Roman Sandgruber

Traumzeit für Millionäre


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so behaglich fühlte wie in dem Liebenschen Hause.“218

      Demselben Milieu entstammte Dr. Theodor Gomperz. Seine Brüder waren die Industriellen und Bankiers Max und Julius von Gomperz, seine Schwestern waren Josephine, verehelichte Wertheimstein, und Sophie, verheiratet mit dem Bankier und Baron Eduard Todesco. Beide waren sie bekannt für ihre Salons, in denen die berühmtesten Wirtschaftsführer, Politiker und Künstler verkehrten. In diesem hochgeistigen Umfeld, das gleichzeitig in Eduard Todesco, der Shakespeare für einen zeitgenössischen Dichter und Cicero für einen griechischen Denker hielt, auch sprichwörtliche Halbbildung beherbergte, entfaltete sich der gewaltige geistige Horizont von Theodor Gomperz. Seine Karriere war die eines Privatgelehrten. Ohne Doktoratsabschluss wurde er habilitiert und mit einem Ehrendoktorat der Universität Königsberg zum ordentlichen Professor für Klassische Philologie in Wien ernannt. 1896 bis 1909 publizierte er sein dreibändiges Hauptwerk Griechische Denker. 1900 wurde er emeritiert. Seine Schriften und Briefe sind höchste Zeugnisse der hohen Kultur des Fin de Siècle.

      Weniger an wissenschaftlichem Ruhm und Erbe hinterließ Dr. Johann Oser, Professor der chemischen Technologie anorganischer Stoffe an der Technischen Hochschule Wien. Er übernahm im Jahre 1876 die Lehrkanzel, war 1886/​87 Rektor und wurde 1901 pensioniert. Als Sohn eines Försters, mit Ausbildung an der Forstakademie in Mariabrunn, an der Technischen Hochschule und an den Universitäten Wien und Paris war er durch die Heirat mit der um 15 Jahre jüngeren Josefine Wittgenstein, einer Schwester von Karl Wittgenstein und Tante des Philosophen Ludwig Wittgenstein (Tante Fini) zu Geld gekommen. Karl Kraus schrieb über den alten Oser, der noch immer Vorlesungen hielt, er denke bei seinem Namen nicht an das Polytechnikum, sondern die Poliklinik: „Diese Männer, die der österreichischen chemischen Industrie die Wege zeigen sollen, humpeln mühselig, meist mit einer Verspätung von zehn Jahren, dem technischen Fortschritt nach“, was sicher ungerecht war oder vielleicht sogar einer Verwechslung entsprang.219 Unter seiner Leitung wurde über die Propylenoxyddarstellung, die Alkoholgärung und die Gallussäure gearbeitet, von ihm stammt auch ein einst weitverbreiteter Ofen zur Elementaranalyse.

      Die beiden Privatdozenten Wilhelm Friedrich Figdor und Karl Przibram standen am Beginn ihrer wissenschaftlichen Karriere. Der Physiker Przibram, 1910 gerade 32 Jahre alt, 1905 habilitiert, forschte ab 1912 am Wiener Institut für Radiumforschung über die Radiophotolumineszenz. Erst 1927 wurde er zum außerordentlichen Universitätsprofessor ernannt. 1938 wurde er entlassen, musste flüchten und überlebte in Belgien als U-Boot. 1946 kehrte er als ordentlicher Universitätsprofessor an die Universität Wien zurück und wurde zum korrespondierenden, 1950 zum wirklichen Mitglied der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Er beschrieb das Milieu seiner Kindheit und Jugend in einer autobiographischen Skizze: „Der in meinem Elternhaus herrschende Geist war der des gebildeten jüdischen Bürgertums der liberalen Ära, mit seinem unbedingten Glauben an den Fortschritt und seiner Aufgeschlossenheit für alle Errungenschaften der Kunst und Wissenschaft. Zu meinen Onkeln gehörten die Juristen Josef Unger und Josef Schey sowie der Chemiker Adolf Lieben. Mein Vater, übrigens ein begabter Dichter und voll tiefen sozialen Empfindens, interessierte sich sehr für die technischen Anwendungen der Naturwissenschaften. Er war an der Erfindung einer galvanischen Batterie beteiligt, mittels welcher er anfangs der achtziger Jahre unsere Wohnung beleuchtete.“220

      Ähnlich war die Karriere von Dr. Wilhelm Friedrich Figdor. Nach Studien in Bonn und Wien und Forschungsreisen nach Java und Ceylon war er 1899 zum Privatdozenten und 1909 zum außerordentlichen Professor für Pflanzenphysiologie an der Universität Wien ernannt worden. 1902 hatte er gemeinsam mit dem 28-jährigen Zoologen Hans Przibram, dem jüngeren Bruder von Karl Przibram, und dem 33-jährigen Botaniker Leopold Portheim das anlässlich der Wiener Weltausstellung 1873 errichtete Vivarium im Wiener Prater gekauft. Die drei jungen Wissenschafter wandelten den Prachtbau in ein privates Forschungsinstitut um, das sie als Biologische Versuchsanstalt (BVA) auf eigene Rechnung führten und, ausgestattet mit der damals modernsten Laborinfrastruktur, zu einem Forschungszentrum für experimentelle Biologie machten. 1914 schenkten sie die Anstalt der Akademie der Wissenschaften, ergänzt mit einer Stiftung von 300.000 Kronen, um deren langfristigen Erhalt zu sichern. Das Institut wurde in der Zwischenkriegszeit zu einer weltweit führenden biologischen Forschungsanstalt. Wilhelm Figdor blieb das schreckliche Ende seiner Gründung erspart. Er war am 27. Jänner 1938 verstorben, knapp vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Das Institut hingegen wurde gleich nach dem Anschluss wegen seiner jüdischen Gründer und Mitarbeiter geschlossen und das Gebäude 1945 durch Kriegshandlungen zerstört. Hans Przibram und seine Ehefrau starben im Konzentrationslager Theresienstadt. Die Biologische Versuchsanstalt gilt als jenes Forschungsinstitut in Österreich und im Deutschen Reich mit der im Verhältnis zu seiner Größe höchsten Anzahl an NS-Opfern.221

      Unter den Millionären von 1910 finden sich auch drei Studenten. Alle drei machten sie eine mehr oder weniger spektakuläre Karriere. (Robert) Gustav (Adolf), Freih. von Heine-Geldern, wird 1910, 25 Jahre alt, als Student in Paris geführt. Sein Wiener Einkommen betrug 179.700 Kronen. 1925 habilitierte er sich für Ethnologie mit besonderer Berücksichtigung Indiens und Südostasiens und lehrte Anthropologie an der Universität Wien, wo er im Jahre 1931 zum ordentlichen Professor ernannt wurde. Vor den Nationalsozialisten geflohen, lebte er ab 1938 als jüdischer Flüchtling in New York City, wo er am amerikanischen Museum der Naturgeschichte arbeitete. Zusammen mit Margaret Mead, Ralph Linton, Adriaan J. Barnouw und Claire Holt gründete er 1941 das East Indies Institute of America (später Southeast Asia Institute). Er kam 1950 wieder nach Wien zurück, wo er das Ethnologie-Institut neu aufbaute.

      Anders war das Schicksal von Albrecht Ritter v. Kubinzky, ebenfalls 25 Jahre alt. Er lebte 1910 in Wien als Student der Philosophie mit einem Jahreseinkommen von 134.835 Kronen. 1912 ließ er sich taufen und bewegte sich in erzkatholischen Kreisen. Sein Interesse galt einem möglichst klingenden Adelstitel, den er auf Umwegen über eine gekaufte spanische Staatsbürgerschaft auch erreichte. Dass ihm gerade diese Staatsbürgerschaft mit dem an sich recht wertlosen Marquis-Titel helfen sollte, den NS-Terror in Wien zu überleben, gehört zu den nicht vorhersehbaren Zufällen der Geschichte.

      Doch der reichste Student war Ludwig Wittgenstein. Die mittlere Schulbildung hatte er statt im noblen Wien ab 1903 an der Linzer Realschule absolviert, die zur gleichen Zeit auch der nur um sechs Tage ältere Adolf Hitler in einer anderen Klasse besuchte. In Linz wohnte Ludwig Wittgenstein bei einem der Lehrer des Akademischen Gymnasiums, dem Professor für Latein und Griechisch Dr. Josef Strigl. Die Einkommensunterschiede sind exzeptionell: Ludwig Wittgenstein deklarierte im Jahr 1910 ein Jahreseinkommen von 237.308 Kronen, das Jahreseinkommen seines Linzer Vermieters, des Mittelschulprofessors Strigl, betrug etwa 2.800 bis 3.300 Kronen. Ob sich Hitler und Wittgenstein kannten, ist unsicher. Aber Hitler schreibt in Mein Kampf: „In der Realschule lernte ich wohl einen jüdischen Knaben kennen, der von uns allen mit Vorsicht behandelt wurde, jedoch nur, weil wir ihm in Bezug auf seine Schweigsamkeit, durch verschiedene Erfahrungen gewitzigt, nicht sonderlich vertrauten.“222 Wittgenstein war im Jahr 1910 als Einundzwanzigjähriger nach einigen Semestern an der Technischen Hochschule Berlin an der Technischen Abteilung der Universität Manchester eingeschrieben und beschäftigte sich mit Forschungen zur Aeronautik, aus denen er sich eine kleine Verbesserung des gängigen Flugzeugpropellers patentieren ließ. Ende 1911 entschied er sich jedoch für das Philosophiestudium bei Bertrand Russell in Cambridge. Mit seinem vielen Geld konnte und wollte er nicht viel anfangen.

      Auffallen muss, dass weder die akademische Jurisprudenz noch die berühmte Wiener nationalökonomische Schule unter den Millionären vertreten war. Carl Menger, Friedrich von Wieser oder Eugen Ritter von Böhm-Bawerk stiegen zwar ins höchste österreichische Establishment auf. Unter den Spitzenverdienern findet sich jedoch keiner von ihnen. Hingegen waren Professorenwitwen unter den Millionärinnen des Jahres 1910: Hermine Seegen konnte vom Vermögen, das ihr Gatte, der Balneologe und Physiologe Joseph Seegen, als Kurarzt in Karlsbad (Karlovy Vary) und ao. Prof. für Balneologie in Wien aufgebaut hatte, hervorragend leben. Cölestine von Oppolzer und Rebecca Mauthner verdankten ihre Einkommen nicht der Pension oder dem Vermögen ihrer professoralen Gatten, sondern ihrer eigenen Herkunft. Cölestine von Oppolzer, eine geborene Mautner von Markhof, hatte 1865 Theodor Egon Ritter von Oppolzer geheiratet, dem eine glänzende Karriere als Professor der Astronomie bevorgestanden wäre – durch