Kay Tetzlaff

Moderne Tauchmedizin


Скачать книгу

Differenzierung vorzunehmen. Hierzu zählt sowohl die Dekompressionserkrankung im Speziellen als auch die arterielle Gasembolie (AGE) nach Lungenüberdehnung oder die so genannte paradoxe Embolie. Der Begriff DCS wird hingegen dann gebraucht, wenn explizit die Dekompressionserkrankung mit der entsprechenden pathophysiologischen Grundlage gemeint ist (Abb 10.1).

      Abb. 10.1: Klassifikation von Tauchunfällen (mod. nach den Leitlinien der GTÜM e.V.)

      Übersetzungen der Begriffe ins Deutsche haben teilweise zu der Lehrmeinung geführt, dass zwischen einer „Dekompressionserkrankung“ und einer „Dekompressionskrankheit“ unterschieden werden soll. Dies erscheint jedoch nicht sinnvoll, zumal die Unterscheidung zwischen einer DCS mit Beteiligung des zentralen Nervensystems und einer zerebralen AGE ohne Zusatzdiagnostik oft nicht möglich und für die unmittelbare Therapieentscheidung auch nicht erforderlich ist (s. hierzu auch Kap. 18).

      Als unbestritten sinnvoll gilt, akute Tauchunfälle jeder Ursache und Schwere international als DCI zu bezeichnen. Eine weitere Einteilung ist zwar willkürlich, jedoch unverzichtbar für klinisches Management, Dokumentation und wissenschaftliche Erfassung.

      Im Folgenden werden die am häufigsten verwendeten Klassifikationssysteme erläutert. Dabei wird der Begriff des Dekompressionsunfalls allgemein als Überbegriff für akute dysbare Erkrankungen verwendet, analog zum Begriff DCI. Soll pathophysiologisch differenziert werden zwischen einer AGE – bedingt durch den Eintritt von Gasbläschen in den arteriellen Kreislauf nach einer Lungenüberdehnung oder den Shunt venöser Blasen ins arterielle System – und einer DCS – bedingt durch das Freiwerden von Gasbläschen aus Geweben und konsekutiver Gewebsschädigung –, werden die entsprechenden Abkürzungen verwendet.

      10.1.1 Traditionelle Klassifikation („DCS-System“)

      Die immer noch weltweit gebräuchliche traditionelle Klassifikation der Dekompressionserkrankung unterscheidet zwischen einer DCS Typ I und Typ II sowie der AGE. Sie wurde 1960 auf der Basis von 685 Erkrankungsfällen bei Tunnelarbeitern entwickelt, um eine Differenzierung zwischen einer leichten und schweren Manifestation der Dekompressionserkrankung zu ermöglichen und damit Entscheidungen bezüglich Prognose und Therapie zu vereinfachen.

      Eine DCS Typ I liegt vor, wenn es im Rahmen der Dekompressionserkrankung lediglich zu Symptomen im Bereich der Haut oder des Bewegungsapparates kommt, z. B. Juckreiz, Hautausschlag oder Gelenkschmerz. Bei Symptomen in anderen Bereichen des Körpers ist von einer DCS II auszugehen. Dazu gehören unter anderem die Beteiligung der Lunge, des Nerven- und des Herz-Kreislauf-Systems. Später wurde der Klassifikation eine DCS Typ III hinzugefügt. Hiermit wird eine fulminante Manifestation der DCS bezeichnet, bei der infolge einer zusätzlich bestehenden AGE frühzeitig nach Erreichen der Wasseroberfläche eine progrediente neurologische Symptomatik auftritt, die sich unter Umständen nicht durch eine Rekompression bessert.

      Diese traditionelle Klassifikation wurde in letzter Zeit vermehrt kritisiert und gilt eigentlich trotz der noch weiten Verbreitung als nicht mehr zeitgemäß. Wie bereits angemerkt, handelt es sich bei der Dekompressionserkrankung um eine systemische Erkrankung, so dass eine Trennung zwischen einer lokal begrenzten und einer generalisierten Form mit schwerwiegender Organbeteiligung artifiziell ist, obwohl selbstverständlich der klinische Schweregrad erheblich variieren kann.

      Kompaktinformation

      Traditionelle Klassifikation der Dekompressionserkrankung („DCS-System“)

      ■ DCS Typ I:

      – Beteiligung der Haut (z. B. Juckreiz, Hautrötung, umschriebene Schwellung der Haut)

      – Beteiligung des Bewegungsapparats (z. B. Schmerzen in einem Gelenk oder einer Extremität)

      ■ DCS Typ II:

      – Beteiligung des zentralen Nervensystems (z. B. Bewusstlosigkeit, neurologische Ausfälle)

      – Beteiligung des Innenohrs (z. B. Gleichgewichts- oder Hörstörungen)

      – Beteiligung der Lunge oder des Herz-Kreislauf-Systems (z. B. Brustschmerzen, Atemnot, Herzrhythmusstörungen, Schock)

      – Beteiligung anderer Organsysteme – Symptome des Typ I, sofern Beginn bereits unter erhöhtem Umgebungsdruck

      ■ Arterielle Gasembolie (AGE)

      – Fulminantes Syndrom mit frühem Beginn einer progredienten neurologischen Symptomatik

      Die Anwendung des Systems kann insbesondere durch eine Bagatellisierung der DCS Typ I zu Problemen führen, d. h. wenn bestimmte Symptome als „harmlos“ angesehen und nicht konsequent genug therapiert werden. Gerade die gefährliche Beteiligung des zentralen Nervensystems kann unter Umständen übersehen werden, wenn die neurologische Untersuchung nicht gründlich genug durchgeführt wird. Neurologische Symptome gehören zu den häufigsten Manifestationsformen der Dekompressionserkrankung; dabei handelt es sich allerdings bei der Vielzahl der Fälle um lokal begrenzte subjektive Sensibilitätsstörungen wie Taubheitsgefühle oder Kribbelparästhesien, die bei Fehlen anderer Symptome als Ausdruck einer Beteiligung des peripheren Nervensystems angesehen werden können.

      Die Abgrenzung zu Symptomen, die für eine spinale (Rückenmark) oder zerebrale (Gehirn) Manifestation sprechen, kann insbesondere im Frühstadium bei geringer Läsionsgröße klinisch sehr schwierig sein. Diese Feststellung wird unterstützt von retrospektiven Untersuchungen, in denen sich bei einigen als DCS Typ I einstuften Fällen nachträglich eine Beteiligung des zentralen Nervensystems herausstellte.

      Auch bestimmte Hautsymptome, z. B. die so genannte Cutis marmorata oder die lymphatische Schwellung, sind in aller Regel Ausdruck einer fortgeschrittenen und unmittelbar therapiebedürftigen Dekompressionserkrankung.

      Hinweis. Einer der Hauptkritikpunkte an der traditionellen DCS-Klassifikation ist die Gefahr, dass ernstzunehmende Symptome der Dekompressionserkrankung nicht oder nicht rechtzeitig als solche erkannt werden und dies zu falschen Therapieentscheidungen führt.

      Ein weiterer Kritikpunkt am traditionellen System ist, dass durch die Unterteilung in DCS Typ II und AGE suggeriert wird, zwischen zerebraler DCS und AGE könne grundsätzlich klinisch differenziert werden. Dies ist in aller Regel nicht möglich, wie Studien anhand einer niedrigen diagnostischen Übereinstimmung verschiedener klinischer Untersucher hatten zeigen können.

      Obwohl der Beginn der Symptomatik nach Erreichen der Wasseroberfläche gewisse Hinweise gibt, können beide Syndrome rasch auftreten und sich mit neurologischer Symptomatik vom zerebralen Verteilungsmuster manifestieren. Auch ist eine exakte Differenzierung in der Notfallsituation von untergeordneter Bedeutung, da sich das therapeutische Vorgehen bei der zerebralen DCS und AGE in der Akutphase nicht unterscheidet.

      Vergleichbar schwierig ist die klinische Differenzierung zwischen einer DCS mit Beteiligung des Innenohrs und eines Innenohrbarotraumas. Dieses Thema wird speziell in Kap. 11 abgehandelt.

      Hinweis. In der Akutphase nach dem Tauchunfall ist es oft nicht möglich, nur anhand von Unfallhergang, Anamnese und klinischer Untersuchung eine eindeutige Diagnose zu stellen. Gerade die klinische Unterscheidung zwischen einer DCS mit zerebraler Manifestation und einer zerebralen AGE ist oft unmöglich.

      10.1.2 Deskriptive Klassifikation („DCI-System“)

      Die Kritik an dem einfachen traditionellen DCS-System hat zur Entwicklung eines neuen deskriptiven Klassifikationssystems geführt. Dieses hat zum Ziel, die Erkrankungssymptome genauer zu beschreiben, ohne eine pathophysiologische Differenzierung oder Therapieempfehlungen zu suggerieren. In die Kategorien der Klassifikation fließen die zeitliche Dynamik, der Zeitpunkt des Beginns in Relation zum Ende des Tauchgangs, die beteiligten Organsysteme und das mögliche Vorliegen eines Barotraumas mit ein. Außerdem wird das Tauchprofil berücksichtigt, um die Belastung des Körpers mit Inertgas abzuschätzen.

      Kompaktinformation

      Deskriptive Klassifikation der Dekompressionserkrankung („DCI-System“)

      1. Zeitliche Dynamik

      –