Will Berthold

Ein Kerl wie Samt und Seide


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ich schon auf dich gewartet habe, Lisa?« sagte der Mann und lächelte, leicht verkrampft. »Weißt du, was aus den anderen geworden ist?«

      »Nicht viel«, wehrte Lisa ab. »Wenn du willst, bring’ ich dich in die Kantine«, setzte sie hinzu. Ihre Haltung war bewundernswert, sie wirkte frisch und appetitlich. Ihr flächiges Gesicht, dem die Monate des Wahnsinns nichts hatten anhaben können, wurde von den großen, grünen Augen beherrscht, Im Zirkus Maletta war sie eine Steptänzerin gewesen, aus Hobby, nicht professionell.

      Die Münchener Zeitung, bei der Lisa arbeitete, ein deutschsprachiges, von der Militärregierung herausgegebenes Blatt, stand vor ihrer Umbenennung in Neue Zeitung; sie hatte das überbreite Format von ihrem Vorgänger, dem Völkischen Beobachter, übernommen, der offiziellen Zeitung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Auf den Redaktionsstühlen, die bis vor zwei Monaten noch stramme Nazis innegehabt hatten, saßen jetzt deutsche Emigranten in US-Uniform und ihre deutschen Helfer in umgeänderter Wehrmachtsmontur. Bis zum Frühling dieses Jahres hatten die braunen Skribenten das Heldentum beschworen und unter Hinweis auf die Wunderwaffen bis zum letzten Tag behauptet, die militärische Lage sei noch zu wenden, wenn alle bis ›zum letzten Atemzug‹ durchhielten; ihren olivgrünen Nachfolgern stellte sich jetzt die Aufgabe, das Ausmaß des Konkurses den Lesern darzustellen und sie trotzdem an einer Massenexplosion der Verzweiflung zu hindern.

      »Hier«, sagte Lisa und steckte ihrem Begleiter einen roten Essensbon zu. »Darauf bekommst du ein Abendessen, recht schmackhaft, und ich – ich brauch’s wirklich nicht.«

      Es war traurig und rührend zugleich.

      Der Mann, der aus dem Dunkel kam, fragte sich, ob er so hungrig aussähe. Physisch gesehen war er satt, aber er hatte den Wahnappetit eines Kannibalen auf einen Mann namens Machoff.

      »Bis bald«, sagte Lisa und nickte ihm zu.

      Sie hatte sich nicht verändert und wirkte doch ganz anders. Vielleicht lag es auch an ihm, vielleicht hatte er sich verändert. Aber wer könnte den Mühlen der Zeit unversehrt entkommen?

      Er sah die Essenmarke an und stellte fest, daß sie an jedem beliebigen Tag verwendbar war. Er schob sie ein, um sie Lisa zurückzugeben, die jetzt vermutlich für ihn hungerte. Er könnte dafür sorgen, daß sie satt würde und sie sich bald wieder so unbefangen gegenüberstünden wie vor einer Steinzeit von 16 Monaten.

      In der Schlange vor dem Essenschalter erkannte Peter Maletta den bekannten Poeten, geduldig zwischen einem Rotationsarbeiter und einem Redaktionsboten wartend, einen kleinen Flirt mit einer unwirschen Essenausgeberin riskierend, für die ein Erich Kästner nichts anderes war als einer dieser Hungerleider, die nie den Teller voll genug bekommen. In einer Zeit, da man in Deutschland für eine Ami-Zigarette fast einen Tag lang arbeiten mußte, konnte man für einen Klatsch Gemüse und eine Scheibe Spam den Dichter von zum Beispiel: »Wenn wir den Krieg gewonnen hätten …« als exzellenten Mitarbeiter der Kultur-Redaktion für ein Maisbrot gewinnen.

      Gegen 20 Uhr 30 war Lisa wieder in der Kantine erschienen und hatte Maletta mit den Augen gewinkt.

      »Hat’s geschmeckt?« fragte sie.

      »Ausgezeichnet«, erwiderte er und gab Lisa den Bon zurück. »Das reinste Drei-Sterne-Lokal.«

      »Aber«, stotterte sie, »du solltest doch – vielleicht –«

      »Ich hab’ keinen Hunger, Lisa, und auch keinen Appetit«, entgegnete er. »Es geht mir gut. Viel zu gut. Manchmal schäme ich mich dafür.«

      Sie hatten die Schellingstraße erreicht.

      »Bist du schon lange in München?« fragte Lisa.

      »Zehn Tage«, erwiderte er.

      »Da hast du mich aber schnell gefunden.«

      »Ich hatte ja auch nichts anderes zu tun«, behauptete Maletta und deutete auf den Jeep vor dem Haus.

      »Du scheinst es wirklich schon wieder weit gebracht zu haben«, sagte Lisa lächelnd und stieg ein.

      »Aber ich bin kein Schwarzhändler«, bemerkte er.

      Lisa wurde ernsthaft: »Und du bist auch kein Filou mehr?«

      »Ich glaub’ nicht«, antwortete Maletta. »Tempi passati.«

      »Wie bist du auf mich gestoßen?«

      »Über deine Tante, über ICD und über einen Clearing-Officer der Militär-Regierung«, erklärte Maletta und drehte den Zündschlüssel um.

      »Wohin?« fragte er und sah Lisa an.

      »Schwierig«, erwiderte sie. »Ich wohne mit drei anderen zusammen in einer Keller-Ruine, in der das Wasser steht.«

      »Dann zu mir«, entschied Peter. »Da steht kein Wasser.« Er gab keine weiteren Erklärungen und Lisa stellte keine Fragen, auch nicht, als sie durch den gepflegten Vorgarten zu der Wohnung über der Garage gingen. »Zigarette?« fragte er und streckte ihr ein Päckchen Chesterfield hin.

      »Danke«, entgegnete Lisa. »Ich hab’ mir inzwischen das Rauchen abgewöhnt.«

      »Aber einen Schnaps trinken wir doch zusammen.«

      »Auch nicht so gerne«, wehrte sie ab. »Oder haben wir das nötig?«

      »Du sicher nicht«, erwiderte Maletta grinsend, »aber vielleicht ich.« Er schenkte sich einen halben Bourbon ein, nippte dann aber nur am Glas. »Ich bin der deutsche Fahrer des US-Captains Freetown«, erklärte er dann. »Wie du siehst, habe ich es ziemlich weit gebracht.«

      »Ich auch«, ging sie auf seinen Ton ein. »Ich arbeite jetzt als Sekretärin, und manchmal läßt man mich sogar kleine Nachrichten selbständig formulieren. Nicht viel, aber immerhin.«

      »Ganz schöne Karriere für eine gelernte Granatendreherin aus dem Arbeitslager«, erwiderte Maletta.

      »Das weißt du?«

      »Ich weiß einiges«, antwortete er. »Übrigens habe ich auch deinen Vater aufgespürt.«

      »Ich habe keinen Vater mehr«, entgegnete Lisa.

      »Das beruht auf Gegenseitigkeit«, versetzte Maletta. »Er hat mir gesagt, daß er seine Tochter nicht mehr kennt.«

      »Dann ist ja alles bestens geregelt«, antwortete die junge Frau mit einem unlauteren Lächeln.

      Die Ehe ihrer Eltern war zerrüttet gewesen; das kommt häufig vor, und daraus zieht man normalerweise die Konsequenzen, aber der Hoheitsträger und Günstling des NS-Staates hatte gefürchtet, eine Scheidung könnte seine Karriere schädigen – die Moral der Mörder war auch eine Moral der Spießer. Horst Schöller hatte, mit einer anderen Frau zusammenlebend, Lisas herzkranke Mutter bis zuletzt drangsaliert. Nach der Denunziation von Lisas Freund hatte sie sein Haus für immer verlassen und war kurze Zeit später gestorben.

      »Könnte ich jetzt vielleicht doch einen kleinen Schnaps haben«, fragte sie.

      Maletta goß ihr einen Bourbon ein.

      »Du weißt ja schon von damals, daß ich mit dem Vize-Stabschef nie mehr etwas zu tun haben wollte und – zu diesem Zeitpunkt hatte er seine letzte Gemeinheit noch längst nicht abgezogen.«

      »Ja«, erwiderte Maletta. »Wir haben oft über ihn gesprochen und du hast mir viel erzählt.« Er sah sie an. »Leider haben wir nie darüber gesprochen, daß er Günter Machoff kannte, und zwar sehr gut.«

      »Der Vizechef kannte mehrere Männer vom Reichssicherheitshauptamt«, entgegnete Lisa. »Er war ja selbst auch SS-Sturmbannführer. Von dieser Sorte sind bei uns so viele verkehrt, daß ich die Namen wirklich nicht alle behalten konnte. Machoff war nur einer von vielen. Und ich wußte ja nicht, daß du schon einmal einen Schlagabtausch mit diesem Schwein gehabt hattest.«

      »Und ob«, erwiderte Maletta. »In gewisser Hinsicht war ich sogar daran schuld, daß er noch lebte.« Sein Mund platzte auseinander. »Komisch, was?«

      »Allerdings«,