Tessa Hofreiter

Der neue Landdoktor Paket 1 – Arztroman


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Gedanke an diesen Fluss ließ ihre Knie zittern.

      »Das könnte ein interessantes Schauspiel werden«, sagte Marc, als der erste Blitz aus den Wolken herauszackte und es gleich darauf donnerte. »Wir sollten die Vorstellung genießen.«

      Er legte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme im Nacken und schaute an den Himmel.

      »Das wird heftig«, stimmte Ines ihm zu und legte sich neben ihn. Er liebt das Wasser, ich fürchte mich davor, dachte sie. Die Entscheidung, ob sie sich nach seinem Besuch in Bergmoosbach wiedersehen würden, war gefallen. Es würde nicht passieren. Ihre Angst vor dem Wasser war einfach zu groß. Sie konnte nicht einmal schwimmen, aber das wusste außer ihrem Großvater niemand.

      »Bleibst du während eines Gewitters auf dem Hausboot?«, fragte sie, als der nächste Blitz aus den Wolken herausschoss und in den Boden jagte. Vielleicht hatte er noch eine Wohnung an Land, die er bisher nicht erwähnt hatte.

      »Das Boot ist mein einziges Zuhause, deshalb habe ich eine Blitzschutzanlage einbauen lassen.«

      »Mir wäre es trotzdem ein wenig unheimlich.«

      »Du hast Angst vor Gewittern?«

      »Nur auf dem Wasser. Wer in den Bergen lebt, der ist Gewitter gewohnt. Sieh nur, welch wundervolle Muster der Blitz uns zeigt.«

      »Ich sollte darüber nachdenken, eine Glaskuppel in das Dach meines Hausbootes einzubauen. Die Blitze auf diese Weise zu betrachten, das hat einen ganz besonderen Reiz.«

      »Wir können der Gefahr direkt ins Auge sehen und sind doch vollkommen geschützt.«

      »Genauso«, stimmte Marc ihr zu.

      Wieder zackten Blitze durch die Wolken und vereinigten sich zu einem Muster, das an einen verzweigten Baum erinnerte. Dann wieder sah es aus, als tanzten Horden von kleinen Lichtblitzen über den Himmel, während der Donner über die Berge hinwegrollte.

      »Was passiert denn jetzt?«, flüsterte Ines, als sich der Himmel über ihnen blauviolett verfärbte.

      Im nächsten Moment schoss ein glühender Strahl aus der Wolke direkt über ihnen heraus, riss auseinander und zischte in alle Richtungen davon, beinahe gleichzeitig krachte der Donner über sie hinweg, und der war so laut, dass Ines vor Schreck zusammenfuhr. Als sich das Schauspiel wenige Sekunden später wiederholte, schloss sie die Augen. »So ein Gewitter habe ich noch nie erlebt«, sagte sie und kniff die Augen fest zusammen.

      »Deshalb solltest du es dir auch bis zum Schluss ansehen«, hörte sie Marc sagen.

      »Nein, lieber nicht.«

      »Sei mutig.«

      »Gut, ich bin mutig«, sagte sie und öffnete vorsichtig die Augen, schloss sie beim nächsten Blitz aber gleich wieder und wandte sich zur Seite.

      »Komm, wir sehen es uns gemeinsam an.« Marc legte seinen Arm um sie und zog sie an sich. »Schau, tanzende Riesen, ein Tintenfisch, eine Giraffe.«

      Zu jedem Muster, das der Blitz an den Himmel warf, fiel ihm sofort ein passendes Bild ein.

      Seine sanfte Stimme und die Selbstsicherheit, die er ausstrahlte, ließen sie ein Gefühl der Geborgenheit spüren, wie sie es nur aus ihrer Kindheit kannte. Noch nie zuvor hatte sie sich einem Mann so nah gefühlt wie ihm. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie gerade für ihn so empfand, weil er ihr doch eigentlich noch fremd war.

      »Du denkst zu viel nach.« Marc drehte sich auf die Seite und schaute sie an, als das Gewitter allmählich weiterzog und es zu regnen begann.

      »Worüber denke ich zu viel nach?«, fragte sie.

      »Über deine Gefühle, lass sie doch einfach zu.«

      »Ich traue mich nicht.«

      »Warum nicht?«

      »Vor ein paar Tagen habe ich dich noch gar nicht gekannt.«

      »Vielleicht doch. Unser Universum ist voller Energie, wie wir gerade gesehen haben. Auch Lebewesen strahlen Energie aus, Energien verbinden sich. Vielleicht haben wir uns irgendwann schon einmal auf diese Weise berührt.«

      »Du meinst, wie Blitze, die zur selben Zeit über den Himmel jagen und sich zufällig treffen.«

      »Vielleicht haben wir irgendwann einmal zur selben Zeit einen bestimmten Stern betrachtet, und wenn Gedanken Energie sind…«

      »…konnten sie sich miteinander verbinden.«

      »Eine mögliche Erklärung, warum uns ein Mensch vertraut ist, dem wir nie zuvor begegnet sind.«

      »Es ist eine wunderschöne Erklärung.«

      »Dann solltest du sie annehmen.«

      »Aber du wirst wieder gehen.«

      »Du kannst mit mir kommen.«

      »Du könntest bleiben.«

      »Das willst du doch gar nicht, Ines.«

      Erst wollte sie protestieren, aber dann wurde ihr klar, dass er recht hatte. Sie wollte nicht, dass er in ihrer kleinen Welt blieb, sie wollte es nicht, weil sie selbst nicht mehr bleiben wollte und nur wegen ihres Großvaters diesen Wunsch immer wieder verdrängt hatte.

      »Wir könnten zusammen arbeiten.«

      »Ich bin aber keine Galeristin.«

      »Ich bringe dir alles bei, was du wissen musst.«

      »Es hört sich gut an, auch wenn es vielleicht nur ein Traum bleibt.«

      »Willst du, dass es nur ein Traum bleibt?«

      »Noch fühlt es sich wie ein Traum an.«

      »Und wie fühlt sich das an?«, fragte er, als er mit seinen Fingerkuppen zärtlich über ihr Gesicht strich, ihre Augen, ihre Wangen und ihre Lippen berührte.

      »Es fühlt sich wirklich an.«

      »Willst du mehr Wirklichkeit?«, fragte er leise und küsste sie auf die Stirn.

      »Ja, unbedingt«, antwortete sie und versank in seinen wundervollen blauen Augen.

      »Keine Zweifel, keine Fragen?«

      »Nein«, sagte sie und legte ihre Hände in seinen Nacken. Ich muss meine Ängste bekämpfen, ich will dich nicht gleich wieder verlieren, dachte sie. Als er sich über sie beugte und sie seinen Mund auf ihren Lippen spürte, ließ sie ihre Gedanken frei, sie wollte nicht mehr nachdenken. In diesem Moment wollte sie sich nur noch den Zärtlichkeiten des Mannes hingeben, in den sie sich verliebt hatte.

      Später, als der Regen schon lange vorbei war und die Wege in der Abendsonne trockneten, gingen Ines und Marc Hand in Hand wieder hinunter ins Dorf. Ines konnte sich nun nicht mehr vorstellen, Marc einfach wieder so aus ihrem Leben zu streichen. Sie musste ihre dumme Angst vor dem Wasser in den Griff bekommen. Wenn ihr das gelang, dann würde sie ihn in Kanada besuchen.

      »Alles in Ordnung?«, fragte er, als sie nachdenklich über das Tal hinwegschaute, bevor sie in das letzte Waldstück auf ihrem Weg nach unten einbogen.

      »Ja, es ist alles gut.«

      »Dann bleibt es dabei, dass du mit zu den Seefelds kommst und wir ihnen von deiner Idee erzählen, die Ausstellung in der Ruine stattfinden zu lassen?«

      »Ja, ich sagte doch, dass ich mitkomme.«

      »Muss ich meine Gefühle für dich verbergen?«

      »Nein, das musst du nicht.«

      »Deine Familie könnte davon erfahren.«

      »Mein Großvater wird sich für mich freuen, was die anderen denken, ist mir in diesem Fall egal. Wir tun schließlich nichts Unrechtes, wenn wir zusammen glücklich sind. Ob es nur ein paar Tage, ein paar Wochen oder länger sein wird, das geht nur uns etwas an.«

      »Ich möchte schon, dass es länger als ein paar Tage dauert.« Marc ließ ihre Hand los und nahm sie