Honore de Balzac

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke


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freie Hand. Als wir uns zu­rück­wand­ten, rief die Glo­cke ge­ra­de zum Di­ner; ich wur­de ein­ge­la­den, dar­an teil­zu­neh­men. Ju­li­et­te prüf­te ver­stoh­len un­se­re Mie­nen, als sie uns ernst und schweig­sam zu­rück­kom­men sah. Ganz er­staunt dar­über, daß ihr Mann leicht­fer­tig einen Vor­wand such­te, um uns al­lein zu las­sen, blieb sie ste­hen und warf mir einen Blick zu, wie er nur ei­ner Frau zu Ge­bo­te steht. In die­sem Blick lag die gan­ze be­rech­tig­te Neu­gier­de ei­ner Haus­her­rin, die einen Frem­den bei sich emp­fängt, der wie vom Him­mel her­ab­ge­fal­len er­scheint; es la­gen dar­in tau­send Fra­gen über die selt­sa­men Ge­gen­sät­ze mei­ner Klei­dung, mei­ner Ju­gend, mei­ner Phy­sio­gno­mie; dann die Ge­ring­schät­zung ei­ner an­ge­be­te­ten Ge­lieb­ten, vor de­ren Au­gen kein an­de­rer Mann Gna­de fin­det, au­ßer ei­nem ein­zi­gen; es lag dar­in das un­will­kür­li­che Ge­fühl von Angst, von Furcht und von der Ver­stim­mung, einen un­er­war­te­ten Gast zu ha­ben, wäh­rend sie doch si­cher­lich alle Se­lig­kei­ten der Ein­sam­keit für ihre Lie­be hat­te auf­spa­ren wol­len. Ich ver­stand die­ses be­red­te Schwei­gen und ant­wor­te­te dar­auf mit ei­nem trü­ben Lä­cheln voll Mit­leid und Teil­nah­me. Ei­nen Au­gen­blick lang be­trach­te­te ich sie in dem gan­zen Glän­ze ih­rer Schön­heit, um­strahlt von der Hei­ter­keit des Ta­ges, in­mit­ten des schma­len von Blu­men um­rahm­ten Laub­gan­ges. Und wäh­rend ich die­ses Bild be­wun­der­te, konn­te ich einen Seuf­zer nicht un­ter­drücken.

      »Ach, Frau Grä­fin, ich habe eine sehr müh­se­li­ge Rei­se ge­macht, die ich … al­lein um Ihret­wil­len un­ter­nom­men hat­te.«

      »Wie, mein Herr?!« sag­te sie.

      »Oh,« fuhr ich fort, »ich kom­me im Na­men des­sen, der Sie Ju­li­et­te nennt.« Sie er­bleich­te. »Sie wer­den ihn heu­te nicht se­hen kön­nen.«

      »Ist er krank?« frag­te sie lei­se.

      »Ja«, er­wi­der­te ich. »Aber um Him­mels­wil­len ver­ra­ten Sie sich nicht. Ich bin von ihm be­auf­tragt wor­den, Ih­nen ge­wis­se, Sie be­tref­fen­de Ge­heim­nis­se an­zu­ver­trau­en; ich bit­te Sie, zu glau­ben, daß es nie­mals einen dis­kre­te­ren und er­ge­be­ne­ren Bo­ten ge­ge­ben hat.«

      »Aber, was ist denn mit ihm?«

      »Wenn er Sie nun nicht mehr lie­ben soll­te?«

      »Oh, das ist nicht mög­lich!« rief sie und ließ ein klei­nes Lä­cheln se­hen, das nichts we­ni­ger als un­ge­zwun­gen er­schi­en.

      Plötz­lich über­lief sie ein Schau­der, sie warf mir einen mil­den schnel­len Blick zu, er­rö­te­te und sag­te: »Lebt er?«

      Gro­ßer Gott, was für eine schreck­li­che Fra­ge! Ich war noch zu jung, um den Ton er­tra­gen zu kön­nen, ich fand kei­ne Ant­wort und sah die un­glück­se­li­ge Frau wie er­starrt an.

      »Mein Herr, ge­ben Sie mir Ant­wort!« rief sie.

      »Ja, Frau Grä­fin.«

      »Ist es auch wahr? Oh, sa­gen Sie mir die Wahr­heit, ich kann sie hö­ren. Sa­gen Sie sie mir. Je­der Schmerz ist we­ni­ger pei­ni­gend als die­se Un­ge­wiß­heit.«

      Ich ant­wor­te­te mit zwei Trä­nen, die mir der selt­sa­me Ton, mit dem ihre Wor­te ge­spro­chen wur­den, ab­preß­te.

      Sie stütz­te sich an einen Baum und stieß einen schwa­chen Schrei aus.

      »Gnä­di­ge Frau,« sag­te ich, »hier kommt Ihr Herr Ge­mahl!«

      »Habe ich denn einen Mann?«

      Nach die­sen Wor­ten floh sie da­von und ver­schwand.

      »Das Es­sen wird ja kalt!« rief der Graf. »Kom­men Sie, mein Herr.«

      Da­rauf­hin folg­te ich dem Haus­herrn, der mich in einen Spei­se­saal führ­te, wo die Mahl­zeit mit all dem Lu­xus ser­viert war, an den uns die Pa­ri­ser Ta­feln ge­wöhnt ha­ben. Es wa­ren fünf Ku­verts ge­deckt: die­je­ni­gen der bei­den Gat­ten und der klei­nen Toch­ter, das »mei­ni­ge«, das ei­gent­lich das »sei­ni­ge« sein soll­te, und das letz­te für einen Dom­herrn von Saint-De­nis, der, nach­dem er das Tisch­ge­bet ge­spro­chen hat­te, frag­te: »Wo ist denn uns­re lie­be Grä­fin?«

      »Oh, sie wird schon kom­men«, er­wi­der­te der Graf, der uns eif­rig die Sup­pe auf­tat und sich dann mit ei­ner sehr reich­li­chen Por­ti­on da­von ver­sorg­te, die er mit be­wun­de­rungs­wür­di­ger Schnel­lig­keit ver­tilg­te.

      »Ach, mein lie­ber Nef­fe,« rief der Dom­herr, »wenn dei­ne Frau zu­ge­gen wäre, wür­dest du ver­nünf­ti­ger sein.«

      »Papa wird krank wer­den,« sag­te das klei­ne Mäd­chen mit schlau­er Mie­ne.

      Gleich nach die­ser ei­gen­ar­ti­gen ga­stro­no­mi­schen Epi­so­de, ge­ra­de als der Graf ich weiß nicht wel­che Sor­te Wild­pret tran­chier­te, er­schi­en eine Kam­mer­frau und sag­te: »Herr Graf, die gnä­di­ge Frau ist nir­gends zu fin­den!«

      Auf die­se Wor­te hin er­hob ich mich so­fort, da ich ein Un­glück be­fürch­te­te, und mein Ge­sicht drück­te mei­ne Angst so deut­lich aus, daß der alte Dom­herr mir in den Gar­ten folg­te. Der Ehe­gat­te ging aus An­stand bis zur Schwel­le mit.

      »Blei­ben Sie doch, blei­ben Sie doch! Sie brau­chen sich gar nicht zu be­un­ru­hi­gen«, rief er uns nach.

      Aber er be­glei­te­te uns nicht. Der Dom­herr, die Kam­mer­frau und ich, wir durch­streif­ten die Wege und Ra­sen­flä­chen des Parks, wir rie­fen, wir horch­ten und wa­ren alle um so mehr in Sor­ge, als ich von dem Tode des jun­gen Vi­com­te be­rich­te­te. Wäh­rend wir lie­fen, er­zähl­te ich die nä­he­ren Um­stän­de des ver­häng­nis­vol­len Er­eig­nis­ses und be­merk­te da­bei, daß die Kam­mer­frau ganz au­ßer­or­dent­lich an ih­rer Her­rin hing; denn sie teil­te mei­ne ge­hei­me Angst viel mehr als der Dom­herr. Wir eil­ten zu den Was­ser­flä­chen, wir durch­such­ten al­les, ohne die Grä­fin zu fin­den und ohne auch nur die ge­rings­te Spur zu ent­de­cken, daß sie ir­gend­wo vor­bei­ge­kom­men war. End­lich, als wir an ei­ner Mau­er ent­lang gin­gen, hör­te ich ein dump­fes, ge­walt­sam er­stick­tes Stöh­nen, das aus ei­ner Art von Scheu­ne her­vor­zu­drin­gen schi­en. Auf alle Fäl­le trat ich hin­ein: da ent­deck­ten wir Ju­li­et­te, die, um ihre Verzweif­lung zu er­sti­cken, sich hier tief ins Heu ver­gra­ben hat­te. Ei­nem un­über­wind­li­chen Scham­ge­fühl ge­hor­chend, hat­te sie ih­ren Kopf ver­steckt, um ihre fürch­ter­li­chen Verzweif­lungs­schreie nicht laut wer­den zu las­sen; es war ein Stöh­nen, ein Kin­der­wei­nen, nur noch durch­drin­gen­der und jam­mer­vol­ler. Nichts schi­en mehr auf der Welt für sie zu exis­tie­ren. Die Kam­mer­frau mach­te ihre Her­rin von dem Heu frei, die al­les mit der kraft­lo­sen Gleich­gül­tig­keit ei­nes ster­ben­den Tiers mit sich ge­sche­hen ließ. Die Kam­mer­frau fand kei­ne an­dern Wor­te als im­mer zu wie­der­ho­len: »Ach bit­te, gnä­di­ge Frau, ach, bit­te …«

      Der alte Dom­herr frag­te: »Aber was ist ihr denn? Was fehlt dir denn, lie­be Nich­te?«

      End­lich ge­lang es mir, Ju­li­et­te mit Hil­fe der Kam­mer­frau in ihr Zim­mer zu brin­gen; ich emp­fahl, sorg­sam über sie zu wa­chen und al­len Leu­ten zu sa­gen, daß die Grä­fin Mi­grä­ne hät­te. Dann gin­gen der Dom­herr und ich wie­der in den Spei­se­saal hin­un­ter. Es war eine ziem­li­che Zeit ver­gan­gen, seit wir den Gra­fen ver­las­sen hat­ten, und ich dach­te erst wie­der an