darf nichts zu lange dauern.“ In drohend wirkender Haltung schob er sich auf sie zu. „Und du? Wohin willst du – mitten in der Nacht?“
„Wasser holen.“
„Du hast den Kübel vergessen.“
„Er steht neben dem Brunnen“, sagte sie.
„Ich habe hier keinen Brunnen gesehen“, sagte Gilbert Sarraux. Er spürte, daß etwas nicht stimmte, und schob sie in die Hütte zurück. „Aber das ist ja auch egal. Laß uns warten, bis Joao wieder aufwacht. Ich nehme ihn dann gleich mit, verstehst du? Wir haben noch was anderes vor, als nur mit Weibern rumzumachen.“
Er schlug die Tür hinter sich zu und warf einen Blick auf den schnarchenden Portugiesen. „Ha, da ist er ja.“ Er hob die Stimme und brüllte: „He, Joao, wach auf! Los, wir wollen noch was unternehmen! Laß dich nicht hängen! Wird’s bald?“ Sarraux hatte von dem Mädchen, mit dem er zusammengewesen war, vernommen, daß es unweit des Hafens eine recht günstige, kleine Ankerbucht gab, in der man ungesehen landen konnte. Die wollte er sich anschauen, für alle Fälle, und zwar jetzt, im Dunkeln, aber nicht ohne Joao Nazario.
Nazario rührte sich nicht, er schnarchte weiter. Sarraux war mit wenigen Schritten bei ihm, packte seine Schulter und schüttelte ihn. Auch jetzt wachte der Portugiese nicht auf. Sarraux fuhr zu Esther herum.
„Was hast du mit ihm angestellt?“ schrie er, rückte auf sie zu und zückte sein Messer.
„Nichts!“ rief sie entsetzt. „Er schläft doch!“
„So tief nie! Ich kenne seine Gewohnheiten!“
„Dann weiß ich nicht, was er hat“, sagte sie mit bebender Stimme. „Steck das Messer weg.“
„Du hast ihm ein Schlafmittel eingetrichtert!“ Sarraux holte aus und verpaßte ihr eine schallende Ohrfeige, die sie zurückwarf. „Warum? He, warum? Was hat er dir erzählt? Hast du ihn ausgehorcht?“
„Nein!“
„Du wolltest ihn ausplündern, wie?“ Sarraux bückte sich nach Nazarios Hose und hob sie auf. Münzen fielen aus den Taschen und rollten über den Boden.
„Nein, das ist es auch nicht“, sagte er. „Du warst ja schon auf der Flucht, als ich erschien. Ohne das Geld wärst du nicht abgehauen, wenn du hättest klauen wollen.“ Wieder schritt er drohend auf sie zu. „Also, was ist es? Hat er sich verplappert? Hat er preisgegeben, daß wir als Agenten auf Tortuga sind?“
„Nein!“ stieß sie in panischer Angst hervor. „Ich weiß von nichts! Ich will nichts wissen!“ Und doch hatte sie jetzt die Bestätigung dafür, daß sie sich nicht geirrt hatte. Spione auf Tortuga! Feinde des Seewolfs und seiner Verbündeten! Sie mußte Tomdijk und Rivero warnen!
Sie wich vor dem Bretonen zurück.
„Sei doch mal vernünftig – bitte“, sagte sie flehend. „Ich habe nichts gegen deinen Freund, ganz im Gegenteil. Wir haben uns großartig amüsiert. Und ich interessiere mich nicht für die privaten Angelegenheiten meiner Kunden. Glaub mir, bitte. Wir sind doch Landsleute, nicht wahr?“
„Ich sehe dir an, wie du lügst“, zischte der Bretone. „Bleib stehen. Hilf mir, Joao wieder auf die Beine zu bringen.“ Er hob das Messer um einen Deut an. „Sei brav. Oder muß ich böse werden?“
Esther hatte den Tisch erreicht, auf dem die Öllampe stand. Blitzschnell duckte sie sich, fuhr halb herum und schleuderte die Lampe vom Tisch. Sie flog auf Sarraux zu. Er stieß einen wilden Fluch aus und wich aus. Esther rannte zur Tür, riß sie auf und stürzte ins Freie. Sarraux war hinter ihr, aber sie hoffte, im Dickicht, das unweit der Hütte begann, untertauchen zu können.
Das Messer flog durch die Nacht, sie sah es nicht und hörte es nicht. Aber sie spürte, wie es sich brennendheiß in ihren Rücken bohrte. Sie glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren, eine unsichtbare Kraft hob sie hoch und schmetterte sie auf die Felsen. Doch den Aufprall fühlte sie nicht mehr. Sie war tot, als Gilbert Sarraux sie erreichte und sich über sie beugte.
Er verzog keine Miene, nahm sein Messer wieder an sich und schleppte die Tote zurück in die Hütte. Er ließ sie achtlos zu Boden sinken, ging zum Bett, lud sich den besinnungslosen Kumpan auf die Schulter und verließ die Hütte. Die Öllampe hatte er aufgehoben und gelöscht.
Im Freien blieb er kurz stehen und spuckte verächtlich aus.
„Weiberpack“, murmelte er. „Ihr taugt nur zu dem einen, zu nichts anderem.“ Er ging weiter und verschwand mit Nazario im Dickicht.
Unweit der Hütte, an einer Quelle, die einer Felsspalte entsprang, verharrte Sarraux und lud den Portugiesen auf dem Boden ab. Er hielt ihn so, daß das kalte Wasser über seinen Kopf sprudelte. Einige Zeit mußte er warten, und fast sah es so aus, als würde die Behandlung nichts nutzen. Dann aber erlangte Joao Nazario das Bewußtsein wieder.
„Was ist los?“ murmelte er. „Wo, zum Teufel, bin ich?“
„In Sicherheit“, erwiderte der Bretone. „Aber die Hure hat dir einen Schlaftrunk eingeflößt. Sie wollte dich verpfeifen, glaube ich. Hast du ihr was verraten?“
„Nein, aber sie muß was geahnt haben. Hölle – und ich Narr bin ihr auf den Leim gegangen. Wo ist sie jetzt? Ich will sie mir kaufen. Das wird sie mir büßen.“
„Das ist nicht mehr nötig“, sagte der Bretone. „Ich habe bereits alles erledigt.“
9.
Manon saß in einer der Nischen der „Schildkröte“ und unterhielt sich mit dem grauhaarigen Engländer, der zurückgekehrt war. Er hatte noch einen Schlummertrunk zu sich nehmen wollen, aber bei dem einen Becher war es nicht geblieben. Jetzt lallte er nur noch und versuchte, Manon etwas über seine Heimat Northumbria zu erzählen, aber nicht einmal das wollte ihm mehr gelingen.
Manon hörte nur mit halbem Ohr hin. Immer wieder sah sie zur Tür, ob Esther zurückkehrte. Sie hatte das Mädchen mit dem dunkelhaarigen Mann gehen sehen, und sie wußte, daß sie zu der roten Hütte hinaufgestiegen waren. Manon und ihre Freundinnen hatten untereinander eine Sicherheitsabsprache. Sie gaben sich ein Zeichen, wenn sie sich mit einem Kunden zurückzogen. Wenn sie dann nach Ablauf einer bestimmten Frist nicht wiederauftauchten, mußte zwangsläufig irgend etwas passiert sein.
Befand Esther sich in Gefahr? Manon beschloß, sich unverzüglich Gewißheit zu verschaffen. Sie stand auf und verließ die Nische, fast unbemerkt eilte sie aus der „Schildkröte“ ins Freie, versäumte es aber nicht, Cécile und Julie ein entsprechendes Zeichen zu geben.
Der Grauhaarige bemerkte nicht, daß Manon plötzlich verschwunden war. Er schlief am Tisch ein. Diego grinste, als er ihn entdeckte.
„Du solltest lieber Stockfisch fressen, statt mit den Mädchen anzubändeln, alter Mann“, sagte er. „Bei dir läuft der Kahn nicht mehr, es herrscht totale Kalme.“
Manon hatte unterdessen die rote Hütte fast erreicht. Sie hastete die Steigung hinauf, ihr Herz schlug schnell und wild. Sie kümmerte sich nicht darum, mit jedem Schritt wuchs ihre Sorge um Esther.
Atemlos erreichte sie die Hütte. Sie sah im Mondlicht, daß die Tür halb offenstand und verharrte wie vom Donner gerührt. Kein Licht brannte im Inneren, und doch spürte sie instinktiv, daß Esther hier sein mußte. Leise rief sie ihren Namen, aber sie erhielt keine Antwort.
Manon gab sich einen Ruck und trat ins Innere. Ein Streifen fahlen Mondlichts fiel durch das einzige winzige Fenster der Behausung, und sofort entdeckte sie die reglose Gestalt am Boden.
„Mein Gott, Esther“, sagte sie fassungslos.
Sie kniete sich neben sie hin, beugte sich über sie und fühlte nach ihrem Puls – ergebnislos. Sie versuchte festzustellen, ob Esther atmete, aber das Heben und Senken des Brustkorbes hatte für immer ausgesetzt. Dann drehte Manon sie auf die Seite und sah die Wunde in ihrem Rücken.
Mit