Honore de Balzac

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke


Скачать книгу

tie­ri­sche Hun­ger alle ver­nünf­ti­ge mensch­li­che Über­le­gung be­siegt. So hat­te ich zu glei­cher Zeit die Na­tur in all ih­rer Nackt­heit in zwei Bil­dern be­ob­ach­ten kön­nen, bei de­nen das Ko­mi­sche in­mit­ten des furcht­bars­ten Schmer­zes zu­ta­ge trat. Der Abend ver­lief in trüber Stim­mung. Ich war sehr er­mü­det. Der Dom­herr wand­te all sei­nen Scharf­sinn auf, um den Grund für den Jam­mer sei­ner Nich­te her­aus­zu­be­kom­men. Der Ehe­mann ver­dau­te still­schwei­gend, nach­dem er sich mit ei­ner ziem­lich un­be­stimm­ten Auf­klä­rung be­gnügt hat­te, die ihm die Grä­fin durch ihre Kam­mer­frau ge­ben ließ, und die, wie ich glau­be, in Zu­sam­men­hang mit dem na­tür­li­chen Un­wohl­sein der Frau­en ge­bracht wur­de. Dann be­ga­ben wir uns alle zei­tig zur Ruhe. Da ich bei dem Zim­mer der Grä­fin vor­bei­kam, um mein Nacht­la­ger un­ter Füh­rung des Kam­mer­die­ners auf­zu­su­chen, er­kun­dig­te ich mich ängst­lich nach ih­rem Be­fin­den. Als sie mei­ne Stim­me er­kann­te, ließ sie mich bei sich ein­tre­ten und woll­te mit mir spre­chen; aber sie konn­te kein Wort her­aus­brin­gen, nick­te nur mit dem Kop­fe, und ich zog mich zu­rück. Trotz der furcht­ba­ren Auf­re­gun­gen, die ich mit der vol­len An­teil­nah­me ei­nes jun­gen Men­schen durch­ge­macht hat­te, schlief ich gleich ein, über­wäl­tigt von Mü­dig­keit in­fol­ge mei­nes Ge­walt­mar­sches. Da wur­de ich in spä­ter Nacht­stun­de durch das krei­schen­de Geräusch der Rin­ge mei­ner Bett­vor­hän­ge jäh ge­weckt, die hef­tig zu­rück­ge­zo­gen wur­den, und ich sah die Grä­fin zu Fü­ßen mei­nes Bet­tes sit­zen. Ihr Ant­litz war von der Lam­pe mei­nes Ti­sches hell be­leuch­tet.

      »Ist es denn wirk­lich wahr, mein Herr?« sag­te sie. »Ich weiß nicht, wie ich nach dem furcht­ba­ren Schla­ge, der mich ge­trof­fen hat, noch wei­ter le­ben soll; aber jetzt bin ich ganz ru­hig. Ich will al­les wis­sen.«

      ›Ei­ne schö­ne Ruhe!‹ sag­te ich mir, als ich die er­schre­cken­de Bläs­se ih­res Ge­sichts wahr­nahm, die von der brau­nen Far­be des Haars ab­stach, als ich den Gra­be­ston ih­rer Stim­me hör­te und ent­setzt fest­stell­te, wie ver­wüs­tet und ver­zerrt ihr Ant­litz war. Sie er­schi­en wie ver­blüht, wie ein Blatt, das sei­ne letz­ten Herbst­far­ben ein­ge­büßt hat. Ihre Au­gen wa­ren rot und ge­schwol­len, hat­ten alle ihre Schön­heit ver­lo­ren und spie­gel­ten nur ih­ren tie­fen bit­tern Schmerz wi­der: man hät­te sa­gen mö­gen, daß an Stel­le der la­chen­den Son­ne eine graue Wol­ke ge­tre­ten war.

      Ich schil­der­te ihr in ein­fa­cher Wei­se, ohne all­zu­sehr ge­wis­se Ein­zel­hei­ten, die für sie zu schmerz­lich sein muß­ten, zu be­rüh­ren, den plötz­li­chen Un­glücks­fall, der ihr ih­ren Her­zens­freund ge­raubt hat­te. Ich er­zähl­te ihr von un­se­rem ers­ten Rei­se­ta­ge, der mit den Erin­ne­run­gen an ihre Lie­be aus­ge­füllt war. Sie wein­te nicht, sie hör­te be­gie­rig zu, das Haupt zu mir hin ge­neigt, wie ein sorg­sa­mer Arzt, der ei­ner Krank­heit auf der Spur ist. Als ich sie ganz ih­rem Schmerz hin­ge­ge­ben und in ihr Un­glück ver­sun­ken sah, er­griff ich die Ge­le­gen­heit, ihr von den Be­fürch­tun­gen des ster­ben­den ar­men Jun­gen zu be­rich­ten, und wes­halb er mir den trau­ri­gen Auf­trag ge­ge­ben hat­te. Das düs­te­re Feu­er, das tief in ih­rer See­le flamm­te, ließ ihre Trä­nen ver­flie­gen. Sie wur­de wo­mög­lich noch blei­cher. Als ich ihr die Brie­fe reich­te, die ich un­ter mei­nem Kopf­kis­sen ver­wahrt hat­te, nahm sie sie me­cha­nisch ent­ge­gen; dann ging ein hef­ti­ges Zit­tern durch ih­ren Kör­per, und sie rief mit rau­her Stim­me: »Ach, und ich habe die sei­ni­gen ver­brannt! Nichts von ihm habe ich, nichts, nichts!«

      Und sie schlug sich hef­tig vor die Stirn.

      »Gnä­di­ge Frau«, sag­te ich. Sie mach­te eine krampf­haf­te Be­we­gung und sah mich an. »Ich habe ihm eine Lo­cke ab­ge­schnit­ten,« fuhr ich fort, »hier ist sie.«

      Und ich gab ihr die­ses un­ver­wüst­li­che Rest­chen des­sen, den sie lieb­te. Ach, wenn ihr wie ich die glü­hen­den Trä­nen ge­fühlt hät­tet, die jetzt auf mei­ne Hand tropf­ten. Dann wür­det ihr wis­sen, was Dank­bar­keit ist, die un­mit­tel­bar auf eine Wohl­tat folgt. Sie preß­te mei­ne Hän­de und sag­te mit er­stick­ter Stim­me, wäh­rend ihre Au­gen im Fie­ber glänz­ten und in­mit­ten ih­res furcht­ba­ren Schmer­zes ein Strahl flüch­ti­gen Glücks­ge­fühls her­vor­brach:

      »Ach, auch Sie lie­ben! Mö­gen Sie stets glück­lich sein und die, die Ih­nen teu­er ist, nie ver­lie­ren!«

      Sie vollen­de­te den Satz nicht und ent­floh mit ih­rem Schat­ze.

      Am an­dern Mor­gen er­schi­en mir die­se mit mei­nen Träu­men ver­misch­te nächt­li­che Sze­ne ganz un­wirk­lich. Es be­durf­te erst, um mich von ih­rer trau­ri­gen Wahr­heit zu über­zeu­gen, des ver­geb­li­chen Su­chens nach den Brie­fen un­ter mei­nem Kis­sen. Von den Er­eig­nis­sen des nächs­ten Ta­ges ist nichts er­wäh­nens­wert. Ich ver­weil­te noch ei­ni­ge Stun­den bei Ju­li­et­te, die mein ar­mer Rei­se­ge­nos­se mir so sehr ge­rühmt hat­te. Die ge­rings­ten Äu­ße­run­gen, Ges­ten und Hand­lun­gen die­ser Frau über­zeug­ten mich von der Vor­nehm­heit ih­res Den­kens und der Zart­heit ih­res Emp­fin­dens, die sie zu ei­nem je­ner köst­li­chen für die Lie­be und die Hin­ge­bung ge­schaf­fe­nen We­sen mach­ten, die so spär­lich auf die­ser Erde vor­kom­men. Am Abend brach­te mich der Graf von Mont­per­san per­sön­lich nach Mou­lins. Als wir dort an­lang­ten, sag­te er ziem­lich ver­le­gen zu mir: »Wenn ich da­mit Ihre Freund­lich­keit nicht miß­brau­che, mein Herr, und nicht all­zu ver­trau­lich ge­gen­über ei­nem Un­be­kann­ten hand­le, ge­gen den wir uns schon ge­nug ver­pflich­tet füh­len, so wür­de ich Sie bit­ten, in Pa­ris, wo­hin Sie ja rei­sen, bei Herrn von … (den Na­men habe ich ver­ges­sen) in der Rue Sen­tier einen Be­trag, den ich ihm schul­de, und den er bald zu emp­fan­gen wünscht, ab­zu­ge­ben.«

      »Gern«, sag­te ich.

      Und ich nahm in al­ler Un­schuld eine Rol­le von fünf­und­zwan­zig Louis­dors ent­ge­gen, die mir dazu ver­half, nach Pa­ris zu­rück­zu­keh­ren, und die ich dann ge­treu­lich dem Kor­re­spon­den­ten, dem so­ge­nann­ten Gläu­bi­ger des Herrn von Mont­per­san wie­der zu­stell­te.

      Erst in Pa­ris wur­de mir, als ich den Be­trag in das an­ge­ge­be­ne Haus brach­te, die fein­sin­ni­ge Ge­schick­lich­keit klar, mit der mir Ju­li­et­te einen Dienst leis­te­te. Die Form, in der mir die­ses Gold ge­lie­hen wur­de, die über mei­ne leicht er­kenn­ba­re Geld­not be­wahr­te Dis­kre­ti­on – zei­gen sie nicht deut­lich die ge­nia­le Fä­hig­keit ei­nes lie­ben­den Wei­bes?

      Und wel­ches Ent­zücken ge­noß ich, als ich die­ses Aben­teu­er ei­ner an­de­ren Frau er­zäh­len konn­te, die mich voll Angst an sich drück­te und sag­te: »Ach, Ge­lieb­ter, du, du darfst mir nicht ster­ben!«

Der Ball von Sceaux

      Der Graf von Fon­taine, das Haupt ei­ner der äl­tes­ten Fa­mi­li­en Poi­tous, hat­te der Sa­che der Bour­bo­nen mit In­tel­li­genz und Mut wäh­rend der Kämp­fe der Ven­déer ge­gen die Re­pu­blik ge­dient. Nach­dem er al­len Ge­fah­ren ent­ron­nen war, die die roya­lis­ti­schen An­füh­rer in die­ser stür­mi­schen Epo­che der zeit­ge­nös­si­schen Ge­schich­te be­droht hat­ten, pfleg­te er scher­zend zu sa­gen: »Ich bin ei­ner von de­nen, die sich auf den Stu­fen des Throns ha­ben tö­ten las­sen!« Die­ser Scherz hat­te et­was Wah­res bei ei­nem Man­ne, den man an dem blu­ti­gen Tage von Qua­tre-Che­mins für tot