war für Sophie eine riesige Herausforderung. Perfektion war hier unmöglich. Schnell einmal sah sie sich als Versagerin, was eine steile Abwärtsspirale ihrer Psyche in Gang brachte.
Bis zu einem Nervenzusammenbruch dauerte es nicht lange. Und da flossen plötzlich die Tränen. Die ganze Zeit, seit dem Tod ihres Vaters, hatte sie keine Tränen zugelassen. Aber jetzt brachen die Dämme. Sie war am Ende.
Die Stelle musste sie aufgeben und für Sophie stand fest: «Ich bin eine Versagerin.»
Nach kurzer Zeit wurde Sophie auf eine Stelle als Buchhändlerin aufmerksam gemacht. Sie war sehr interessiert und erhielt den Job dann auch. Mit neuem Elan machte sich Sophie an die Arbeit. Sie investierte viel, eignete sich ein grosses Wissen über die Literaturwelt an und wurde eine hervorragende Beraterin. Durch diese erbrachten Leistungen hatte sie wieder das Gefühl, wertvoll zu sein und dazuzugehören. Nach einer Weile absolvierte sie die Ausbildung zur Buchhändlerin.
Am 6. Juni 1989 starb Sophies Mutter im Alter von 76 Jahren.
Inzwischen war Sophie 38 Jahre alt, hatte aber noch nicht gelernt, sich selbst zu versorgen. Sie wusste nicht, wie man Kleider wäscht, und auch das Kochen war so eine Sache. Sie war in der Lage, Wasser zu kochen und eine Instantsuppe zuzubereiten. Damit war sie aber auch schon am Ende ihres Lateins. Sie ernährte sich ungesund und war auf die Hilfe anderer angewiesen. Zwei Cousinen ihrer Mutter wuschen ihre Kleider. Sophie war sehr dankbar dafür, denn schliesslich war sie sich nur allzu deutlich ihrer Überforderung bewusst. Sie war aber auch äusserst sensibel darauf, die Erwartungen der beiden Frauen zu erfüllen. Sie war sich sicher, dass diese ihre Unterstützung sofort eingestellt hätten, wenn sie deren Verhaltenskodex nicht eingehalten hätte.
Zwei Jahre lang wuschen die beiden Frauen Sophies Kleider. Gleichzeitig versuchten sie, ihr alle «wichtigen» Lebensprinzipien beizubringen. Sophie wusste, dass sie die Gunst der Frauen erhalten musste, um nicht fallengelassen zu werden. Ironischerweise legten die Frauen wöchentlich einen langen Weg zurück, um Sophies Kleider zu holen und dann auch wieder zu bringen. Sie wuschen und bügelten die Kleider – aber sie zeigten Sophie nicht, wie sie selbst Kleider waschen konnte. Die inzwischen 40-Jährige glaubte, dass Kleiderwaschen eine derart schwierige Sache sei, dass sie dies unmöglich erlernen konnte.
Es war wie ein unausgesprochener Pakt: Die beiden Frauen wuschen Sophies Kleider – in Gegenleistung besuchte diese mit den beiden zusammen die Gottesdienste der Gemeinde, sass an deren sonntäglichen Mittagstisch und hielt sich an alle Ratschläge, die sie ihr gaben. Wenn sie deren Anweisungen gut befolgte, waren die beiden zufrieden und beschenkten sie zusätzlich mit vorgekochten Menus und vielen anderen Dingen. In all dem verstärkte sich das Gefühl in Sophie, dass sie es selbst nicht auf die Reihe kriegen würde und auf die Hilfe anderer angewiesen war – selbst in den kleinen alltäglichen Dingen.
Trotz ihrer Überforderung hielt sich ein hartnäckiger Stolz in ihr. Sie glaubte noch immer, sich durch perfektes Verhalten und gute Leistungen von anderen Menschen abheben zu können. Wahrscheinlich versuchte sie dies auch krampfhaft zu glauben, denn Perfektion war für sie der einzige Weg zum Erlangen von Wert und Bedeutung.
1991 musste Sophie umziehen. Die frühere Wohnung war für sie als Einzelperson einfach zu teuer. Über eine andere Verwandte ihrer Mutter fand sie eine günstigere Mietwohnung in Ostermundigen. Natürlich gehörte die Verwandte, welche im selben Haus wohnte, auch zu Sophies Gemeinde. Sie nahm Sophie unter ihre Fittiche und sagte, wie sie sich zu verhalten hatte. Das alte Spiel wiederholte sich also einmal mehr. Diese Frau brachte Sophie bei, wie sie ihre Haushaltung selbst führen konnte. Doch sie pochte vehement darauf, dass Sophie sich genau an ihre Anweisungen hielt.
An dieser Stelle muss natürlich erwähnt sein, dass die hilflose und unsichere Sophie Menschen richtiggehend anzog, die über ihr Leben bestimmen wollten. Und sie hatte sich nie dagegen gewehrt.
Es folgten Jahre, in welchen Sophie verschiedene Stellen als Buchhändlerin innehatte. Irgendwann kam sie in eine christliche Buchhandlung. Trotz ihrer Berufserfahrung schaffte sie es nicht, die Anforderungen dieses Buchladens zu erfüllen. Sophie hatte schlicht zu wenig Kenntnisse über den spezifisch christlichen Buchmarkt. Worauf sie aber ganz sensibel reagierte, war erneut die Botschaft: «Wenn du es genauso machst, wie wir sagen, bist du geliebt und angenommen – falls du versagst, bist du raus!» Eine solche Botschaft war mit Sicherheit nicht die Absicht der dortigen Leitung, für die übersensiblen Ohren von Sophie war die Botschaft aber einmal mehr klar: «Sei perfekt und Gott liebt dich.»
Sie schaffte es nicht. Glücklicherweise fand sie kurz darauf eine neue Anstellung im Blaukreuz-Verlag.
Durch die Arbeit im Blaukreuz-Verlag traf Sophie auf bekennende Christen, welche eine grosse Faszination auf sie ausübten. Es waren Menschen, die ihren Glauben auf eine lebendige und anziehende Weise lebten. Sophie liebte die Gemeinschaft mit diesen Leuten und war dankbar, an deren Leben teilhaben zu dürfen.
1995 verlor Sophie ihre Stelle im Blaukreuz-Verlag. Dies war die Folge einer längeren finanziellen Krise des Verlages. Die nächste Stelle trieb sie dann an die Grenzen ihrer Kräfte, was 1998 in einer schwerwiegenden Erschöpfungsdepression endete. Sophie hatte wirklich alles gegeben. Allein schon die 700 Überstunden, die sie geleistet hatte, sprechen eine deutliche Sprache. Doch der Einsatz war zu gross für sie. Und der ständige Drang, alles perfekt machen zu müssen, wurde ihr einmal mehr zum Verhängnis. Die Erschöpfungsdepression zwang sie schliesslich, ihre Stelle aufzugeben.
Inzwischen begann sich ihr Leben aber zum Guten zu verändern. Die Freunde vom Blaukreuz-Verlag blieben weiterhin an ihrer Seite. Sie luden Sophie zu sich nach Hause ein, wo sie viele gute Stunden verbrachten. Schon bald besuchte sie auch regelmässig die Anlässe der Gemeinde ihrer Freunde. Und dort hörte sie von einem liebenden Gott, der nicht an unserer Leistung und Perfektion interessiert ist, sondern vielmehr an unserem Herz. Der Gedanke, dass Gott sie, Sophie Blees, bedingungslos liebte, liess ihr warm ums Herz werden. Konnte das wirklich wahr sein? Sehnte sich Gott tatsächlich nach einer persönlichen Beziehung mit ihr?
Es war wunderbar, die Wahrheiten zu entdecken, die ihr bisher verborgen geblieben waren.
Die Veränderung vollzog sich langsam. Sophie erlebte keine grossen Durchbrüche und emotionalen Momente. Sie kann auch kein Datum nennen, an welchem sich etwas ganz Besonderes ereignet hat. Trotzdem weiss sie, dass sich etwas ereignet hat. Gott legte einen lebendigen Glauben in ihr Herz. Erst leise und unbemerkt, doch dann begannen sich Früchte zu zeigen. Freunde und Seelsorger halfen ihr, falsche religiöse Denkweisen abzulegen und zu einem lebendigen Glauben durchzudringen.
3. Liebe in der Luft
Nach Beendigung ihrer Anstellung im Blaukreuz-Verlag pflegte Sophie weiterhin regen Kontakt mit Doris und Gerold Huber. Mehrmals ging sie sogar mit ihnen in die Ferien.
Interessant war diese Freundschaft aber auch deswegen, weil ich damals ebenfalls regelmässig bei Hubers ein- und ausging. Aber Sophie und ich sind uns nie begegnet. Zumindest einige Jahre lang nicht. Während bei Sophie die frühere Arbeitsstelle den Kontaktpunkt zu Hubers herstellte, war es bei mir der Kontakt zum Blauen Kreuz – ein Kontakt, welcher für mich als ehemaligen Alkoholiker sehr wichtig war.
Im Jahr 2000 feierte Gerold Huber seinen 55. Geburtstag. Den ganzen Tag war das Haus geöffnet und die Gäste konnten kommen und sich in der reichhaltigen Festwirtschaft bedienen. Wie es ihrer Grosszügigkeit und Gastfreundschaft entsprach, hatten Hubers zu diesem Anlass sehr viele Leute eingeladen. An diesem Tag begegnete ich Sophie zum ersten Mal.
Sie hatte dieses wunderbare herzliche Lachen, welches ihr Umfeld sofort ansteckte. Mich hatte ihr Lachen jedenfalls sofort in den Bann gezogen und ich liess nichts unversucht, um sie durch Witze und lustige Geschichten zum Lachen zu bringen. Erfolg hatte ich dabei immer wieder, schliesslich war ich ja auch schon früher in den Kneipen ein Meister der Unterhaltung gewesen.
Wie ich später erfuhr, war meine anfängliche Wirkung auf Sophie etwas weniger überwältigend. Ihr Gedanke zu meiner Person war nämlich: «Dieser Mensch spricht aber langsam.»