Erik Eriksson

Schärenmorde


Скачать книгу

nach, dass es so schwer sein würde, es zu schaffen. Jetzt war er schon drei Jahre Kriminalreporter bei der Zeitung und hatte hauptsächlich über Anzeigen wegen Schlägereien vor Kneipen und gegen Männer, die ihre Frauen verprügelten, wenn sie sich samstagabends hatten volllaufen lassen, geschrieben. Er ging mindestens einmal in der Woche aufs Gericht und las die Urteile genau durch. Und er versuchte, alle Gerichtsverhandlungen zu besuchen, die vielleicht etwas ergeben könnten. Doch bislang hatte er noch nichts geschrieben, das ihm den sehnlichst erhofften Freifahrtschein für die Redaktion des Aftonbladets hätte einbringen können. Dort wollte er hin. Großstadtleben. Puls. Ganz Schweden, ja die ganze Welt als Arbeitsfeld. Da konnte er sicher sein, über Verbrechen von ganz anderen Dimensionen schreiben zu dürfen. Das war es, was er wollte. Dabei sein dürfen, herumschnüffeln, ein wenig eigene Untersuchungen vornehmen, vielleicht sogar ab und an der Polizei um eine Nasenlänge voraus sein, nicht immer nur den lächerlichen Mist bearbeiten, den sie von ihren Untersuchungen herausgaben.

      Er konnte nicht schlafen, weil er sich einbildete, es sei etwas im Gange. Die Polizei führte Kontrollen durch. Aber warum? Sollte er einen Knüller landen können? Er durfte nur nichts verpassen. Er durfte nicht etwas direkt vor der Nase haben und es nicht merken. Wo sollte er anfangen?

      Kurz nachdem er gedacht hatte, dass er am nächsten Tag Fatima Barsawi anrufen und sie fragen würde, ob sie nicht zusammen Pizza essen gehen könnten, schlief er ein.

      14

      Einige Tage vor dem Mittsommerfest bildete sich ein Hochdruckgebiet über den Britischen Inseln aus. Es verstärkte sich weiter auf seinem Weg über Dänemark und gelangte schon am Mittwoch mit Temperaturen über 30 Grad nach Schonen. Am Tag vor dem Mittsommerabend erreichte das Hochdruckgebiet sogar Uppland, an der Messstation in Svanberga wurden gegen Mittag ganze 31,2 Grad gemessen.

      Kriminalkommissar Harry Lindgren fand das absolut grässlich.

      Er saß in seinem Büro im Polizeigebäude, blätterte in den Tageszeitungen und verfluchte sich selbst dafür, dass er immer und immer wieder alles, was mit Feiern zu tun hatte, bis auf den allerletzten Moment aufschob. Weihnachten war es genauso. Harry Lindgren kaufte die Weihnachtsgeschenke am 23. Dezember und hatte Mühe alles zu schaffen, ehe die Geschäfte zumachten. Und jetzt müsste er sich, genauso wie letztes Weihnachten, mit tausend anderen auf dem Flygfyren drängen, um Essen für das Mittsommerfest einzukaufen. Sein Hemd würde durchgeschwitzt sein, bis er an der Reihe war, sein Geld in der staatlichen Verkaufsstelle für Alkoholika abzugeben. Wenn er mit allem fertig war, würde er vermutlich an einem Herzinfarkt sterben oder an Erschöpfung.

      Dann erspare ich mir auf jeden Fall den Weihnachtseinkauf, dachte Harry.

      Er schlug die Seite zwei der Norrtelje Tidning auf und konnte feststellen, dass die Zeitung von der Sache auf dem Parkplatz in Ledinge erfahren hatte. Die Information, die die Zeitung veröffentlichte, war jedoch genauso knapp wie die Information, die die Polizei selbst über den Vorfall erhalten hatte. »Polizist an der E18 niedergeschlagen – Täter spurlos verschwunden«. Das war eigentlich alles, was die Polizei wusste. Auf jeden Fall im Augenblick. Keith Holtha hatte dem Anschein nach ohne Grund von unbekannten Tätern einen Schlag auf den Kopf erhalten und war dann ohnmächtig geworden.

      Die Autodiebe waren auch schon mal netter, dachte Harry.

      Keith Holtha hatte zwar eine kräftige Beule am Hinterkopf, war aber mit einer kleineren Gehirnerschütterung davongekommen. Er lag noch im Norrtäljer Krankenhaus, würde jedoch vor dem Mittsommerwochenende entlassen werden. Keith selbst war keine große Hilfe gewesen. Er hatte fürchterliche Kopfschmerzen und eigentlich nur gesagt: »Es wurde mir einfach schwarz vor Augen«, als er gefragt wurde, was passiert sei.

      Harry schüttelte den Kopf.

      Zeit, ein wenig zu arbeiten, dachte er.

      Harry stand von seinem Stuhl auf und holte die Mappe mit seinen Unterlagen. Er nahm ein paar Papiere aus der Mappe, sowie einen USB-Stick, den er in den Computer steckte. Er durchsuchte den Stick entsprechend dem Datum, bis er die Aufzeichnung von dem Verhör mit Robert Skogh vom Montag in der Österåker-Anstalt fand.

      Während er das Programm startete, streckte er sich ein wenig. Er hörte seine eigene Stimme, die außerordentlich steif aufzählte, wer bei diesem Verhör anwesend war und aus welchem Grund. Er hörte die Stimme von Robert Skogh. Er hörte auch die Stimme von Robert Skoghs Anwalt. Ein Anwalt, dessen Namen er schon wieder vergessen hatte, obwohl er ihn sich selbst ein paar Sekunden zuvor hatte sagen hören.

      Ich muss klar denken, dachte Harry. Der Mittsommerstress war plötzlich wieder da. Der Verkehr auf dem Stockholmsvägen und das Gedränge in den Schlangen.

      Ich kann vielleicht Fatima bitten, in die Alkoholverkaufsstelle zu gehen, dachte er, während er den Blick hob und aus dem Fenster sah. Sie hat sicherlich nichts anderes vor.

      Harry schüttelte den Gedanken ab, blickte wieder auf seinen Computer und hörte weiter die Tonaufnahmen ab. Irgendetwas hatte Robert Skogh gesagt, was Harry während des Verhörs nicht richtig verstanden hatte. Irgendetwas, was Robert gesagt hatte und worüber Harry während der Rückfahrt nach Norrtälje nachgedacht hatte, was er jedoch nicht richtig zu fassen bekommen hatte.

      Ein Gefühl, dachte Harry. Ich taste mich in dieser Ermittlungssache vor und verlasse mich auf ein Gefühl.

      Er war nun bei dem Abschnitt angekommen, wo über die Nacht, in der Lars Gustavsson im Hafen ermordet worden war, gesprochen wurde. Er hörte erneut seine eigene Stimme.

      »Ist es nicht besser, du sagst, wie es gewesen ist, Robert?«

      Es folgten einige Sekunden Schweigen. Dann kam Robert Skoghs Antwort.

      »Ich habe niemanden getötet. Ich habe nicht vor, etwas zu gestehen, was ich nicht getan habe.«

      Harry machte eine Pause und vergrub das Gesicht in den Händen. Er rieb sich die Augen und blinzelte, als er sie wieder öffnete. Er stand auf und ging in seinem Büro auf und ab, während er vor sich hin murmelte. Nach einer Weile setzte er sich wieder. Er spulte die Tonaufzeichnung einige Sekunden zurück und hörte sich denselben Abschnitt noch einmal an. Er sah auf die Uhr, als er seine Frage zum zweiten Mal hörte:

      »Ist es nicht besser, du sagst, wie es gewesen ist, Robert?«

      Harry sah auf die Uhr. Er zählte die Sekunden, indem er den Sekundenzeiger auf der analogen Uhr verfolgte. Nach zehn Sekunden kam die Antwort.

      »Ich habe niemanden getötet. Ich habe nicht vor, etwas zu gestehen, was ich nicht getan habe.«

      Das ist es, dachte Harry und stoppte die Tonaufzeichnung. Er erhob sich und begann wieder im Büro auf und ab zu gehen, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Dann setzte er sich schnell wieder und hörte die Tonaufnahmen weiter ab. Jetzt war er eifriger.

      Nun war wieder er selber zu hören. Dieses Mal klang er aggressiver. Er war absichtlich laut, um Robert Skogh unter Druck zu setzen.

      »Du sitzt im Schlamassel, Robert! Du hattest Blutflecken auf deiner Jacke! Dafür musst du eine Erklärung abgeben, sonst wirst du hier lange sitzen. Glaub mir. Du wirst verurteilt werden. Du hast keine Chance!«

      Harry sah wieder auf seine Uhr. Er zählte fünfzehn Sekunden. Dann war Robert Skoghs Stimme zu hören.

      »Ich kann nicht gestehen, was ich nicht getan habe.«

      Harry stoppte die Tonaufzeichnung. Da haben wir es wieder, dachte er. Warum? Warum wartet man fünfzehn Sekunden lang, um zu antworten, dass man unschuldig ist? Müsste diese Antwort nicht sofort kommen? Müsste Robert Skogh nicht empört sein und seine Antwort hinausschreien? Warum wartet er mit seinen Antworten?

      Harry Lindgren stand zum vierten Mal innerhalb weniger Minuten auf.

      »Ich habe nicht richtig auf das reagiert, was Robert Skogh gesagt hat«, sagte er leise vor sich hin, während er gleichzeitig bemerkte, wie der Schweiß unter den Armen so langsam durch das Hemd zu sehen war.

      »Es war die Zeit, die er brauchte, ehe er antwortete.«

      Es wurde Mittsommerabend