entspannen. Die vergangenen Wochen waren derart hektisch gewesen, dass ich kaum Zeit und Gelegenheit gefunden hatte, innerlich zur Ruhe zu kommen und das Ganze zu verdauen.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nicht, dass der ganze Rummel um mein Buch und auch um meine Person nach dem Abend im Schweizer Fernsehen noch einmal stark zunehmen würde. Bevor ich aber weiter von diesen Erlebnissen berichte, möchte ich erst den Menschen vorstellen, der mir in all diesen Erlebnissen am nächsten stand.
1 Offenbarung 3,16
2 Schweizerdeutsches Wort für mogeln oder schwindeln
3 Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartment
2. Sophie taucht auf
Am 18. Mai 1951 wurde Sophie Blees geboren. Die Geburt war zu früh und das kleine Mädchen wog gerade 1‘200 Gramm. Deshalb wurde sie in eine Isolette gelegt und behutsam gehegt und gepflegt. Dass sie heute lebt, ist alles andere als selbstverständlich, ihr Start ins Leben war jedenfalls eine Gratwanderung zwischen Leben und Tod.
Sophies Mutter stammte aus dem ländlichen Trubschachen im Emmental, wo sie in einer grossen Familie aufwuchs. Sophie hatte zwar keine Geschwister – ihr älterer Bruder starb kurz nach der Geburt – dafür aber zahlreiche Cousinen und Cousins. Die Grossfamilie war so etwas wie eine Dynastie in einer strengen christlichen Gemeinde. Dort wurde ein klarer Verhaltenskodex gelehrt, den einzuhalten wichtig war, um ein anerkannter Teil der Gemeinschaft zu sein.
Als kleine Familie lebten sie an verschiedenen Orten am Thunersee. Eine sehr schöne Gegend. Sonntags legten sie den mehr als einstündigen Weg zu ihrer Gemeinde zurück, einer Gemeinde, die sich anderen Kirchen überlegen fühlte. Sie glaubten fest, dass sie im Besitz der Wahrheit waren. Jede abweichende Meinung wurde als Irrtum abgetan. Es war unvorstellbar, diese Gemeinde zu verlassen und sich einer anderen Gemeinschaft anzuschliessen. Dazu kam, dass aus Mutters Verwandtschaft viele prägende Leiter der Gemeinde hervorgegangen waren.
Was Sophie in dieser Gemeinde sehr prägte, war der starke Druck, sich den Vorgaben anzupassen. Obwohl es nie so ausgesprochen wurde, stand doch klar im Raum: «Verhalte dich so, wie wir sagen, und du gehörst zu uns.» Regelverstösse, egal wie belanglos diese auch sein mochten, hatten unmittelbar einen grossen Verlust an Gunst zur Folge. Für Sophie war ganz klar: «Wenn ich mich korrekt verhalte, bin ich von Gott geliebt – falls ich Fehler mache, stösst er mich weg.» Und diese Fehler bestanden primär darin, den Vorgaben anderer Leute nicht tadellos nachzukommen.
Die Familie ihres Vaters war Sophie völlig unbekannt. Ihr wurde gesagt, seine Eltern seien während des Zweiten Weltkriegs umgekommen. Irgendwann erfuhr Sophie, dass ihr Vater ein uneheliches Kind war und bei einer Pflegefamilie in Basel aufwuchs. Diese wenigen Informationen waren eigentlich schon alles, was sie über die Herkunftsfamilie ihres Vaters wusste. Einen Verwandten väterlicherseits hatte sie nie kennengelernt.
Es war klar, dass sich Sophies Vater nach echter Zugehörigkeit sehnte. Eine Sehnsucht, die wahrscheinlich nie gestillt wurde. Er blieb wurzellos. Heute glaubt Sophie, dass ihr Vater ein Leben lang auf der Suche nach Familie und tiefer Zugehörigkeit war – selbst dann noch, als er selbst eine Familie hatte. Es schien, als würde er in der Gemeinde, am Arbeitsplatz und auch in der Familie irgendwie nicht so ganz dazugehören. Er bemühte sich ernsthaft und an seinem Verhalten war wirklich nichts auszusetzen, doch irgendwie blieb er eine einsame Person. Das Lebensgefühl des Entwurzelt-Seins und mangelndes Gefühl von Zugehörigkeit bestimmten auch Sophies Leben. Sie schien das Lebensgefühl ihres Vaters geerbt zu haben.
Ihre eigene Kindheit beschreibt Sophie als schöne und unbeschwerte Zeit. Sie wurde geliebt und verspürte Lebensfreude. Schon früh wurde sie musikalisch gefördert. Ihre Mutter weckte in ihr auch eine Liebe für die Literatur. Bücher sollten sie ihr Leben lang begleiten. Sie war fest überzeugt, in eine privilegierte Familie hineingeboren zu sein. Als Einzelkind wurde sie nach Strich und Faden verwöhnt. Sie fühlte sich als Prinzessin und genoss so manche Privilegien. Mithilfe im Haushalt wurde von ihr nicht verlangt und auch sonst entbanden ihre Eltern sie von unangenehmen Verantwortungen.
Während ihrer Teenagerzeit zog die Familie ins Emmental, wo ihr Vater eine gute Anstellung als Verwalter in einem Bundesbetrieb gefunden hatte. Eigentlich hätte sie mit dem Zug zur Schule fahren müssen, aber ihr Vater empfand dies als eine zu grosse Zumutung. Soweit möglich fuhr er sie zur Schule. Und wenn er verhindert war, schickte er einen seiner Angestellten, um Sophie den benötigten Taxidienst zu leisten. Oft nahm er sie mit an seinen Arbeitsplatz, wo er ihr viele Dinge zeigte und sie ihm behilflich sein durfte. Bis heute sind das für Sophie schöne Erinnerungen geblieben.
Sophie wünschte sich, Lehrerin zu werden, und besuchte nach der Schulzeit das Lehrerseminar. Ihre schulischen Leistungen waren schon immer einwandfrei gewesen und sie glänzte auch am Seminar. Es war ihr ein grosses Anliegen, alles perfekt zu machen. Niemand sollte jemals ihre Leistungen bemängeln können. Das Muster zog sich durch ihr ganzes Leben: Sie glaubte, perfekt sein zu müssen, um die Anerkennung der Menschen zu gewinnen, und fürchtete, abgelehnt zu werden, wenn sie die Erwartungen anderer nicht erfüllte. So war es in ihrer Gemeinde, in der Familie und auch in der Ausbildung.
Trotz den sonntäglichen Gottesdienstbesuchen war Sophie nie klar geworden, dass eine echte, lebendige Beziehung mit einem liebenden und barmherzigen Gott möglich war. Ein Verständnis von Gottes bedingungsloser Annahme hatte sie nicht. Stattdessen verinnerlichte sie die elitäre Haltung ihrer Gemeinde. Sie glaubte, durch die Zugehörigkeit dieser Gruppe im Besitz der Wahrheit und anderen Menschen damit überlegen zu sein. Stolz liess in ihrer jungen Seele tiefe Wurzeln wachsen.
Während sich Sophie mit ganzem Einsatz für gute Noten am Lehrerseminar einsetzte, wurde ihr Vater krank. Es war eine psychische Erkrankung. Bis heute ist sich Sophie nicht ganz sicher, was die Ursache davon war. In der Familie sprachen sie nicht darüber.
Doch dann war er plötzlich da; der Tag, der Sophies Leben in ein Vorher und Nachher teilte. Es war der 5. Februar 1970. Das war der Tag, an dem sich Sophies Vater das Leben nahm.
Es war ein Schock – sowohl für Sophie wie auch für deren Mutter.
In der Folge klammerten sich Mutter und Tochter stark aneinander. Über Trauer und Verlust sprachen sie aber nicht. Irgendwie mussten sie funktionieren. Sophie war am Ende des dritten Jahres am Seminar und hatte noch ein weiteres Jahr vor sich. Emotionale Krisen konnte sie sich nicht leisten – so dachte sie zumindest.
Verdrängen war schon immer eine stark ausgeprägte Eigenschaft der Familie gewesen. Dinge wurden nicht ausdiskutiert. Insbesondere Unangenehmes wurde einfach ignoriert. Für sie als elitär denkende Menschen war es äusserst unangenehm, die eigene Fehlerhaftigkeit einzugestehen. Es schien einfacher, Negatives totzuschweigen.
Doch der Suizid des Vaters nagte sehr an Sophie. Insgeheim gab sie sich selbst die Schuld dafür. Sie selbst hatte es schön gehabt und ihr Vater war gut zu ihr gewesen. Es musste einfach an ihr gelegen haben. Sie verdrängte solche Gedanken, und mit jemandem darüber zu sprechen, lag weit ausserhalb des Vorstellbaren.
Da sie in einer Dienstwohnung lebten, mussten sie nach dem Tod des Vaters ausziehen. Sie zogen nach Bern, wo sie versuchten sich gegenseitig zu stützen. Sophie machte den Einkauf und putzte die Wohnung, während sich die Mutter um alles andere kümmerte.
Kurz nach dem Umzug erkrankte die Mutter an Diabetes und hatte daraufhin noch drei Herzinfarkte. Es war offensichtlich, dass es schlecht um ihre Gesundheit stand. Doch auch darüber sprachen die beiden nicht. Stattdessen investierte Sophie alle Kraft in ihr letztes Ausbildungsjahr. Das schien ihr Wert und Stabilität zu geben. Und tatsächlich schloss Sophie ihre Ausbildung ab.
Daraufhin trat sie ihre erste Stelle an. Es folgte ein Desaster. Während Sophie bisher durch Anstrengungen gute Leistungen bringen konnte, war sie jetzt dem Verhalten