»Du musst dich nicht mehr lange gedulden, wir sind gleich da«, versicherte ihm Ines, als der Weg erneut durch einen Wald führte. »Willkommen auf der Burg der Grafen von Bergmoosbach«, sagte sie, als sie aus dem Wald wieder heraustraten und eine mächtige Ruine aus grauem Felsstein gehauen vor ihnen in der Sonne lag. Mit dem stahlblauen Himmel und dem Alpenpanorama im Hintergrund war sie ein beeindruckender Anblick. Die Außenmauern der vier Wachtürme waren noch intakt, auch der Rundbogen über dem Toreingang schien noch vollständig erhalten zu sein. Einen sicheren Platz für Helenes Gemälde konnte Marc aber nicht ausmachen.
»Von hier aus kannst du nicht alles sehen. Komm, ich zeige dir, worauf es ankommt«, sagte Ines, als er sich skeptisch umschaute.
»Offensichtlich sind wir heute die einzigen Besucher«, stellte Marc fest, weil er nirgendwo Wanderer oder Spaziergänger entdeckte und auf dem Parkplatz vor der Ruine kein Auto stand.
»Die Leute kommen meistens am Vormittag hier herauf und wandern dann hinunter ins Tal, um dort zu Mittag zu essen. Bekommst du es jetzt mit der Angst zu tun, weil du mir nun ausgeliefert bist?«
»Sollte ich mich fürchten?«
»Ich könnte mich verwandeln.«
»In die Königin der Berggeister?«
»Vielleicht.«
»Und was würde dann passieren?«
»Das weiß ich nicht, bisher habe ich mich noch nie verwandelt.«
»Egal, ich riskiere es, gehen wir weiter.«
»Auf deine Verantwortung«, sagte sie und ging voraus.
Um an den Ort zu gelangen, den sie ihm zeigen wollte, unterquerten sie den Torbogen der Ruine und gelangten in den Innenhof. Dort lag der noch erhaltene Teil der Burg mit dem ehemaligen Ballsaal. Vor einigen Jahren hatte der Gemeinderat beschlossen, den Ballsaal zu restaurieren, um ihn für Veranstaltungen zu nutzen. Sie hatten einen Architekten beauftragt, eine möglichst elegante Lösung zu finden. Das Ergebnis war eine Glaskuppel, die nun den historischen Saal überdachte. Das mächtige Eingangsportal aus massiver Eiche mit kunstvoll gearbeiteten Messingbeschlägen erstrahlte in neuem Glanz.
»Was denkst du, wäre die Burg das richtige Ambiente für die Ausstellung?«, fragte Ines.
»Können wir uns den Saal von innen ansehen?«
»Kein Problem.« Als Kulturbeauftragte von Bergmoosbach besaß sie die Schlüssel für alle historischen Gebäude.
»Sieh mal, da kommt wohl etwas auf uns zu.« Marc deutete auf die dunkle Wolkenwand im Osten.
»Regen war gar nicht angekündigt. Vielleicht drehen die Wolken noch ab. Wenn nicht, dann müssen wir eine Weile hier oben bleiben. Ins Tal hinunter würden wir es wohl nicht mehr schaffen«, stellte sie mit einem skeptischen Blick auf die Wolkenwand fest.
»Die Königin öffnet ihre Burg«, sagte Marc und schaute zu, wie Ines den großen Schlüssel in das Schloss des Portals steckte.
»Vielleicht solltest du dich doch lieber vor mir in Acht nehmen. Vielleicht will ich dich nur in meine Burg locken und habe auch gleich ein Unwetter bestellt, um dich festzuhalten.«
»Das macht mir nichts aus. Dieser Ort ist unglaublich, Ines«, stellte er fest, als er gleich darauf den restaurierten Saal betrat.
Hohe weiß verputzte Wände, dunkles Parkett, in den Boden und die Wände eingelassene kleine Leuchten und der absolute Mittelpunkt des Saales: Die Glaskuppel, die den Blick an den Himmel und auf die Gipfel der Berge freigab.
»Einen besseren Ort können wir sicher nicht finden, um Helenes Bilder zu präsentieren«, stimmte Marc Ines’ Wahl sofort zu, nachdem er sich einen Moment lang umgeschaut hatte.
»Auch wenn die Bilder hier bei jeder Wetterlage sicher sind, wäre es doch schön, wenn die Sonne am Tag der Ausstellung scheint. Natur und Bilder wären dann eine Einheit. Für die nächste Woche ist noch Sonnenschein angesagt.«
»Du könntest die Ausstellung so kurzfristig arrangieren?«, fragte Marc erstaunt.
»Da ich für diese Entscheidungen zuständig bin und ich weiß, dass der Saal am nächsten Wochenende frei ist, wäre das möglich.«
»Dann liege ich gar nicht so verkehrt, wenn ich dich für die Königin halte, die in dieser Burg das Sagen hat.«
»So betrachtet, liegst du vollkommen richtig. Wir sollten aber zuvor mit Sebastian und Emilia sprechen, ob ihnen ein so schneller Termin recht ist. Wenn sie einverstanden sind, dann informiere ich unseren Bürgermeister, damit er sich nicht übergangen fühlt. Ich würde mich dann um die Werbung kümmern, den Transport und das Aufhängen der Bilder. Es wäre schön, wenn du den richtigen Platz an der Wand für jedes einzelne Gemälde bestimmen würdest. Oder wirst du am nächsten Wochenende nicht mehr hier sein?«
»Doch, ich denke, ich werde noch da sein.«
»Dort ist die Garderobe, und es gibt auch eine Cafeteria, die an Veranstaltungstagen geöffnet wird«, sprach sie schnell weiter, weil der Blick, mit dem er sie ansah, sie beinahe aus der Fassung brachte.
»Schade, dass sie jetzt nicht geöffnet hat. Wie es aussieht, werden wir tatsächlich eine Weile in deiner Burg bleiben müssen.« Marc schaute auf die dunkle Wolke, die über die Kuppel hinwegzog.
»Ich bin auf diesen Notfall vorbereitet.«
Wie immer, wenn sie eine Wanderung unternahm, hatte sie Wasser und einige Brezeln eingepackt. Da sie Marc mit diesem Ausflug überrascht hatte, hatte sie auch Proviant für ihn dabei.
»Warte kurz«, bat sie ihn und eilte in Richtung Garderobe davon.
Am nächsten Wochenende werde ich noch hier sein, dachte Marc, aber was würde danach werden? Konnte er einfach wieder in sein altes Leben zurückkehren und Ines vergessen? »Was hast du vor?«, fragte er, als er den zusammengerollten Schlafsack sah, den sie bei sich hatte.
»Hin und wieder übernachte ich mit meiner Kollegin hier oben, wenn wir eine Veranstaltung für den nächsten Morgen vorbereiten.«
»Welche Veranstaltungen finden denn so früh statt?«
»Die letzte war eine Preisverleihung der Bäckerinnung. Die Leute sind bekanntlich echte Frühaufsteher. Bitte, nimm Platz.« Sie deutete auf den Schlafsack, den sie in der Mitte des Saals auf dem Boden ausbreitete.
»Wir machen jetzt also ein Picknick?«, fragte Marc, nachdem er sich neben Ines gesetzt hatte.
»Bei uns heißt das Brotzeit«, sagte sie und reichte ihm eine Flasche Wasser und zwei Brezeln.
»Dann machen wir also eine ländliche Brotzeit.«
»In der Stadt heißt das bei uns auch Brotzeit. Wohnst du eigentlich direkt in Montreal oder mehr außerhalb?«, fragte sie, während sie sich die Brezeln schmecken ließen.
»Ich wohne innerhalb der Stadt auf dem Fluss.«
»Auf dem Fluss?«
»Richtig, auf einem Hausboot.«
»Auf dem Sankt-Lorenz-Strom?«
»Ich sehe, du kennst dich aus«, antwortete Marc lächelnd.
»Ja, ein bisschen.«
»Vielleicht kommst du mich mal besuchen, es würde dir bestimmt dort gefallen. Mein Hausboot ist übrigens auch fahrtüchtig. Wir könnten einfach aufbrechen, unterwegs anhalten, wo es uns gefällt, tauchen gehen oder mit dem Motorboot Wasserskifahren. Ich könnte dir Kanada von seiner schönsten Seite zeigen. Die Seen, die Flüsse und das Meer. Was ist mit dir, Ines?«, fragte er besorgt, als sie plötzlich ganz blass wurde.
»Es ist alles gut, ich bin nur gerade erschrocken. Ich denke, wir bekommen es auch hier gleich mit reichlich Wasser zu tun«, sagte sie und schaute nach oben an die Kuppel.
Die Wolken hatten sich über ihnen zusammengezogen, und es wurde dunkel. Dieses Hausboot werde ich niemals betreten,