Ursula Hochuli Freund

Kooperative Prozessgestaltung in der Sozialen Arbeit


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ihr Leben in der Gesellschaft gelingend zu gestalten, haben aber gleichzeitig darauf zu achten, dass durch die Hilfeleitung keine Kompetenzen beschnitten oder unterlaufen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Menschen Lebensführungskompetenzen zu entwickeln haben, die sie auch schwierige Situationen und Notlagen meistern lassen. Der Erwerb dieser Kompetenzen setzt Lernprozesse voraus, die durch institutionelle Hilfestellungen eines Staates zu unterstützen sind. Deshalb gilt nach dem Subsidiaritätsprinzip unter dem Stichwort »Hilfe zur Selbsthilfe« nicht nur, Individuen nachsorgend zu unterstützen, sondern vorsorgende Maßnahmen vorzusehen. Nach Naegle besteht die Hilfeverpflichtung des Staates sogar stärker in seiner Vorleistungsverpflichtung, die Voraussetzungen schafft, dass sich Selbsthilfekompetenzen (nebst freiwilligem sozialen Engagement) entwickeln können, was z. B. in der Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit deutlich zum Ausdruck kommt (vgl. 1983:44).

      4.1.4 Verantwortungsethik

      In der Ethik der Sozialen Arbeit geht es um Selbstaufklärung: Vorgefundene Normen und Werte werden reflektiert, um zu einem vertiefteren Verständnis zu gelangen, was z. B. ›richtiges‹ Handeln in der Sozialen Arbeit ausmacht (vgl. Martin 2007:21). Schluchter schlägt vor, Professionsethik als Verantwortungsethik aufzufassen, die versucht unter Berücksichtigung situativer Gegebenheiten einen spannungsreichen Ausgleich zwischen der Orientierung an Grundwerten und der Effizienz des Handelns herzustellen (vgl. 1980:37). Damit sind Professionelle herausgefordert, alle möglichen Konsequenzen ihres Tuns im Voraus sorgfältig abzuwägen, aber auch, wie Eisenmann unterstreicht, ihre guten Absichten zu berücksichtigen, wie dies beispielsweise auch vor Gericht geschieht (vgl. 2006:99 f.). Welche Ebenen hat nun eine verantwortungsethische Reflexion zu berücksichtigen, die professionelles Handeln leiten soll? Nach Heiner umfasst eine solche Ethik die Wahrnehmung der Verantwortung gegenüber

      • den Klientinnen unter Achtung der Menschenwürde und des entworfenen Menschenbildes,

      • der Gesellschaft im Sinne der Achtung des Gemeinwohls und der sozialen Gerechtigkeit,

      • dem Anstellungsträger und der eigenen Organisation in der Einhaltung von Vereinbarungen und von Qualitätssicherung und -entwicklung,

      • den Professionellen in der Achtung der beruflichen Sorgfalt und der Zusammenarbeit,

      • der Profession im Sinne der Weiterentwicklung und der Orientierung an fachlichen Standards,

      • der eigenen Person hinsichtlich beruflicher Identität, Leistungsfähigkeit und Fortbildung (vgl. 2010:174).

      Aus dieser Darstellung wird ersichtlich, dass Professionelle in ihrem Arbeitsfeld mit unterschiedlichen, teils konfligierenden, möglicherweise auch widersprüchlichen Interessen konfrontiert sind, die zu einer steten kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle verpflichten. Zwangsweise ergeben sich im beruflichen Alltag immer wieder ethische Dilemmatasituationen, die zu Rollenkonflikten (moralische Konflikte) führen, die von den Sozialarbeiterinnen konstruktiv anzugehen und zu lösen sind, oftmals im Sinne von ausgehandelten Kompromisslösungen, in die alle Beteiligten einwilligen. Um diese Konflikte gelingend angehen und bewältigen zu können, sind Sozialarbeiterinnen darauf angewiesen, sich auf ein gesichertes professionelles Selbstverständnis abstützen zu können, das ihnen Orientierung und Halt zu geben vermag. Dieses Selbstverständnis stützt sich auf grundlegende Zielsetzungen ab (wie z. B. größtmögliche Lebensautonomie der Klienten oder die bereits erwähnten Grundwerte, image Kap. 4.1.2). Diese Leitwerte sind zwar historisch hergeleitet und damit soziokulturell verankert, aber dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen und deshalb situativ und individuell stets zu überprüfen und den Gegebenheiten anzupassen.

      4.1.5 Professionsmoralische Grundhaltungen und Care-Ethik

      Handlungsleitend sind, wie wir aufzeigen konnten, sowohl übergreifende Zielsetzungen der Sozialen Arbeit wie auch grundlegende ethische Normen und Werte. Auf der Ebene des Handelns mit einzelnen Klientinnen(gruppen) orientieren sich Sozialarbeiterinnen zwar daran, aber die Grundwerte geben noch keine Antwort, wie Professionelle Menschen begegnen, mit ihnen eine Arbeitsbeziehung gestalten oder Ressourcen in einem Sozialraum erschließen sollen. Wie ausgeführt (image Kap. 4.1.3), ist von der körperlichen und psychischen Verletzlichkeit aller Menschen und ihrer potentiellen Hilfebedürftigkeit (Brumlik 2004) auszugehen wie auch davon, dass Beziehungen zwischen Professionellen und Klientinnen der Sozialen Arbeit asymmetrisch sind (image Kap. 3.2.4). Hier erweisen sich Positionen der Care-Ethik als sehr hilfreich, die »wechselseitige Hilfe und Aufmerksamkeit für Andere, Verantwortung und Wertschätzung des In-Bezug-Seins« (Grossmass 2006:9) ins Zentrum rücken. Die Wechselseitigkeit meint ein generelles Bezogensein auf Andere, das in Achtung der Menschenwürde dafür sorgt, dass jeder Mensch sofern nötig Hilfe bekommt und es als selbstverständlich erachtet, den möglichen Unterstützungs- oder Vernetzungsbedarf individuell genau zu ermitteln. Care-ethische Positionen gehen davon aus, dass der wichtigste moralische Aspekt der helfenden Interaktion im Ausbalancieren der zu Grunde liegenden Asymmetrie besteht (vgl. ebd.:10). Da professionelles Handeln in der Praxis oft intuitiv durch Verknüpfung von Wahrnehmung, Erfahrungswissen, Bewertung, Befindlichkeit, Situation und Handlungsimpuls geschieht und die Gefahr von Stereotypenbildungen und einseitigen Bewertungen in sich birgt, ist eine ethische Reflexion in jeder Phase des Hilfeprozesses nötig, so Tronto (vgl. 1993:106 ff.).

      Im Folgenden sollen drei Grundhaltungen dargestellt werden, die aus professionsethischer Sicht als Grundmuster sozialarbeiterischen Handelns betrachtet werden können.

      Haltung der Aufmerksamkeit

      Es ist davon auszugehen, dass viele Klientinnen der Sozialen Arbeit neben ihrer prekären Lebenslage und Notsituation und/oder (Lebens-)Krise fundamentale Erfahrungen in verschiedenster Hinsicht mit Missachtung gemacht haben: Missachtung ihrer Grundbedürfnisse, Missachtung ihrer Bemühungen, das eigene Leben trotz widrigsten Umständen selbstverantwortlich zu meistern, verweigerte Anerkennung dazu zu gehören, Teil einer Gemeinschaft zu sein etc. Solche Erfahrungen verweigerter Teilhabe und Anerkennung führen bei vielen Menschen zu einer tief sitzenden Scham, die sich lähmend auf die eigene Motivation auswirken und bis zu einer generellen Perspektivlosigkeit führen kann (vgl. Honneth 1992:219). Wie es auch Thiersch (1995) ausdrückt, wollen Menschen in ihrem Sosein, in ihren Bemühungen den eigenen Alltag zu meistern, ernst genommen werden. Dazu ist eine Haltung der Aufmerksamkeit gefragt, »eine Aufmerksamkeit, die durch eine würdevolle Behandlung das Ringen des Adressaten um Anerkennung um seiner selbst willen Beachtung schenkt« (Lob-Hüdepohl 2007:139). Ethisch reflektiertes Handeln verlangt eine aufmerksame Grundhaltung, die einerseits die Bedürftigkeit und Verletzlichkeit der Klientin beachtet, sie aber auch in ihrer Andersartigkeit und ihrem Anderssein respektiert. Aufmerksam sein bedeutet auch kritisch hinzuschauen, wo die Klientin Mißachtungserfahrungen ausklammert, verstärkt oder mit verursacht.

      Haltung der Achtsamkeit

      Auch wenn man sagen könnte, dass die erste Sozialarbeiterin aus Mitleid handelte im Sinne einer mitfühlenden Wahrnehmung von Empathie oder von »compassion« (Haker 2001:441), ist der Begriff ›Mitleid‹ zu Recht oder Unrecht in Verruf geraten, weil zwischen dem Mitleidenden und Bemitleideten unmerklich eine hierarchisierende Distanz geschaffen werden kann, die den Hilfeprozess eher lähmt, und weil der Begriff eher eine Haltung der Defizitorientierung unterstützt. Lob-Hüdepohl schlägt als Alternative den Begriff der Achtsamkeit vor, der den Blick trotz z. T. sehr einschränkenden Ausstattungsproblemen auf die Ressourcen zu richten hilft. Achtsamkeit verhindert, dass Sozialpädagoginnen Klienten nicht auf das äußere Bild reduzieren (wie z. B. als Hilfebedürftige, als Abweichende), sondern ermöglicht ihnen, offen zu sein für das, was Klienten auch unerwartet einbringen, für ihre