Kay Tetzlaff

Moderne Tauchmedizin


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peripherer Nerven kann es auch im Bereich des peripheren Nervensystems zu Symptomen einer Dekompressionserkrankung kommen. Meist sind die langen Nerven der Extremitäten betroffen. Prinzipiell können aber auch Hirnnerven betroffen sein.

      In jedem Fall sind die Symptome bei isolierter peripherer Manifestation im Vergleich zu der zerebralen oder spinalen Manifestation lokal begrenzt, und es fehlen Bewusstseins-, Sprach-, Gedächtnisstörungen oder Querschnittssyndrome. Diese Unterscheidung ist differenzialdiagnostisch und prognostisch von großer Bedeutung.

      Zu typischen Symptomen gehören: umschriebene Lähmungen, Taubheitsgefühl, und gelegentlich Schmerzen im Versorgungsgebiet eines oder mehrerer peripherer Nerven.

      Fallbeispiel. Der 31-jährige Taucher F. beobachtet bei einem Tauchgang im Roten Meer eine Schule von Hammerhaien und erreicht dabei eine maximale Tauchtiefe von 48 m. Wegen knapper Luftverhältnisse muss er 4 min vor Ablauf der letzten Dekompressionsstufe aus 3 m auftauchen. Zunächst hat er keinerlei Beschwerden. 20 min später, während der Bootsfahrt zum Ufer, wird ihm übel, er erbricht sich. Zusätzlich verspürt er einen unangenehmen Druck in der Brust und einen Hustenreiz, der das Druckgefühl weiter verstärkt. Am Ufer angekommen, stellt er fest, dass er nicht mehr aufstehen kann und seine Beine sich taub anfühlen. Da er ohnehin müde ist, beschließt er, einfach im Boot liegen zu bleiben.

      Rettungskräfte transportieren den bewusstlosen F. mit dem Krankenwagen in das nächste Druckkammerzentrum. Während der Fahrt erlangt er zeitweise das Bewusstsein wieder und stellt fest, dass er beide Beine nicht bewegen und den linken Arm nur mit Mühe heben kann. Vier Stunden später beginnt die erste Rekompression in der Druckkammer, die zum Aufklaren und zu einer leichten Besserung der Lähmungserscheinungen führt. Eine vollständige Rückbildung der neurologischen Ausfälle kann jedoch auch nach 12 Druckkammerbehandlungen nicht erzielt werden.

      Diagnose: progrediente zerebrale, spinale, kardiopulmonale DCS (neurologische DCS Typ II und „chokes“).

      10.2.7 Symptome im Bereich des Innenohrs

      Eine Dekompressionserkrankung mit Manifestation im Bereich des Innenohrs tritt nach tiefen Tauchgängen mit Helium, aber auch bei Presslufttauchgängen auf. Leitsymptome sind Tinnitus, Hörminderung, Drehschwindel, Nystagmus, Übelkeit, Erbrechen. Auf die Dekompressionserkrankung des Innenohrs und ihre Abgrenzung zum Innenohrbarotrauma wird im Kap. 11 detailliert eingegangen.

      In einigen Fällen kann die differenzialdiagnostische Abgrenzung zu einer Manifestation im Bereich des Kleinhirns (zerebelläres Syndrom) Schwierigkeiten bereiten.

      10.2.8 Symptome im Bereich der Lunge

      Pulmonale Symptome der Dekompressionserkrankung manifestieren sich in der Regel vergleichsweise frühzeitig nach Erreichen der Wasseroberfläche. Sie entstehen durch Ansammlung von Gasblasen in der Gefäßstrombahn der Lunge. Der Gasaustausch zwischen Alveolen und Gefäßkapillaren ist meist gestört. Klinisch resultieren eine flache, oberflächliche, schnelle Atmung (Tachypnoe) und Atemnot (Dyspnoe), begleitet von Husten. Häufig kommt es anfangs zu Schmerzen in der Brust, die bei starker Einatmung zunehmen (engl. „chokes“). Pulmonale Symptome der Dekompressionserkrankung sind immer sehr ernst zu nehmen. Entsprechende Maßnahmen wie Überwachung, Sauerstoffgabe und Transport des Verunfallten in ein Druckkammerzentrum sind unverzüglich nötig.

      Unter Therapie kommt es oft zur raschen Besserung der Beschwerden. Möglich ist aber ebenso ein progredienter Verlauf mit Entwicklung eines Lungenödems bis hin zur „Schocklunge“ (ARDS, „adult respiratory distress syndrome“) und/oder eines Rechtsherzversagens.

      10.2.9 Symptome im Bereich des Verdauungssystems

      Symptome im Bereich des Verdauungssystems sind selten, aber unter Umständen folgenschwer. Sie entstehen durch die Anwesenheit von Gasblasen im Gefäßsystem der Verdauungsorgane, insbesondere des Darms. In schweren Fällen entstehen hämorrhagische Darminfarkte, die zu einer Bauchfellentzündung (Peritonitis), bis hin zu einer Sepsis führen können. In leichten Fällen sind Übelkeit, Erbrechen, krampfartige Schmerzen und Durchfälle möglich.

      10.2.10 Symptome im Bereich des Herz-Kreislauf-Systems

      Herzrhythmusstörungen

      Selten kann es im Gefolge einer Dekompressionserkrankung zu Herzrhythmusstörungen, meist einer ventrikulären Arrhythmie, kommen. Diese sind sehr gefürchtet, da sie unter Umständen nicht auf die therapeutische Rekompression ansprechen. Die Ursache der Herzrhythmusstörungen ist nicht vollständig geklärt, diskutiert wird eine direkte, mechanische Gewebsschädigung durch Gasbläschen im Reizleitungssystem des Herzens oder eine indirekte, ischämische Schädigung des Herzmuskels durch eine Gasembolie der Herzkranzgefäße.

      Embolische Infarkte

      Durch die Anwesenheit von größeren Gasblasen im Gefäßsystem besteht die Gefahr eines Verschlusses (Embolie) organversorgender Arterien oder Arteriolen, insbesondere durch Shunts. Als Folge kommt es zu einer lokalen Durchblutungsstörung (Ischämie) mit Sauerstoffmangel (Hypoxie) im von dieser Arterie abhängigen Stromgebiet. Betroffen sein können unter anderem Niere, Milz, Darm, Herzkranzgefäße, Gehirn. Ist eine größere Gehirnarterie betroffen, resultiert, wie oben beschrieben, das klinische Bild eines Schlaganfalls bzw. einer zerebralen Dekompressionserkrankung.

      Gerinnungsstörungen

      In seltenen Fällen kann es im Rahmen einer schweren Dekompressionserkrankung zu Störungen des Gerinnungssystems kommen. Der Pathomechanismus ist komplex; eine wesentliche Rolle spielt eine mechanische Schädigung der Gefäßwandendothelien durch Gasblasen. Durch die Endothelschädigung kann es wie bei einer Gefäßwandverletzung zu einer Aktivierung der Blutgerinnung, beginnend mit einer Anlagerung von Plasmaprotein, insbesondere von Fibrinogen, kommen. Dies führt wiederum zur Anheftung und Verklebung von Blutplättchen (Thrombozytenaggregation). In schweren Fällen manifestiert sich die so genannte „disseminierte intravasale Gerinnung“, die zu einem Verbrauch von Gerinnungsfaktoren und Blutplättchen führt und ohne Therapie in einen Kreislaufschock mündet. Eine alleinige Rekompressionsbehandlung ist hier in aller Regel nicht mehr ausreichend.

      10.3 Differenzialdiagnosen

      Aufgrund der großen Variabilität der Symptome kann die Dekompressionserkrankung mit vielen anderen Erkrankungen verwechselt werden. Hierbei kann es sich sowohl um solche handeln, die mit dem Tauchen in Zusammenhang stehen, als auch um vom Tauchen unabhängige Krankheiten. Oftmals sind Angaben über den zeitlichen Verlauf und das Tauchprofil die einzige Möglichkeit, die richtige Diagnose zu stellen. Im Zweifelsfall wird man sich in aller Regel für die Durchführung einer therapeutischen Rekompression entscheiden.

      Kompaktinformation

      Differenzialdiagnosen der Dekompressionserkrankung

      ■ Im Zusammenhang mit dem Tauchen stehende Erkrankungen (Auswahl):

      – Pulmonales Barotrauma

      – Pneumothorax, Mediastinalemphysem

      – Arterielle Gasembolie

      – Lungenödem

      – Beinahe-Ertrinken

      – CO-,CO2-, O2-Vergiftung

      – Hyperventilation

      – Periphere Nervenläsionen

      – Innenohrbarotrauma

      – Alternobarer Schwindel

      – High Pressure Nervous Syndrome (nur bei Tieftauchgängen)

      ■ Vom Tauchen unabhängige Erkrankungen:

      – Herzinfarkt

      – Schlaganfall

      – Epileptischer Anfall

      – Hypo-, Hyperglykämie

      – Migräneanfall

      – Bandscheibenvorfall

      – Grippale Infekte

      – Asthmatische Beschwerden

      – Verletzungen

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