in volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Umfeldern in kurzer Zeit angemessen (re)agieren zu können.
Diesen Fokus auf die agile Organisationsgestaltung verdeutlicht auch die Abbildung 3. In den Kernkapiteln 6-8 dieses Einführungsbeitrags werden verschiedene agile Prozessmethoden sowie Strukturansätze vorgestellt, erläutert und bewertet. Dies soll dem Leser helfen, agil zu agieren und darüber – indirekt – auch eine agile Kultur zu entwickeln. Da die Prozesse und Strukturen immer von Menschen gelebt werden und daher eine Trennung von Organisation und Kultur nie ganz trennscharf sein kann, wird der wichtige Bereich der agilen Kultur aber nicht ganz ausgenommen, sondern im folgenden Kapitel 2.3 sowie im Kapitel 9 (agile Zusammenarbeit und Führung) in den notwendigen Grundzügen betrachtet. Die Beiträge von HARTMANN und SCHULLER/FUCKER befassen sich explizit mit einer agilen Kultur, und auch in vielen anderen Beiträgen wird der Kulturaspekt angesprochen.
Abb. 3: Zusammenspiel von agiler Kultur und agiler Organisation
2.3 Werte und Prinzipien
Um das Werte- und Prinzipiengerüst einer agilen Kultur bzw. eines agilen Mindsets zu verstehen, lohnt sich ein Blick in das „Agile Manifesto“ sowie ergänzend in die Grundlagen von „Lean Thinking“.
Das Agile Manifest aus dem Jahre 2001 (vgl. Kapitel 2.1) spiegelt die Einstellung und Haltung einer Gruppe von Software-Entwicklern wider, die feststellten, dass die damaligen Prinzipien und Arbeitsweisen der Software-Entwicklung nicht mehr zu den dynamischen Anforderungen passten, mit denen sie konfrontiert waren. Aus der Haltung „We are uncovering better ways of developing software by doing it and helping others do it“ hat sich ein Werte- und Prinzipiengerüst entwickelt, das heute über IT-Abteilungen hinaus auf alle Organisationsbereiche ausstrahlt. Den Kern des agilen Manifests bilden 4 normative Wertepaare und 12 Prinzipien bzw. Handlungsgrundsätze.30
Im Hinblick auf die agilen Werte heißt es:
Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Tools
Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation
Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlungen
Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans.
Diese vier Wertepaare verdeutlichen den tieferen Sinn von Agilität. Der Fokus liegt auf praktikablen, funktionierenden Lösungen, der Interaktion zwischen verschiedenen Individuen und mit dem Kunden sowie auf kontinuierlicher Veränderung bzw. Verbesserung. Es handelt sich aber bei den Aussagen oben nicht um unvereinbare Gegensatzpaare oder um die Feststellung, dass Prozesse, Tools, Dokumentation, Vertragsverhandlungen und Pläne obsolet oder überflüssig sind. Es zeigt vielmehr, dass die Bedeutung der Werte auf der linken Seite unter den aktuellen Rahmenbedingungen höher eingeschätzt wird und diese im Zweifel denen auf der rechten Seite vorgezogen werden. Auf dieser Grundlage dienen die Wertepaare als Leitlinie für die Priorisierung von Initiativen, Projekten und Aufgaben von der strategischen bis zur operativen Ebene (vgl. Kapitel 6-8).
Die folgenden zwölf agilen Prinzipien konkretisieren dieses Wertegerüst:
1. Kundenpriorität: Unsere höchste Priorität ist es, den Kunden durch frühe und kontinuierliche Auslieferung wertvoller Software zufrieden zu stellen.
2. Veränderungsgetrieben: Heiße Anforderungsänderungen selbst spät in der Entwicklung willkommen. Agile Prozesse nutzen Veränderungen zum Wettbewerbsvorteil des Kunden.
3. Funktionsfähige Inkremente: Liefere funktionierende Software regelmäßig innerhalb weniger Wochen oder Monate und bevorzuge dabei die kürzere Zeitspanne.
4. Zusammenarbeit: Fachexperten und Entwickler müssen während des Projektes täglich zusammenarbeiten.
5. Motivierte Individuen: Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen, und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen.
6. Direkte Kommunikation: Die effizienteste und effektivste Methode, Informationen an und innerhalb eines Entwicklungsteams zu übermitteln, ist im Gespräch von Angesicht zu Angesicht.
7. Messung des Fortschritts: Funktionierende Software ist das wichtigste Fortschrittsmaß.
8. Gleichmäßiges Tempo: Agile Prozesse fördern nachhaltige Entwicklung. Die Auftraggeber, Entwickler und Benutzer sollten ein gleichmäßiges Tempo auf unbegrenzte Zeit halten können.
9. Exzellenz in Technik und Design: Ständiges Augenmerk auf technische Exzellenz und gutes Design fördert Agilität.
10. Einfachheit: Die Kunst, die Menge nicht getaner Arbeit zu maximieren, ist essenziell.
11. Selbstorganisation: Die besten Architekturen, Anforderungen und Entwürfe entstehen durch selbstorganisierte Teams.
12. Selbstreflexion: In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann, und passt sein Verhalten entsprechend an.
Der Werte- und Prinzipienrahmen des agilen Manifests orientiert sich an bereits bestehenden Werten, Prinzipien und Rahmenwerken, die sich ebenso für eine schnelle, anpassungsfähige und lernende Organisation stark machen. So deckt sich die agile Grundhaltung in großen Teilen bspw. mit den Lean-Prinzipien, deren Vertreter Anfang der 1990er Jahre – motiviert durch die Erfolge des TOYOTA Production System (TPS) – auf den Plan traten (vgl. Kapitel 2.1). Kontinuierliche Verbesserung und das Streben nach Perfektion bilden das Fundament von Lean, dessen fünf Leitprinzipien sich auf agile Arbeitsweisen übertragen lassen bzw. Ähnlichkeiten aufweisen:31
Definiere den Wert aus der Sicht des Kunden – Schaffe ein gemeinsames Verständnis darüber, was dem Kunden wichtig ist, und richte dich darauf aus.
Identifiziere den Wertstrom – Denke die Prozesse vom Kunden zum Kunden (End to End) und setze diese effizient um, indem Du Verschwendungen eliminierst.
Erzeuge einen kontinuierlichen Arbeitsfluss – Schaffe eine optimale bereichsübergreifende Taktung und Synchronisation.
Führe das Pull-Prinzip ein – Ziehe Kundenaufträge durch den Prozess, jede Aktivität wird von der nachfolgenden Aktivität ausgelöst.
Strebe Perfektion an – Etabliere einen gemeinsamen kontinuierlichen Verbesserungsprozess.
Die Grundhaltung von Lean (= schlank) ist es also, kundenorientierte Wertschöpfung ohne Verschwendung (jap. „muda“) zu schaffen. Der Kerngedanke spiegelt sich wohl am besten in dem fast schon philosophisch anmutenden 10. agilen Prinzip der Einfachheit wider, nämlich „der Kunst, die Menge nicht getaner Arbeit zu maximieren!“ Alle wertschöpfenden