Aufgrund der Theorie und der Literaturlage aus Längsschnittstudien wird man also auch hier annehmen können, dass das Kohärenzgefühl die genannten positiven Auswirkungen zur Folge hat. Grundsätzlich gilt aber auch die umgekehrte Richtung: Ein größeres Arbeitsengagement und eine höhere Lebenszufriedenheit sowie eine geringere psychosomatische Belastung können ebenso mit einer größeren Lebensstimmigkeit im Sinne des SOC assoziiert sein, also das Kohärenzgefühl positiv beeinflussen (Tab. 3.6).
Tab. 3.6: Variablen des Anforderungs-Ressourcen-Modells bei allen Seelsorgenden unter 66 Jahren in Beziehung zu den Niveaus des Kohärenzgefühls (z-Werte: zu Vergleichszwecken standardisierte Mittelwerte der Indikatoren)
Wichtig ist hier auch folgende Beobachtung: Beschreibt eine Person ihr Kohärenzgefühl als vergleichsweise tragfähig (Stufe 3: über dem Mittelwert liegend), so besteht bereits für diese Person eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie vergleichsweise zufrieden, gesund, unbelastet, engagiert und mit ihrer gewählten Lebensform im Reinen ist.
3.5.5. Das Kohärenzgefühl als Ressource mit starken Effekten und hoher Erklärungskraft
Wie groß die Auswirkung des Kohärenzgefühls in Bezug auf die gefühlte Lebensqualität des Alltags ist, soll am Beispiel der Lebenszufriedenheit illustriert werden. Das Beispiel ist dann auf die anderen Indikatorvariablen (z. B. Gesundheit, Belastung, Engagement usw.) übertragbar:
Tab. 3.7: Die Niveaus des Kohärenzgefühls und die allgemeine Lebenszufriedenheit
Angesichts der Tatsache des hohen Gesamtmittelwertes der Allgemeinen Lebenszufriedenheit von 7,6 ist es sehr aufschlussreich, dass sich die vier Gruppen aus den Niveaus des Kohärenzgefühls in ausgesprochen deutlicher Form unterscheiden. Das ganz untere und das ganz obere Niveau des Kohärenzgefühls unterscheiden die Seelsorger und Seelsorgerinnen in zwei verschiedene „Lebenszufriedenheits-Welten“.
Die vorliegenden Forschungen zum Kohärenzgefühl interpretieren die Lebenszufriedenheit in der Regel als abhängige Größe. Dies würde bedeuten: Personen, die ihr Leben als verstehbar, gestaltbar und sinnvoll erfahren, erleben eine hohe Lebenszufriedenheit. Personen mit geringem Kohärenzgefühl sind wenig(er) mit ihrem Leben zufrieden.
Dies wirft ein Licht auf die Erfahrung, die wir als Forschergruppe bei Rückmeldeveranstaltungen zur Seelsorgestudie gemacht haben: Es gibt eine Gruppe von Seelsorger/-innen, denen der insgesamt hohe Mittelwert der Allgemeinen Lebenszufriedenheit nicht plausibel erscheint. Zwar haben wir bereits gesehen, dass diese Gruppe nur halb so groß ist wie in der Normalbevölkerung, aber ihre Stimme ist nicht zu vernachlässigen. Wie Tab. 3.7 illustriert, ist dies auch verstehbar und „begründbar“: Die Gruppe mit dem unteren Niveau des Kohärenzgefühls (immerhin ungefähr 15% der Gesamtgruppe) hat den recht niedrigen Mittelwert der Lebenszufriedenheit von 6,2. Diese Gruppe kommt durch die Selektion von Personen mit der niedrigsten Ausprägung des Kohärenzgefühls zustande. Dieser Gruppe (und ihren Freunden oder Begleiter/-innen) dürfte es existentiell nicht plausibel sein, dass eine statistische Mehrheit der Seelsorger/-innen eine stabile Lebensperspektive hat, während sie dies für sich eher nicht sehen. Dies entspricht dem oft zu beobachtenden Effekt von betroffen machenden und als solchen stets auch ernstzunehmenden Einzelfällen gegenüber der statistischen Evidenz, welche die Mehrzahl der Fälle zuverlässig beschreibt.
Ungefähr der Hälfte geht es genau so, wie andere Forschungen zum Kohärenzgefühl voraussagen lassen: Sie besitzen eine stabile Orientierung im Leben, sie haben das Gefühl, ihren Lebensraum gestalten zu können und erleben ihr Leben als sinnvoll. Und sie fühlen sich bei den Rückmeldeveranstaltungen bestätigt, wenn sie erfahren, dass man/frau mit dem Leben als Seelsorger/-innen ausgesprochen zufrieden sein kann. So lässt sich sagen, dass das Kohärenzgefühl sich in der Seelsorgestudie als Indikator für Lebensqualität und als Ansatzpunkt für Förderungsprozesse für Gesundheit und die seelsorgliche Tätigkeit bewährt.
3.5.6. Das Kohärenzgefühl als Verankerung und Lebenssicherheit: Ist es stark genug?
Die Bedeutung des Kohärenzgefühls als fundamental erlebter Zusammenhalt der Welt und des Lebens (s.o.) erschließt sich weiter durch einen Vergleich des Kohärenzgefühls mit Gruppen in der Bevölkerung, die ebenso wie Seelsorgende in Berufsfeldern mit Verantwortung in der Begleitung von Menschen und in Führungsverantwortung stehen. Dieser Vergleich zeigt deutliche Unterschiede und gibt Anlass zur Suche nach Maßnahmen der Verbesserung des Kohärenzgefühls bei Seelsorgenden.
In Europa, vor allem in den skandinavischen Ländern, ist das Kohärenzgefühl im Rahmen des salutogenetischen Ansatzes in den vergangenen Jahren für die Fachleute in der Gesundheitspolitik und der Gesundheitsförderung zu einem bedeutsamen Indikator der Förderung der Lebensqualität, der Gesundheit und der Ressourcen in der Arbeitswelt geworden.26 Daher existieren einige, in Skandinavien zum Teil sehr groß angelegte Studien, durch die Vergleiche im Kohärenzgefühl zu unserer Gruppe der Seelsorger/-innen möglich werden.
Sie zeigen, dass Personen mit vergleichbarem Bildungsstand, in vergleichbarer sozioökonomischer Position und mit vergleichbarer Verantwortung nach vorliegenden Daten durchweg höhere Werte im Kohärenzgefühl haben als die hier untersuchte Gruppe. Die Vergleichsgruppen bilden Akademiker, Verantwortungsträger in der Wirtschaft, Ärzte, Lehrer, Psychotherapeuten, Techniker.
Besonders bei den Priestern zeigen sich in der Seelsorgestudie ein überprozentual hoher Anteil von Personen mit einem niedrigen Kohärenzgefühl und ein überprozentual niedriger Anteil mit einem ganz hohen Kohärenzgefühl (Tab. 3.8).
Tab. 3.8: Prozentanteile des Kohärenzgefühls in den Berufsgruppen für die vier Niveaus des Kohärenzgefühls
Für die Gesamtgruppe aller Seelsorgenden gilt: Der Anteil von Personen mit starkem Kohärenzgefühl ist deutlich verringert. Das stärkste Kohärenzgefühl mit den meisten Personen über dem Mittelwert der Normalbevölkerung ist bei den Laien in der Seelsorge vorhanden. Hier zeigt sich weiterer Forschungsbedarf: Die hier gefundenen Werte haben solche Auffälligkeiten, dass das Zustandekommen und die Konsequenzen des niedrigen Kohärenzgefühls zum jetzigen Zeitpunkt nicht ohne weiteres zu erklären sind. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich um „subkulturelle“ oder spirituelle Effekte handelt. Gemeint ist Folgendes: Die Fragen des Kohärenzfragebogens könnten – unerwarteterweise – in der Mentalität der Seelsorger/-innen anders aufgefasst werden, als es die Normalbevölkerung tut. Dann dürfte man überhaupt keine Vergleiche anstellen. Allerdings hatten sich solche subkulturellen Differenzen bisher in der ganzen Studie nicht nahegelegt.
Wenn aber hier (wie auch sonst) die Seelsorger keine „unvergleichbare“ Gruppe darstellen, dann muss festgehalten werden, dass ausgerechnet bei katholischen Seelsorger/-innen das Kohärenzgefühl (bzw. die Lebenssicherheit, die Orientierung der durchdringenden, ausdauernden und dynamischen Lebenszuversicht, die Gewissheit über den gestaltbaren Zusammenhalt der Welt und des Lebens, das „Gefühl des Verankertseins“) geringer ausgeprägt ist als bei Personen in Berufen mit vergleichbarer Verantwortung und mit vergleichbarem beruflichen Auftrag.
3.5.7. Erklärungsansätze für ein im Vergleich verringertes Kohärenzgefühl bei Seelsorgenden
Welche Erklärungsbausteine könnte es also geben? Ein erstes soziologisch-spirituelles Erklärungsmoment könnte in der gegenwärtig problematischen Gesamtsituation der Kirche in Europa liegen27: Die Lebenssicherheit und die Sicherheit in der Lebensorientierung könnten durch die „Verlierer-Situation“ der Kirche deutlich angegriffen sein: Erfolglosigkeit in der Pastoral, Verlust der Anerkennung in der Gesellschaft, besonders auch bei Priestern der Statusverlust (auch in der Kirche