Tessa Hofreiter

Der neue Landdoktor Paket 1 – Arztroman


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Warum das denn?« Afra war ausnahmsweise sprachlos.

      Magdalenas Augen funkelten. »Es ist nie zu spät, etwas Neues zu lernen«, antwortete sie herausfordernd. »Es ist … nie … zu spät …« Ihre Stimme verlor sich, und ihr seltsamer Blick blieb an Gerti hängen, der ganz unbehaglich zumute wurde. Warum starrte die andere Frau sie so eindringlich an?

      Dieser eigenartige Moment wurde von Caro unterbrochen, die mit den Tabletten zurückkam und sagte: »So, Frau Albers, jetzt können wir nach Hause gehen.«

      Magdalena schien wie aus einem Traum zu erwachen. »Ja, gehen wir heim.« Ihr Blick glitt noch einmal zu Gerti hinüber. »Du hast lange genug gewartet«, sagte sie leise, »es ist fast vorbei.«

      »Wie bitte?« Verständnislos schaute Gerti die alte Dame an. »Auf wen warte ich?«

      Magdalena antwortete mit einem kleinen Lächeln: »Das weißt du doch, Madl.« Dann wandte sie sich um und verließ mit einem freundlichen Gruß die Arztpraxis.

      Afra schnappte nach Luft. »Die Arme! Dass sie auf ihre letzten Tage auch noch verwirrt sein muss!«

      Gerti Fechner antwortete nicht. Magdalenas Worte hatten eine seltsame Unruhe in ihr geweckt, die sie sich nicht erklären konnte. Ob sie es wollte oder nicht, sie bekam diese eigenartigen, zusammenhanglosen Sätze einfach nicht mehr aus dem Kopf.

      *

      Langsam spazierten Caro und Magdalene durch den Sonnenschein Richtung Kapitänshaus. Die alte Dame hatte sich bei ihrer Begleitung eingehakt und war die ersten Schritte in tiefem Schweigen gegangen. Plötzlich warf sie der jungen Frau einen eindringlichen Blick zu. »Was ist das mit dir und meinem Felix?«, fragte sie geradeheraus.

      »Er hat mir Blumen geschickt, Vergissmeinnicht.«

      »Die hab ich gesehen, sie sind sehr hübsch. Aber ich weiß immer noch nicht, wie du zum Felix stehst.«

      »Als er in München gelebt hat, waren wir ein Paar. Und ich glaube, das werden wir auch bald wieder sein.«

      »Das glaubst du nur?« Missbilligend schaute Magdalena sie von der Seite an. »Damit kommst du aber nicht weit, Madl! Wissen musst du’s!«

      »Ich weiß, dass ich in Felix verliebt bin«, gestand Caro.

      »Na also, dann sei nicht so zaghaft, sag’s ihm!« Magdalena unterdrückte einen ungeduldigen Seufzer. »Als mein Heinrich und ich uns kennengelernt hatten, wussten wir sehr bald, dass wir uns liebten. Wir wollten keine einzige Stunde verschwenden. Dass wir dann doch vier lange Jahre auf die Hochzeit warten mussten, lag an der damaligen Zeit und an den Umständen. Der Vater hat seine Einwilligung zur Hochzeit nicht gegeben, und so mussten wir bis zu meiner Volljährigkeit warten, das war damals erst mit einundzwanzig Jahren.« Magdalena lachte leise auf, und plötzlich sah sie nicht mehr aus wie eine Frau von sechsundneunzig Jahren, sondern wie eine Siebzehnjährige. »Verschwendet haben wir die Zeit trotzdem nicht!«

      »Wir auch nicht!« Caro drückte die Hand der alten Dame und warf ihr einen verschwörerischen Blick zu.

      »So ist’s recht!«, antwortete Magdalena zufrieden. »Und du wirst ihn anrufen und ihm sagen, dass es keine Vergissmeinnicht braucht, damit du an ihn denkst?«

      »Heute noch!«, versprach Caro.

      Für den Weg, den sie allein in nicht einmal zehn Minuten zurückgelegt hatte, brauchten sie zusammen über eine halbe Stunde. Aber es war eine vergnügte halbe Stunde, in der die alte Dame viel zu erzählen und zu lachen hatte, und auch Caro hatte ihren Spaß. Als sie im Kapitänshaus angekommen waren, bedauerte die junge Frau, wieder zurückgehen zu müssen, so wohl fühlte sie sich in Magdalenas Gegenwart.

      »Haben Sie alles, was Sie brauchen?«, fragte sie fürsorglich.

      Magdalena Albers saß in einem gemütlichen Gartensessel unter einem alten Apfelbaum, durch dessen Blätter goldenes Sonnenlicht fiel. Sie wies auf ihren geliebten Papagei, der auf ihrer Sessellehne herumturnte, und auf das Tischchen, auf dem etwas zu essen und zu trinken, mehrere Bücher und das Telefon lagen. »Ich bin gut versorgt und zufrieden. Vielleicht werde ich ein bisschen lesen, vielleicht auch schlafen. Jetzt merke ich den Weg doch, den ich gegangen bin.«

      »Ruhen Sie sich aus, morgen schauen der Doktor und ich wieder bei Ihnen vorbei«, sagte Caro. »Und danke, das war ein sehr schöner Spaziergang mit Ihnen!«

      Magdalena nahm ihre Hand. »Bleibt so, wie ihr seid, der Felix und du, das passt!«

      »Versprochen!«, lächelte Caro.

      Sie machte sich auf den Heimweg, und die alte Dame legte entspannt ihren Kopf gegen das weiche Kissen. Ja, es war ein schöner Spaziergang gewesen, aber er hatte sie auch müde gemacht.

      Es war eine angenehme Müdigkeit, die alle Schwere und allen Schmerz aus ihrem Körper zog und sie mit einer lang vermissten Leichtigkeit erfüllte. Sie glitt über die Schwelle vom Wachsein zum Halbschlaf und glaubte, in sehr weiter Ferne Musik zu hören.

      Seltsam, dachte Magdalena, auf einmal habe ich Lust zu tanzen. An einem solchen Sommertag, wenn das Licht so golden ist, sollte man wirklich tanzen.

      »Magdalena …«, sagte eine geliebte Stimme.

      »Heinrich!« Magdalena war kein bisschen erstaunt, dass der Mann, der ihr vor zwanzig Jahren vorausgegangen war, nun wieder neben ihr stand. Sie hatte nie daran gezweifelt, dass es genauso sein würde. »Da bist du ja!«

      Sie legte ihre Hand in seine und ging mit ihm.

      *

      Zum zweiten Mal an diesem Tag machte Caroline sich auf den Weg zum Kapitänshaus. Es war später Mittag, und der Gesang der Vögel, das Lachen spielender Kinder und das Rauschen des Baches, der zum Sternwolkensee unterwegs war, begleiteten ihre Schritte. Caro hatte mit einem leckeren Imbiss ihren Einstand in die Praxis gegeben und beschlossen, von ihrem Kirschkuchen mit Nelken ein Stück zu Magdalena hinüber zu bringen. Sie wusste von Felix, dass seine Großtante Kirschkuchen besonders gern mochte.

      Die junge Frau ging durch den blühenden Garten hinüber zu dem alten Apfelbaum, unter dem Magdalena in ihrem Lieblingssessel saß. Ihre Hände ruhten entspannt in ihrem Schoß, und ein glückliches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

      Die erfahrene Praxishelferin erkannte sofort, was geschehen war. Ganz ruhig setzte Caro sich in den zweiten Sessel neben Magdalena und ehrte mit ihrem andächtigen Schweigen dieses lange Leben und sein friedvolles Ende.

      Die Sonne war weiter gewandert, und ihr goldenes Licht spielte auf den Blumenrabatten, die Magdalena als junge Frau angelegt hatte, als Caro zu ihrem Handy griff, um Doktor Seefeld zu rufen. Er würde den Tod der alten Dame bestätigen und den Totenschein ausfüllen. Danach wählte sie noch eine andere Nummer. »Felix? Du musst jetzt nach Hause kommen.«

      »Caro? Bist du das? Deine Stimme klingt so seltsam, ist etwas passiert?«, fragte der junge Mann alarmiert.

      »Komm heim, Felix. Ich brauche dich jetzt.« Damit beendete Caro das Gespräch.

      Alarmiert starrte der junge Mann auf sein Handy. Caroline hatte nicht panisch geklungen, aber sehr ernst. Wegen nichts und wieder nichts hätte sie nicht angerufen, nicht mit diesen Worten. Was war geschehen?

      »Ich muss weg! Es handelt sich um einen Notfall!«, erklärte der junge Koch seinen verdutzten Kollegen und machte sich, noch immer in Kochjacke und -mütze, auf den Weg.

      Felix erreichte den Garten des Kapitänshauses, als Doktor Seefeld bereits damit beschäftigt war, die nötigen Papiere auszustellen. Voller Mitgefühl schaute er den jungen Mann an. »Ihre Großtante ist ganz friedlich eingeschlafen«, sagte er ruhig.

      »Als ich kam, da habe ich sie so gefunden. Sie sah … glücklich aus«, ergänzte Caro leise.

      Felix schaute stumm von einem zum anderen. Obwohl er mit dem baldigen Tod seiner Großtante hatte rechnen müssen, war es jetzt doch ein Ereignis, das ihn erschütterte. »Ich … kümmere mich … um alles Weitere«, sagte er stockend.

      Sebastian