Jakob Wassermann

Gesammelte historische Romane von Jakob Wassermann


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       In Ketten

       Inhaltsverzeichnis

      Indessen waren die Kolonie und alle mit ihr zusammenhängenden Unternehmungen in einen so üblen Ruf geraten, daß kein ehrlicher Mensch mehr willens war, in Indien ein fragwürdiges Glück zu suchen. Man verfiel also auf denselben Ausweg wie vor der ersten Reise und öffnete dem Admiral die Pforten der Zuchthäuser. Abermals sollte er unter Banditen und Dieben seine Wahl treffen, und er wußte doch schon, was damit seiner harrte; zudem wurde ein Generalpardon für alle Übeltäter erlassen, die sich der Strafe durch die Flucht entzogen hatten; wenn sie sich bereit erklärten, übers Meer zu gehen, sollten sie frei und ledig sein, nur Ketzer, Hochverräter, Brandstifter, Majestätsverbrecher, Falschmünzer und Sodomiter konnten der Amnestie nicht teilhaftig werden. Die sich zum Dienst anboten, waren immerhin noch schlimm genug, und von dieser Räude der europäischen Menschheit erwarteten die Majestäten und ihre geistlichen Minister allen Ernstes, daß sie »ihr Augenmerk vornehmlich auf die Bekehrung der Indios zum katholischen Glauben richten sollten«.

      Colón konnte sich, durfte sie nicht wehren. Er hatte weder das Volk auf seiner Seite noch den Hof noch den Klerus. Seine Sache war in heillosen Mißkredit gebracht, dafür hatten der Bischof Fonseca und seine Günstlinge gesorgt, zu deren geschäftigsten Antonio de Torres gehörte, der dem Admiral alles zu verdanken hatte. Die Absicht war, ihn in Hader mit den Beamten zu verstricken und gesellschaftlich zu isolieren. Nichts ging seinen geraden Weg, alles mußte erschlichen, errafft, erzwungen, mit unwürdigen Mitteln durchgedrückt werden. Die Abreise verzögerte sich von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, der Hauptgrund war, daß man dem Admiral zum Einkauf der Lebensmittel eine Taxe vorgeschrieben hatte, die die Beschaffung unmöglich machte, kein Kaufmann wollte zu dem behördlich fixierten Preis seine Ware liefern. Außerdem fehlte es an Bargeld; wenn er zu den gewährten kümmerlichen Summen einen Zuschuß verlangte, wurde ihm der höhnische Bescheid, er möge Gold in Indien prägen lassen. In letzter Stunde erschien der königliche Zahlmeister Ximeno de Breviasca, ein getaufter Jude, bei ihm, forderte in beleidigender Weise Rechenschaft über die Einkäufe, und als sich Columbus dessen weigerte, drohte er, die Abreise, die durch seine Umtriebe so lange nicht hatte stattfinden können, noch länger aufzuhalten. Da packte ihn der Admiral mit den Fäusten, schüttelte ihn, stieß ihn mit Fußtritten vom Schiff und rief ihm zu, falls ihm diese Quittung nicht genüge, könne er noch eine ausdrücklichere haben. Es war der Wutausbruch des zur Verzweiflung getriebenen Schwächlings, und was man am Starken bewundert oder hinnimmt, verzeiht man dem Schwächling nie. Der Vorfall, am Hof übertrieben geschildert, erregte dort großes Ärgernis und bereitete die Machenschaften vor, die den Admiral zu Fall brachten.

      Endlich konnten die Schiffe den Hafen verlassen. Vielen der Zuchthäusler, die ihre Bemannung ausmachten, wurden erst auf hoher See die Arm-und Beinfesseln abgenommen, und wennschon Columbus Gott danken mochte, daß er das gehaßte Europa und seine hassenswerte Menschheit wieder einmal hinter sich gelassen hatte, von diesem Schauspiel wird er wohl die Augen abgewendet haben, und es wird ihm angst und bang geworden sein, vor sich, vor seinem Dämon, vor seinem Werk.

      Was galt es noch zu tun? Worin bestand die tiefe Unrast? Was trieb ihn wieder und wieder auf die andere Seite des Erdballs? Weil es seine Welt war, ihm zu eigen, von ihm gefunden? Oder fühlte er, daß die Aufgabe nicht erfüllt, das Ziel nicht erreicht war? oder gar, daß er einer jener tragischen Betrogenen des Schicksals war, die das Ziel nicht sehen, auch wenn sie es mit Händen greifen? Wir dürfen ihm nicht mehr Erkenntnis zuschreiben als das Zeitalter den Menschen ermöglichte, und was von Instinkt in ihm war, hörte zu wirken auf, sobald seine Person ins Spiel kam. Er war ein Bild ohne Gnade, er wußte nichts von innerem Frieden, die ungeheure Tat, die er vollbracht, zeichnete ihn wie den Mörder die Schuld. Blind befuhr er die Meere, betrat er die jungfräulichen Länder, immer auf anderes sinnend als auf die Forderung der Stunde; keiner Gegenwart gewachsen, kein Antlitz wissend, keines Menschen Herz besitzend, dunkel in sich vergraben, landflüchtig und freudlos.

      Auf der Insel Cuba hatte er seine Leute schwören lassen, daß sie sich auf dem Festland befänden, und als er im Juli 1498 auf der Tierra di Gracia zum erstenmal den Fuß auf den amerikanische Kontinent setzte, leugnete er diese Tatsache rundweg ab und erklärte das Land für eine Insel. Seit er die transatlantischen Fahrten begonnen, war es seine Sehnsucht und sein geheimes Trachten gewesen, das Paradies zu finden, worin das erste Menschenpaar gelebt. Seine astrologischen und magischen Studien hatten ihn dazu geführt, es auf eine Insel im indischen Meer zu verlegen, es war eine theologische Konstruktion, jeder Anschauung fern, von lebendiger Phantasie nicht befruchtet. Kaum war er dort, an der Küste von Paria, gelandet, so verkündete er: Dies ist das Paradies des Alten Testaments, kein Einwand vermag in der Folge seinen Glauben zu erschüttern. Er hat es nicht betreten, er wagt es nicht, es ist zudem auf einem hohen Berg gelegen, aber auch dieser Umstand, neben der Süßigkeit der Luft und der üppig wuchernden Vegetation der umgebenden Landschaft, bestärkt ihn in seiner Überzeugung. »Denn die Erde ist nicht rund«, schreibt er in seinem Bericht, »sondern sie hat an der Stelle, wo Indien unter dem Äquator an den Ozean grenzt, eine steile Erhebung. Als unser Herrgott die Sonne schuf, stand sie aufgangsbereit am höchsten Punkt der Erde im äußersten Osten. Und dieser höchste Punkt, als der himmelnächste, muß auch der trefflichste sein. Obwohl nun Aristoteles behauptet, der Südpol sei der höchste Punkt, und andere Gelehrte wieder versichern, der Nordpol sei es, ist meine Ansicht dagegen, daß es der Äquator ist. Daran dachte keiner bis jetzt, was mich nicht wundert, da man, ehe Eure Hoheiten befahlen, diese Länder und Meere zu erforschen, nur eine sehr geringe Kunde von ihrer Beschaffenheit hatte.«

      Der bare Gallimathias. Aber er läßt nicht locker, mit der Konsequenz eines Wahnsinnigen verfolgt er den Gedanken weiter: »Das Paradies liegt an einem Ort, wohin niemand gelangen kann als durch den göttlichen Willen. Es hat die Form eines Berges, vielmehr, es befindet sich auf einem Gipfel, der dem Stielende einer Birne oder einem Ball mit der Warze einer Weiberbrust gleicht, und um diese Warze schwillt die Erde auf und nähert sich dem Himmel. Das sind sichere Anzeichen des Paradieses, die genau mit den Beschreibungen der Heiligen und der verständigen Gottgelehrten übereinstimmen.« Das Phänomen, daß der Orinoko bis weit hinaus in den Ozean das Salzwasser verdrängt, gibt ihm gewaltig zu schaffen; die einzige Erklärung, die er findet, ist die, daß der Fluß aus dem Paradies kommt und somit übernaürliche Eigenschaften besitzen muß: »Nachdem ich die Mündung verlassen hatte«, schreibt er, »wurde die Meeresströmung so stark, daß ich bei mäßigem Wind von der Frühmesse bis zum Abendgebet fünfundsechzig Meilen zurücklegte, woraus hervorgeht, daß man gegen Süden bergauf, gegen Norden aber bergab fährt.«

      Viel evidenter, dünkt mich, geht aus der Schlußfolgerung hervor, daß er nicht fähig war, eine Erfahrung zu machen und eine Beobachtung auf ihre natürliche Ursache zu prüfen. Der Überschwang des Entzückens, in den ihn die Tierra di Gracia versetzte, erhält eine eigentümliche Beleuchtung durch den Umstand, daß er während der ganzen Zeit seines Aufenthalts durch ein schweres Augenleiden am Sehen verhindert war. Er hätte sonst vielleicht nicht so viel gesehen. Die hektische Glut seines Willens macht alle seine Träume wahr und gibt jedem Wahn eine praktikable Gestalt.

      Man muß sich fragen, was ihn zu dem Entschluß getrieben hat, so weit nach Süden zu steuern, die ihm bekannten Meere zu verlassen und sich trotz seines Siechtums und seiner seelischen Niedergeschlagenheit neuerdings dem Ungewissen anzuvertrauen. Einer der Gründe liegt auf der Hand: Er wollte endlich das Festland von Asien und die wunderbare Insel Zipangu erreichen, das ursprüngliche Ziel; der andere ist in dem Aberglauben der Zeit zu suchen, daß dort, wo die Sonne am heißesten brennt, die größten Schätze der Erde an edlen Metallen, Perlen, Gewürzen und Spezereien sein müssen. Es gibt ein Gutachten eines gewissen Mossen Jaimen Ferrer, angesehenen Mineralogen und Steinschneiders, das die Hypothese mit scholastischer Gründlichkeit und Zitaten aus den Schriften Cäsars und der Apostel verficht. Der berühmte Peter Martyr, Zeitgenosse des Columbus, ruft den Seefahrern zu: »Gen Süd! Gen Süd! Wer Reichtümer finden will, darf nicht in die kalten Regionen des Nordens gehen.«

      Allein bei alledem ist es nichts Sagbares und Rationales, was diesen ahasverischen Menschen