie nicht deutlich die geniale Fähigkeit eines liebenden Weibes?
Und welches Entzücken genoß ich, als ich dieses Abenteuer einer anderen Frau erzählen konnte, die mich voll Angst an sich drückte und sagte: »Ach, Geliebter, du, du darfst mir nicht sterben!«
1
Der Graf von Fontaine, das Haupt einer der ältesten Familien Poitous, hatte der Sache der Bourbonen mit Intelligenz und Mut während der Kämpfe der Vendéer gegen die Republik gedient. Nachdem er allen Gefahren entronnen war, die die royalistischen Anführer in dieser stürmischen Epoche der zeitgenössischen Geschichte bedroht hatten, pflegte er scherzend zu sagen: »Ich bin einer von denen, die sich auf den Stufen des Throns haben töten lassen!« Dieser Scherz hatte etwas Wahres bei einem Manne, den man an dem blutigen Tage von Quatre-Chemins für tot