trat sie durch die Tür, hinter deren Glasscheiben Licht leuchtete. Sie blickte mitten hinein in Ralphs Augen. Alles um sie begann sich zu drehen, und mit letzter Kraft suchte sie nach einem Halt. Doch da wurde sie schon von seinen starken Armen umfangen und wurde sich schnell bewußt, daß sie nicht an einer Halluzination litt.
Dr. Cornelius zog sich leise zurück, als Stefanie ihre Arme um Ralphs Hals warf.
»Oh, Ralph, es ist so schrecklich«, flüsterte sie.
Er streichelte ihr Haar. »Nun werden wir gemeinsam versuchen, damit fertig zu werden, Stefanie«, sagte er mit erstickter Stimme.
Sie hielten sich umklammert wie Ertrinkende, vergaßen Zeit und Raum. Doch sie dachten nicht an sich. Solchen Gedanken wollten sie keinen Raum geben.
»Du bist gleich gekommen«, sagte Stefanie, zu ihm aufblickend.
»Hast du etwas anderes erwartet?«
»Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es geschieht kein Wunder.«
»Und die Erde wird sich weiterdrehen, Stefanie. Auch unser Leben geht weiter. Warum wolltest du die Last allein tragen?«
»Was hätte ich tun können, als seine Wünsche zu erfüllen? Was hätte ich denn sonst für Peter tun können? Hätte ich ihn zurückstoßen sollen?«
»Du hättest es mir sagen können. Du hättest es mir sagen müssen, Stefanie. Er ist mein Bruder.«
»Für mich ist er auch wie ein Bruder, Ralph. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ich will nicht, daß ihm von dem winzigen bißchen Glück etwas genommen wird.«
»Ich werde ihm nichts nehmen, Stefanie. Aber er soll wissen, daß ich auch da bin, daß ich ihn liebe, daß ich bereit bin, alles für ihn zu tun.«
»Aber du kannst ihm so wenig helfen wie ich auch, Ralph.«
»Du hast ihm auf deine Art geholfen, und ich werde ihm auf meine Art helfen. Hättest du es lieber gesehen, ich würde an seinem Grab stehen und die Last mit mir herumschleppen, daß ich nichts mehr für ihn getan habe? Wir haben ein ganzes Leben gemeinsam verbracht, wie kurz sein Leben auch sein mag. Ich habe mit ihm gespielt und später mit ihm die Hausaufgaben gemacht. Es gab nie etwas, das zwischen uns stand.«
»Bis ich kam«, sagte Stefanie mit erstickter Stimme.
»Dafür kann ich nichts, und du auch nicht. Du solltest jetzt schlafen. Dr. Cornelius wird dir ein Schlafmittel geben.«
Trotz aller Anstrengung gehorchte ihm seine Stimme nicht.
In diesem Augenblick war die Liebe zu ihr und die Sorge um sie stärker als jedes andere Gefühl.
Er wollte sie in die Arme nehmen, doch sie drehte sich um und hastete wieder hinaus in die Nacht.
Ralph rief nach Dr. Cornelius, und als der in der Tür erschien, bat er: »Würden Sie sich bitte um Stefanie kümmern, Herr Doktor? Ich finde wohl nicht die richtigen Worte.«
*
Dr. Cornelius sah nur noch eine schattenhafte Gestalt zwischen den Bäumen verschwinden. Er folgte Stefanie auf gut Glück.
Auch wenn man die Insel genau kannte, brauchte man nicht immer den richtigen Weg gleich zu finden. Es gab wirklich viele Wege, ganz verschlungene Pfade, dichte Büsche und uralte Bäume. Es gab die Quelle der Liebe, die Jahrhunderte versiegt gewesen war und seit ein paar Jahren wieder munter sprudelte. Entdeckt worden war sie von Mario, Johannes und Anne Cornelius’ Adoptivsohn.
Aber da war auch der See, in den die Insel hineinragte, die mit dem Hinterland nur durch eine schmale Landzunge verbunden war.
Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde überkam Dr. Cornelius die Angst, daß Stefanie dorthin eilen würde.
Nein, sie war nicht der Mensch, der sich in Stunden der Verzweiflung aus dem Leben davonstehlen würde. Die Begegnung mit Ralph war es wohl, die sie restlos aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.
Dr. Cornelius blieb stehen und lauschte, ob er Schritte hören könne, aber es waren andere Laute, die an seine Ohren drangen. Ein schmerzliches, ersticktes Weinen, das ihm zu Herzen ging. Es kam von der Quelle her. Das leise Plätschern des Wassers mischte sich in dieses Weinen.
Leise, Schritt für Schritt, um kein Geräusch zu verursachen, trat er näher. Er gewahrte die Umrisse der Knienden und sah dann, wie sie das Quellwasser mit den Händen auffing und ihr Gesicht damit netzte.
Er trat noch näher an sie heran, griff nach ihrem Arm und zog sie sanft empor.
»Sie gehören jetzt ins Bett, Stefanie«, sagte er gütig. »Sie dürfen nicht auch noch krank werden.«
Wie eine Schlafwandlerin ging sie neben ihm her. Kein Wort kam über ihre Lippen.
»Ich bin so müde«, stammelte sie, als er sie zu ihrem Appartement begleitete, »so entsetzlich müde, und ich kann doch nicht schlafen.«
»Anne wird kommen und Ihnen etwas bringen«, sagte er. »Sie werden schlafen.«
Anne hatte indessen auf der bequemen Couch in Peters Zimmer ein Bett für Ralph gerichtet.
»Sie können nicht die ganze Nacht hier sitzen«, sagte sie, als er widersprach.
Peter merkte nichts von dem, was um ihn vorging. Seine Hand zu nehmen, hatte Ralph nicht gewagt. Er konnte nicht begreifen, daß diese wachsbleiche Hand Peter gehörte. Es tat ihm weh, ihn anzuschauen. Es war ein vertrautes und doch fremdes Gesicht, schon so entrückt in seiner Stille.
»Nehmen Sie ein paar Tropfen oder eine Tablette«, sagte Anne. »Ich habe alle auf das Tischchen gestellt. Und wenn etwas ist, läuten Sie. Wir hören es. Versuchen Sie zu schlafen, Herr Reinhold.«
Einige Minuten war er mit Peter allein. Er wagte kaum zu atmen, da auch Peters Atem noch ganz schwach zu vernehmen war.
Dann kam Dr. Cornelius herein. Er brachte ihm noch eine Karaffe Wasser. »Es ist ein besonderes Wasser«, erklärte er. »Von unserer Quelle. Es hat schon vielen geholfen.«
Peter nicht, dachte Ralph, aber als Dr. Cornelius dann auch gegangen war, trank er davon, erst ganz kleine Schlucke, dann gierig. Er streckte sich aus, sein Körper entspannte sich, der beengende Druck wich, seine Augen fielen zu.
Er wußte nicht, wie spät es war, als er träumte, daß Peter seinen Namen rief. Er schrak empor. Die matte Lampe brannte. Er sah Peter kerzengerade in seinem Bett sitzen. Er hatte nicht geträumt. Peter wiederholte seinen Namen mehrmals mit einer Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien.
Er sprang aus dem Bett und eilte die paar Schritte zu ihm. Peter blickte ihn mit starren Augen an. »Ralph, Ralph«, sagte er wieder.
»Ich bin da, Peter«, erwiderte er und drückte den Kranken sanft auf das Kissen zurück.
»Wir sind wieder beisammen. Es ist alles wie früher«, murmelte Peter.
»Es ist alles wie früher, kleiner Bruder«, sagte Ralph tiefbewegt. »Was kann ich für dich tun?«
»Stefanie, du mußt dich um Stefanie kümmern. Ich bin krank, Ralph. Vielleicht werde ich nie mehr gesund werden. Diesen Schmerz kann man nicht lange ertragen.«
»Hast du Schmerzen?« fragte Ralph.
»Jetzt nicht, aber sie kommen immer wieder. Ich kann nicht mit Stefanie spazierengehen. Es ist nicht nur der Arm wie bei Christopher. Aber bei ihm hat es auch sehr lange gedauert, bis er den Arm wieder bewegen konnte. Man muß einfach Geduld haben, viel Geduld, aber ich will einfach nicht, daß Stefanie sieht, wie schwach ich bin.« Kaum vernehmbar war seine Stimme, als er dann fortfuhr: »Ich vertraue sie dir an. Du mußt all das für sie tun, was ich ihr versprochen habe. Du wirst es tun, Ralph?«
»Ich werde alles tun, was du verlangst, Peter.«
»Ich liebe sie sehr. Niemand kann sie so lieben wie ich, aber du wirst ihr Freund bleiben, Ralph.«
»Ja, ich werde ihr Freund bleiben.«