Will Berthold

Ein Kerl wie Samt und Seide


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einen Gestellungsbefehl der deutschen Wehrmacht erhalten.«

      »Warum haben Sie ihn nicht in den Papierkorb geworfen?«

      »So einfach war das nun wirklich nicht; ich war dem Druck der deutschen Botschaft in Peru ausgesetzt. Außerdem hatte ich Angehörige in Deutschland und mußte befürchten, daß man auf sie zurückgreift.«

      »Sie sind also nicht unüberlegt nach Deutschland zurückgereist?«

      »Nein. Ich war unschlüssig. Ich hatte in Lima ein Mädchen, Tiny, eine amerikanische Studentin, Tochter eines Öl-Direktors.« Nach einer kurzen Pause setzte Maletta hinzu: »Tiny Rodgers. Sie wollte mich festhalten, und ich wollte auch bei ihr bleiben.«

      »Und warum sind Sie dann doch nicht in Lima geblieben?«

      »Die lufthansa hatte den Flugbetrieb nach Bolivien eingestellt.«

      Spoonwood erhob sich und lief im Raum hin und her, um seine Erregung zu bändigen, sein Adamsapfel fuhr Lift.

      Er blieb stehen: »Und Sie hatten damals auch einen amerikanischen Freund?«

      »Mehrere«, antwortete Maletta. »Aber besonders einen: Mike Freetown, Marcs jüngeren Bruder.«

      Der Captain nickte und setzte zum Tiefschlag an. »Und warum sagen Sie mir nicht«, versetzte der Investigator mit veränderter Stimme, »daß Ihnen Mike geraten hat, nach Deutschland zurückzufahren?«

      Maletta schwieg zornig.

      »Es war doch so?«

      »Sie glauben doch nicht, Captain Spoonwood, daß Mike, ein waschechter Amerikaner, ein Nazi-Sympathisant war?«

      »Das nicht, aber ein verdammter Narr – wie viele andere.«

      »Sollte ich das Ansehen eines Toten ankratzen, der für eine – Fehleinschätzung weiß Gott bezahlt hat –«

      »Es würde für Sie sprechen«, erwiderte der Captain, »und für Ihre Beurteilung.«

      »Ich spreche für mich selbst«, erwiderte der Vernommene arrogant.

      »Ich weiß, daß Sie nie mit Marc darüber gesprochen haben«, setzte der Clearing-Officer an, »aber Sie sollten etwas wissen, Mr. Maletta: Mike hat sich sehr bald danach Vorwürfe gemacht, daß er Sie, statt zurückzuhalten, auch noch beeinflußt hat, nach Berlin zurückzukehren. Je weiter der Krieg vorrückte, je schlimmer er wurde, desto mehr malträtierten ihn die Selbstvorwürfe. Er wollte, daß Sie es unbedingt erfahren. Er insistierte Marc, und Marc wurde zu einer Art Testamentsvollstrecker. Nunmehr wissen Sie Bescheid«, kam Spoonwood zum Ende: »Deshalb hat Sie Marc so rasch im Lazarett aufgestöbert. Deshalb stellt er Ihnen Möglichkeiten zu Ihrem privaten Rachefeldzug zur Verfügung. Und deshalb habe ich mich einen ganzen Nachmittag bis in den Abend hinein mit Ihnen unterhalten.« Er reichte Maletta die Hand. »Übrigens, Lisa Schöller arbeitet als Sekretärin bei der Münchener zeitung in der Schellingstraße«, verabschiedete er den Besucher. »Sie arbeitet heute bis einundzwanzig Uhr.«

      »Danke, Captain.«

      »Leider sind wir uns nicht in allem einig«, erwiderte Spoonwood, »aber ich gestehe, daß Sie der erste hier in diesem Office sind, der mir gefallen hat.«

      »Dann hoffe ich, daß noch einige nachkommen werden«, antwortete der Berliner. Er hatte es eilig, aber er merkte, daß ihm der Offizier noch etwas sagen wollte und noch mit sich zu kämpfen hatte. Er nickte ihm zu.

      Der Clearing-Officer überwand sein Zögern. »Unter Umständen kann demnächst eine Überraschung auf Sie zukommen«, erklärte er dann. »Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen.«

      »Eine Überraschung für mich?«

      »Ich muß dafür erst die Erlaubnis meiner Vorgesetzten Dienststelle einholen«, antwortete Spoonwood, »aber ich verspreche Ihnen, mich bei Major Tajana dafür einzusetzen.«

      Der unklare Sinn dieser Feststellung paßte nicht recht zu dem Clearing-Officer, aber vielleicht war der Mann auch viel mehr. Nicht nur das wurde Maletta klar, als er von der Tegernseer Landstraße nach Schwabing fuhr. Nachdenklich fragte er sich: Wer hat Captain Spoonwood informiert? Was hat er mit Marc Freetown zu tun? Nur von ihm konnte er erfahren haben, was damals in Lima vorgegangen war. Der Mann war für die Tätigkeit eines Fragebogen-Auswerters viel zu hintergründig.

      Bislang hatte Maletta angenommen, daß er die Militär-Regierung durch seine privaten Beziehungen ausnützen würde. Jetzt kam er sich vor wie ein lebender Köder-Fisch an der Angel. Er überquerte den Stachus, mußte halten, weil vor ihm eine Straßenbahn aus der Schiene gesprungen war. An den Türen hingen Menschentrauben wie Bienenschwärme. Frauen, Kinder; schon optisch drückte sich im Straßenbild der krasse Frauenüberschuß aus: 1,9 Millionen Deutsche waren gefallen, 1,7 Millionen wurden vermißt – was praktisch auf dasselbe herauskam – 1,6 Millionen waren als Kriegsversehrte zurückgekommen und über elf Millionen deutsche Kriegsgefangene befanden sich beim Zusammenbruch hinter Stacheldraht.

      Endlich hatte sich Maletta mit dem Jeep bis zum Obelisk durchgequält. Er kannte sich in München aus, aber München war eine Trümmerlandschaft. Er mußte mehrmals anhalten, um sich in dem Ruinengewirr zu orientieren. Unter den Schutthalden lagen noch Tote, die nie mehr geborgen würden. Oft standen nur noch die rauchgeschwärzten Fassaden; ihre leeren Fensterhöhlen sahen aus wie ausgestochene Augen. Fast 1,5 Millionen Einsätze hatten die alliierten Bombenflugzeuge während des Krieges auf deutsche Städte geflogen. Experten stritten sich, ob die Deutschen 16, 20 oder 30 Jahre brauchen würden, um das Vernichtungswerk abzutragen.

      Auf einem riesigen Trümmerhaufen stand ein handgemaltes Schild: Plündern Verboten. Aber hier gab es schon lange nichts mehr zu holen, nicht einmal mehr Brennholz oder Nägel. Wenn sich trotzdem einer als Goldgräber der Schuttberge betätigte, hielt man ihn eher für einen Narren als für einen Dieb. Selbst der Kölner Kardinal Frings zeigte einiges Verständnis und erteilte, als die hungernde Bevölkerung aus der Not heraus Kohlen-Waggons stürmte, eine Art Plünderungs-Dispens. Die Rheinländer sagten seitdem, wenn sie auf Organisationsfahrt gingen: »Geh’n wir fringsen.« Ganz Deutschland ›fringste‹ sich durchs kümmerliche Leben, die Hausfrauen und die Großväter, die Kinder und die Nachbarn, wenn sie auch nicht alle so erfolgreich ›fringsten‹ wie die ›Fräuleins‹.

      Maletta hatte die Barer Straße erreicht, überquerte die Gabelsberger- und bog in die Schellingstraße ein – und jetzt fragte er sich nur noch, wie Lisa sein unverhofftes Auftauchen aufnehmen würde.

      Maletta überwand den Portier, setzte sich bei einer deutschen Empfangsdame durch, die sich amerikanischer aufführte als sämtliche Amerikaner im Hause zusammen – nicht grundlos verspottete man das Military Government auch als Mistress-Government; schließlich bequemte sie sich doch zu einer Besuchserlaubnis im Vorraum der Redaktion.

      Ein paar Minuten später kam Lisa.

      Blond, adrett, höflich-distanziert, ein Gesicht, ein Lächeln, das kein Lächeln war. Erst im letzten Moment erkannte sie den Besucher. Es war zu viel für die Sekunde der Wiederbegegnung, aber sie stand es durch.

      »Du?« sagte sie ungläubig. Ihre Stimme klang verschüttet. »Du lebst, Peter?«

      »Wir leben«, erwiderte Maletta.

      Sie stand vor ihm, mit klammen Armen.

      Ihre Augen waren naß von ungeweinten Tränen.

      Im ersten Moment hatten sie beide eine Entfremdung gespürt, als seien sie sich nicht nach 16 Monaten, sondern erst nach 16 Jahren plötzlich wieder begegnet. Maletta wollte es vor dem Mädchen und Lisa vor dem Mann verbergen, aber beide hatten kein Talent zur Verstellung und zudem kannten sie sich zu gut: Weil sie sich sehr nahe gestanden hatten, waren sie einander fremd geworden. Ihre Vergangenheit war zugewachsen wie ein verwilderter Gartenpfad.

      »Verzeih, Peter«, sagte das Mädchen. »Aber dein Auftauchen hat mich einfach aus den Pantinen geworfen. Du kannst dir ja vorstellen, wie sehr ich mich freue, dich zu –« Sie sah auf die Uhr: »Es gibt zwei Möglichkeiten.« Die Blondine mit den klaren Augen