„durchschlagen“. Diese Erklärung wird auf den Rückmeldeveranstaltungen häufig von Teilnehmern spontan vorgeschlagen.
Ein zweites psychologisch-soziologisches Erklärungselement könnte das Modell der Passung von Person und Umwelt bereitstellen.28 Dieses Element mehrerer miteinander verbundener Punkte ist gleichermaßen herausfordernd, aber häufig schwieriger zu akzeptieren:
1. Es könnten sich Personen von dem Leben in der Kirche angezogen fühlen (Selbst-Selektion), die von vornherein geringere Lebenssicherheit besitzen (weil sie möglicherweise hoffen, dort leichter in die Lebenssicherheit „hineinwachsen“ zu können bzw. hoffen, dass persönliche Lebenssicherheit durch den kirchlichen Rahmen substituiert wird) (→ Kap. 4.3.).
2. Die Kirche als Organisation könnte ein Rollenmodell bieten bzw. sogar verlangen (organisationale Selektion), das Personen favorisiert, die weniger „Eigenständigkeit“, eigene Lebensorientierung und eigenen Gestaltungswillen mitbringen, weil das hierarchische Rollenmodell solche Personen leichter handhaben kann.
3. Seelsorgende haben häufig mit einem schwächeren Kohärenzgefühl eine besondere Sensibilität und Vulnerabilität für Dinge, die im Leben nicht aufgehen, die ihnen zugleich für seelsorgliche Aufgaben zugute kommen.29
3.5.8. Erklärungsansätze für Unterschiede des Kohärenzgefühls aufgrund von Tätigkeit und Position
In diesem Kontext braucht es weitere Überlegungen zum Verständnis der Tatsache, dass unterschiedliche Positionen und Tätigkeitsbereiche bei den Priestern mit unterschiedlichen Niveaus des Kohärenzgefühls assoziiert sind (→ Kap. 6).
Vor allem Priester in der kategorialen Seelsorge (die Expertenpositionen oder verantwortliche Positionen haben) oder leitende Pfarrer in der territorialen Seelsorge zeichnen sich durch höheres Kohärenzgefühl aus (selbst wenn es vergleichsweise relativ niedrig ist). Umgekehrt sind Personen in der territorialen Seelsorge als „Beginner“ (Vikare/Kapläne) bzw. als „Allrounder“ in der zweiten Reihe mit „nur“ seelsorglichen Aufgaben durch ein schwächeres Kohärenzgefühl gekennzeichnet. Hier seien zwei Deutungsmodelle angeboten:
1. Das Modell der Passung von Person und Umwelt:
Die Organisation platziert Personen, die sie mit geforderten Fähigkeiten und Fertigkeiten, höherer Belastungskapazität und besserer Gesundheit ausgestattet sieht, an den stärker fordernden Positionen. Sie trifft damit eine Auswahl von geeigneten Personen bei der kategorialen Seelsorge für Aufgaben mit Führungsverantwortung oder für Aufgaben mit speziellen Zielgruppen oder Spezialkenntnissen bzw. für territoriale Aufgaben mit Führungsverantwortung als leitende Pfarrer. In der Studie würde sich dies im besseren Kohärenzgefühl messbar niederschlagen. Die Folge dieses Deutungsansatzes könnte sich belastend für das Selbstverständnis der Seelsorge und der Seelsorger/-innen selbst auswirken : „Nur-Seelsorgstätigkeit“ in der territorialen Seelsorge käme in den Verdacht einer „Seelsorgebefähigung zweiter Klasse“. Die betroffenen Personen würden darunter leiden und sich eventuell sogar als Seelsorger/-innen zweiter Klasse fühlen. Damit würde auch der große Wunsch vieler nach dem Wechsel in die Kategorialseelsorge erklärbar.
2. Das Konzept eines „aufgabenspezifischen Kohärenzgefühls“ mit seinen Auswirkungen auf das globale Kohärenzgefühl: In der Anwendung auf den pastoralen Dienst besagt dieses Konzept,30 dass Personen mit spezifischen Aufgaben nicht nur besser selektiert werden, sondern dass sie präziser definierte Aufgabenbereiche und qualifizierte und aufgabenspezifische Ausbildungen erhalten. Zudem können sie ihre Tätigkeit (auch ihre Arbeitszeiten!) besser selbständig kontrollieren und häufig auch klarere Rückmeldung über die Fruchtbarkeit ihrer Tätigkeit erhalten.
In der Sprache des Salutogenese-Modells ausgedrückt heißt das: Sie können ihre Tätigkeiten besser verstehen und sich in ihrem Tätigkeitsfeld besser orientieren (Verstehbarkeit), sie haben für ihre Tätigkeit effektivere Ressourcen und können sie besser gestalten (Gestaltbarkeit), sie haben in Bezug auf ihre Tätigkeit eine spezifische Motivation, erleben vergleichsweise kontrollierbare Erfolge und entsprechende Wertschätzung (Sinnhaftigkeit). All diese tätigkeitsspezifischen SOC-Merkmale haben eine starke Rückwirkung auf das globale Kohärenzgefühl: Sie machen es stärker.
3.5.9. Tätigkeitsspezifisches Kohärenzgefühl: Am Beispiel der Tätigkeit des Kooperators
Aufgrund der bisherigen Studienergebnisse, die mit vielen Rückmeldungen aus der Praxis übereinstimmen, ist anzunehmen, dass diese positiven Effekte auf das Kohärenzgefühl bei dem gegenwärtig im Umbruch befindlichen und gleichzeitig „relativ erfolglosen“ Tätigkeitsfeld des „Allrounders in der Seelsorge“ (Kooperators) in großer Breite schwächer ausgeprägt sind oder gar entfallen. Wer also als Kooperator z. B. auf den „Erfolg“ der Sakramentenvorbereitung angewiesen ist, kann davon für sein Kohärenzgefühl wenig profitieren, weil er kaum sichtbare Erfolge sieht. Im Gegenteil: Für viele destabilisiert das Engagement für die Sakramentenvorbereitung das Gefühl, die Welt noch zu verstehen, sie gestalten und sich für den Einsatz motivieren zu können. Dies würde die Annahme von Antonovsky bestätigen, dass strukturelle Bedingungen des Lebensfeldes von entscheidender Bedeutung sind für den Aufbau eines starken Kohärenzgefühls.31
Hinzu kommen noch folgende Ergebnisse der Seelsorgestudie: Mitarbeitende Priester in Seelsorgeeinheiten haben zurzeit viel weniger als ihre Kollegen auf anderen Positionen die Chance, zu überblicken, was passiert; sie haben weniger Einfluss auf Überforderung in problematischen und Unterforderung in für die eigene Person existentiellen und wünschenswerten Tätigkeitsbereichen; sie sind weniger einbezogen und weniger eigenverantwortlich in den Entscheidungsprozessen der Pastoral.
Eine andere empirische Untersuchung hat kürzlich zudem gezeigt, dass das Gefühl der Kontrolle über die Tätigkeit, verminderte soziale Wertschätzung, Aufgabenunsicherheit, qualitative Überforderung, Zeitdruck und fehlende Unterstützung durch Vorgesetzte weitere Negativfaktoren für den Aufbau eines starken Kohärenzgefühls darstellen – alles Faktoren, die „Priester in der zweiten Reihe“ gegenwärtig immer wieder als negativ kritisieren.32
3.5.10. Das Kohärenzgefühl von Seelsorgenden: Aktuelle kirchliche Selektionsprozesse?
Angesichts der Ergebnisse stellte ein junger Priesterkandidat bei der Präsentation der Seelsorgestudie zum Kohärenzgefühl folgende Frage: „Was meinen Sie: Sind wir jetzt schon so – oder werden wir so gemacht?“ Und er fragte weiter: „Was können wir denn jetzt tun?“ – Es stellen sich Fragen nach Auswahl- und Interventionsprozessen der Organisation bzw. nach dem „Selbst-Empowerment“ der Seelsorgerinnen und Seelsorger mit Blick auf ihr eigenes Kohärenzgefühl.
Mit Blick auf mögliche Selektionsprozesse von Personen mit niedrigerem Kohärenzgefühl (über die bisher keine Daten vorliegen) seien aufgrund der vorliegenden Ergebnisse einige Fragen formuliert:
1. Wählen diejenigen Personen verstärkt die Kirche als Lebens und Berufsfeld, die Lebenssicherheit von sich aus mehr suchen, als dass sie diese bereits besitzen, um diese Lebenssicherheit (→ Kap. 4.3.3.) in die Seelsorge einzubringen?
2. Bietet die Kirche als Organisation – aus welchen Gründen auch immer – Lebens- und Rollenmodelle an, die so viel „Biegsamkeit“ verlangen, dass sogar das Fundament gefährdet ist? Wird Anpassungsfähigkeit an vorgegebene „Verstehensmodelle“ mehr favorisiert als klare Eigenständigkeit und selbständiger Gestaltungswille?
3. Wirken bestimmte Tätigkeitsfelder durch Selektionsprozesse und Tätigkeitsprofile eher positiv bzw. eher negativ auf das Kohärenzgefühl? Gibt es Tätigkeitsfelder, bei denen die Tätigkeitsmerkmale und Gratifikationsmerkmale geradezu hinderlich für das Kohärenzgefühl sind?