Kay Tetzlaff

Moderne Tauchmedizin


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mit Gradientenfaktoren (GF)

      Eine Erweiterung der Modelle von Bühlmann und Workman um so genannte Gradientenfaktoren für die Übersättigungstoleranzen ermöglicht es, mit diesen Modellen tiefere Dekompressionsstopps zu berechnen (Abb 4.6). Dabei werden die Parameter der Übersättigungstoleranzen so korrigiert, dass die relative Sättigung für die einzelnen Kompartimente früher erreicht wird.

      Mit dieser eleganten Methode können tiefere Dekompressionsstopps auf einfache Weise erzeugt werden. Vorteil dieser Methode ist es außerdem, dass alle tiefen Stopps tatsächlich in der Dekompressionszone liegen, d. h. dass es laut Modell auch wirklich zu einer Entsättigung, also zu keiner weiteren Aufsättigung kommt (bei einigen anderen regelbasierten Erweiterungen des Bühlmann-Modells zur Erzeugung von tiefen Dekompressionsstopps ist dies nicht zwingend der Fall.

      Abb. 4.6: Mittels der Gradientenfaktoren (GF, Einflussfaktor, mit dem die Steigung der Übersättigungstoleranz beeinflusst wird) kann die Übersättigungstoleranz eines jeden Kompartiments reduziert werden. Somit können Dekompressionswerte konservativer gestaltet und tiefere Stopps generiert werden. Die mittels GF reduzierte Übersättigungstoleranz eines Kompartiments ist durch die gestrichelte Linie angezeigt. Exemplarisch sind hier zwei Kompartimente (K1 und K16) mit den Halbwertszeiten 4 min und 635 min dargestellt

      Schreiner-Integration für Neo-Haldane-Modelle

      Nachteilig bei den Modellen von Haldane und von Workman (und damit auch Bühlmann) ist, dass die zugrunde liegende Differenzialgleichung unter der Annahme eines konstanten Umgebungsdrucks für das betrachtete Zeitintervall gelöst wurde. Die Kompartimente reagieren damit exponentiell als Sprungantwort auf eine Veränderung des Umbebungsdrucks. Ändert sich der Umgebungsdruck bei Tiefenwechseln, so muss das Tauchprofil in einzelne Zeitabschnitte (Sekunden) zerlegt und für jedes Kompartiment die Sättigung am Ende des Zeitabschnitts berechnet werden. Der so errechnete Sättigungswert wird als Startwert für die Berechnung der Sättigung im nächsten Zeitabschnitt gesetzt. Diese iterative Vorgehensweise wird in den von Tauchcomputern verwendeten Dekompressionsmodellen gewählt. Dabei wird der reale Tauchverlauf in ein Treppenprofil zerlegt, so dass für relativ kurze Zeitintervalle der Umgebungsdruck als konstant angenommen werden kann. Die Annahme von solch idealisierten Tauchprofilen mit Auf- und Abstiegsrampe und Verweilen auf konstanter Tiefe stellt insbesondere für die Berechnung von Tauchtabellen sowie bei Simulationen oder Software-Tools eine elegante Methode dar, aufwändige numerische Verfahren zu vermeiden. Außerdem erlaubt die beschriebene Integrationsmethode, sprunghafte Änderungen des Inertgaspartialdruckes z. B. bei Gaswechseln durchzuführen.

      4.2.3 Zweiphasenmodelle

      In Einphasenmodellen wird davon ausgegangen, dass keine Gasblasen entstehen, solange korrekt dekomprimiert wird, d. h., Gasblasen entstehen nur, wenn Dekompressionsstopps ausgelassen und damit Übersättigungstoleranzen überschritten werden. Zweiphasenmodelle hingegen berücksichtigen gelöstes und „freies“ Gas, also auch Gasblasen, deren Wachstum zusätzlich zur Übersättigung der Gewebe berechnet wird. Der Aufstieg wird somit sowohl durch die tolerierte Übersättigung als auch durch die Anzahl/das Volumen der Blasen gesteuert. Während des Aufstiegs darf ein kritischer Radius der Gasblasen nicht überschritten werden. Da die exakte (mathematische) Beschreibung von Blasenentstehung und Blasenwachstum komplex ist, werden in den Dekompressionsmodellen einige vereinfachende Annahmen gemacht. Es wird z. B. postuliert, dass während des Aufstiegs eine konstante Anzahl von stillen (Mikro)Blasen vorhanden ist, die als Keime für das Wachstum größerer stabiler Gasblasen dienen. Auch bei der Berechung der Diffusionsvorgänge von Inertgas in die Blase hinein müssen Vereinfachungen gemacht werden, da die Blase durch zusätzliche Barrieren stabilisiert wird (z. B. durch fibrinoproteinöse Kokons, die durch die Blutgerinnung um die Gasblase herum verursacht werden und so die Diffusionseigenschaften beeinflussen).

      Die Kontrolle des Aufstiegs durch die Begrenzung der Blasengröße unterhalb des kritischen Blasenradius erzwingt im Vergleich zu den Einphasenmodellen tiefere erste Dekompressionsstopps. Dafür sind die Dekompressionsstopps im oberflächennahen Bereich oft vergleichsweise kürzer. Der Vorteile von Zweiphasendekompressionsmodellen zeigt sich daher bei sehr kurzen tiefen Tauchgängen („bounce dives“), bei kurzen Oberflächenpausen oder bei Verwendung hoher Heliumanteile im Atemgas.

      VPM/VPM B (Varying Permeability Model)

      Das VPM-Modell wurde von D.E. Yount und D.C. Hoffmann 1986 entwickelt, um Blasenbildung, -wachstum und -auflösung bei Druckbe- und -entlastung zu simulieren. Grundlage des Modells sind dabei Experimente mit Flüssigkeiten und Gelatine. Die dem Modell zugrunde liegende Annahme ist, dass ein kritischer Blasenradius existiert, der eine Grenze zwischen Wachstum und Auflösung der Blase beschreibt. Der Aufstieg wird durch den Druckgradienten zwischen Gewebe- und Umgebungsdruck bestimmt und steht in direktem Zusammenhang mit dem Blasenwachstum.

      Es liegt die Annahme zugrunde, dass Blasenkeime existieren, die klein genug sind, um in Lösung zu verbleiben, aber groß genug, um nicht vollständig zu kollabieren. Dabei werden Gleichgewichtsbedingungen für die Gasblase formuliert, in denen der Gasinnendruck im Gleichgewicht zur Oberflächenspannung und zum Außendruck steht. Dabei kann Gas sowohl in die Blase hinein- oder aus ihr herausdiffundieren; die Veränderung des Blasenradius wird über den Umgebungsdruck berechnet. Die Massenänderung der Gasblase (gesteuert durch Diffusion) basiert auf der Grundlage der Ergebnisse von Haldane.

      Das VPM berechnet kontinuierlich die Veränderung des Blasenradius durch Erhöhung und Verminderung des Umgebungsdrucks. Im Gegensatz zu anderen Modellen, die mit Übersättigungstoleranzen arbeiten, wird im VPM ständig (iterativ) ein neuer Dekompressionsplan berechnet. Diese aufwändige iterative Berechnung der Dekompressionsdaten aus dem Gesamttauchgangsverlauf bedeutet, dass der Tauchgang in den numerischen Lösungsverfahren mehrere Male durchlaufen werden muss, bevor ein Ergebnis erzielt wird. Dies hat zur Folge, dass der Abstieg auch den Aufstieg beeinflusst: Schnelle Abstiege erlauben (modelltechnisch) eine schnelle Dekompression. Der Aufstieg wird dabei über den kritischen Druckgradienten, der sich aus der Wachstumsgeschwindigkeit der Gasblasen berechnet, bestimmt.

      Hinweis. Die Tatsache, dass das Tauchprofil mehrfach ausgewertet werden muss, bevor ein Ergebnis vorliegt, schränkt die Verwendung dieses Algorithmus stark ein und reduziert ihn auf Simulationsrechnungen. VPM bildet jedoch eine wichtige Grundlage für andere Zweiphasenmodelle, die durch Vereinfachungen auf die oben beschriebene Iterationsmechanismen verzichten können und somit auch in Echtzeitdekompressionsrechnern eingesetzt werden können.

      RGBM (Reduced Gradient Bubble Model)

      Das VPM-Modell wurde 1991 von B. Wienke dahingehend erweitert, dass Wiederholungstauchgänge berechnet werden können. Entscheidend bei der Herangehensweise dieses Modells ist die Reduzierung des Druckgradienten, so dass zur Berechnung von Dekompressionsplänen keine Mehrfachiterationen mehr notwendig sind. Damit ist die Grundlage geschaffen, Zweiphasenmodelle in Echtzeitdekompressionsrechner („Tauchcomputer“) zu implementieren.

      Das RGBM ist sehr verbreitet und wird neben einigen Software-Tools auch in Dekompressionsrechnern eingesetzt. Es ist zum jetzigen Zeitpunkt das am weitesten verbreitete Zweiphasendekompressionsmodell.

      TBDM (Tissue Bubble Diffusion Model)

      Das TBDM ist eine Kombination aller vorangegangenen Modelle. Es ist charakterisiert durch das Gasblasenwachstum im Kompartiment, durch Diffusion an den Übergangstellen Gasblase/Gewebe und durch Perfusion im Bereich Blut/Kompartiment. Die Blasengröße wird zusätzlich an statistische Aussagen im Bezug auf die Blasengröße gekoppelt. Mathematisch ist dieses Modell extrem aufwändig und daher kaum verbreitet.

      4.2.4 Statistische Modelle

      MLM (Maximum Likelihood Model, maximale Wahrscheinlichkeit)

      Beim MLM wird aus einer Datenbank mit Tausenden von Tauchgängen eine statistische Vorhersage über die Wahrscheinlichkeit von DCS-Zwischenfällen getroffen. Dabei ist es notwendig, dass in der gesamten Datenbank vollständige Informationen über Tauchprofile, Vorgeschichte, Dekompressionsprozeduren und Symptome vorhanden sind. Nur so ist es möglich, für ein vorgegebenes Tauchprofil das Risiko für