Der erste hat auf Drängen der Brüder verschiedene Regeln des Mönchslebens erklärt und Fragen nicht nur geschickt beantwortet, sondern seine Ausführungen auch reich mit Zeugnissen aus den göttlichen Schriften belegt-. Der zweite hat nicht nur Schriften, die er selbst verfaßte, veröffentlicht; er hat vielmehr griechisch geschriebene ins Lateinische übersetzt.“176
In den „Collationes Patrum“, seinem zweiten Werk für Bischof Kastor177, geht es weiter um die Beschreibung des Mönchtums, jetzt aber auf höherem Niveau oder, um Cassians Bild des geistlichen Schulungsweges zu gebrauchen, es geht immer mehr von außen nach innen. Die literarische Form ist die Unterredung (Collatio) der beiden Freunde Cassian und Germanus mit einigen Berühmtheiten unter den ägyptischen Einsiedlern. Doch erinnern die Texte mehr an Lehrvorträge als an einen Dialog, denn Germanus und Cassian unterbrechen den Redefluß der Väter nur gelegentlich mit Fragen oder Einwürfen. Cassian hat dabei nicht diese Unterweisungen protokolliert, sondern, wie in der Vorrede zu den „Institutiones“ erwähnt, erst Jahrzehnte später aufgeschrieben, was er von den Vätern in Ägypten gelernt hat. So muß davon ausgegangen werden, daß die Institutiones und Collationes von Cassian selbst stammen, auch wenn sie von der Spiritualität der ägyptischen Mönche angestoßen, beeinflußt und durchdrungen sind.
Die Collationes erschienen in drei Lieferungen. Die erste umfaßte zehn Unterredungen mit berühmten Eremiten der sketischen Wüste, bei denen die Freunde während ihres zweiten Ägyptenaufenthaltes in die Schule gegangen waren.178
Cassian schildert von seiner elften Collatio an nicht mehr das Leben der Mönche in der Sketis, sondern wendet sich dem Nildelta mit den Städtchen Panephysis, Thennesus und Diolkos zu. In dieser Gegend spielte offensichtlich bereits zu seiner Zeit das Koinobion die Hauptrolle.179 Die Entscheidung für das Anachoretentum gegen das Koinobitenwesen ist in den sketischen Kreisen, denen die Apophtegmenliteratur entstammt, eindeutig.
Anders steht es mit der Auffassung, die Cassian vor allem in den Büchern XVIII und XIX seiner Collationes vorträgt. Hier werden zwar die Anachoreten neben den Koinobiten durchaus anerkannt. Es wird das Anachoretentum höher eingeschätzt, während die Sarabaitae unbedingt verworfen werden. Aber die Grundlage der ganzen Beurteilung ist doch das geregelte Koinobitenwesen. Die Anachoreten sind danach aus dem Koinobion hervorgegangen.180 Das Koinobion ist die Vorstufe des Anachoretenwesens, die nicht übersprungen werden darf. Mit Geistesangst und Kleinmut sind oft die behaftet, „welche sich mit voreiligem Verlangen in das einsame Leben begaben, ehe sie im Kloster vollkommen geschult und ihre früheren Laster ausgebrannt waren.“181
Cassian kennt noch eine vierte Klasse von Mönchen182, die nur kurze Zeit das Joch des Klosters auf sich nehmen, dann aber schnell der Arbeit müde geworden und nicht mehr Willens, sich den Weisungen der seniores zu unterwerfen, ihre Zelle verlassen und sich in die Einsamkeit begeben.183 „Diese vierte Art ist das verratene Eremitenideal.“184
Die Normalform des mönchischen Lebens ist für Cassian „das gemeinsame Leben im Kloster, die Hochform das bewährte Eremitenleben. Was in diese Formen nicht paßt, kann nur negativ bestimmt werden.“185
Im XIX. Buch der Collationes wird noch eindeutiger das Klosterwesen bevorzugt. Als Autorität erscheint ein Mönch Johannes, der Anachoret gewesen und in sein Kloster zurückgekehrt war. Er hält Cassian einen langen Vortrag, in dem die Eigentümlichkeiten und Vorzüge des Anachoretentums und des Klosters gegeneinander abgewogen werden. Dann betont er aber doch die Mängel des Anachoretentums, namentlich in seiner jüngeren Entwicklung, sehr stark - das Überhandnehmen des Besuchswesens, die dadurch entstandene Störung der Zellenruhe, die Sorge der Beschaffung der Nahrungsmittel auch für die Besucher - und begründet so den Entschluß der Rückkehr von der Zelle ins Kloster.186
W. Bousset beurteilt diese Einschätzung als unsketisch und wundert sich darüber, daß Johannes Cassian, der lange Jahre in der Sketis verbrachte, vom Geist der sketischen Mönche so wenig verstanden habe. Die hier vorgetragene Theorie sei die des Nildeltas, nicht die der Sketis.187
Nun mag W. Bousset mit dieser Einschätzung durchaus recht haben, allerdings bleibt seine offensichtliche Vorliebe für das Anachoretentum der Sketis ebenso festzuhalten wie die bereits in den Apophthegmata selbst relativ ausführlich beklagten Mißstände des gegenwärtigen Anachortentums im Unterschied zu den früheren Zeiten der Altväter188, die Cassian u.U. nur referiert.
„Cassian schrieb seine Werke für das südgallische Mönchtum mit gezielt belehrender und ordnender Absicht. Seine Schriften sind ‘littérature engagée’. Lange Seiten seiner Ausführungen sind nur von diesem Adressatenkreis her zu verstehen.“189 Cassian will die Erfahrungen der ägyptischen Mönchsväter für das südgallische, im Entstehen begriffene Mönchtum fruchtbar machen. Letzteres soll als Koinobitentum geordnet werden und „vor der Verführung durch die Einsamkeit gewarnt werden.“190
I.1.E.c. Johannes Cassian als Vermittler des Evagrios Pontikos im Westen
Cassian war zur selben Zeit wie Evagrios in Ägypten und kannte nachweislich dessen Schriften, so daß die Möglichkeit einer direkten Begegnung gegeben war, wofür aber jegliche Zeugnisse fehlen.191
K. Ruh stellt fest: „Es ist fast immer nur beiläufig vermerkt worden, daß mit Cassian dem Abendland vier Jahrhunderte vor der epochalen Dionysius-Rezeption ein griechischer Vater vermittelt worden ist, Evagrios Ponticos, der sonst dem Mittelalter fremd geblieben wäre. Er ist der wichtigste Gewährsmann Cassians, der ihn freilich an keiner einzigen Stelle nennt. So blieb er im Mittelalter namenlos.“192
Das Verschweigen hat seinen Grund wohl im oben bereits erwähnten Verdikt des Hieronymus, außerdem rechnete man ihn zu den Origenisten.
Vor allem die sog. „Ach-Laster-Lehre“193 des Evagrios, die eng zusammenhängt mit seiner Vorstellung vom Mönchtum als dem Kampf mit den Dämonen194, übernimmt Cassian in seine Schriften.195
Darüber hinaus ist es die Kontemplations- und Gebetslehre, die Cassian weitgehend dem Evagrios verdankt.196
Beide Autoren kannten das Leben in der Wüste aus eigener Erfahrung und manche der Altväter, von denen die Apophthegmata berichten, aus persönlicher Begegnung. Für beide hatte dieses Leben in der Wüste Vorbildcharakter. Cassian will das ägyptische Mönchsleben in den südgallischen Raum übertragen.197 Für Evagrios gehören die Wege der Mönche neben der Hl. Schrift zu den Quellen der Erkenntnis für die Gestaltung eines christlichen Lebens198:
„Es ist sehr wichtig, sich sorgsam die Wege der Mönche anzusehen, die sie, ohne auf Abwege zu geraten, gegangen sind, und sich auf denselben Weg zu machen. Sie haben uns viele Ratschläge und Beispiele hinterlassen.“199
Evagrios und Cassian sind beide gebildete Mönche und beschreiben auf diesem Hintergrund das Leben der Wüstenväter, systematisieren es da und dort und interpretieren ihre Erfahrungen im Sinne ihrer Absichten. Daher spricht einiges für die Bemerkung von L. Regnault, daß die Schriften von Evagrios, Cassian und Palladius gewiß interessant seien, jedoch nicht die ursprüngliche, reine Tradition des ägyptischen Mönchtums repräsentierten, während das Interesse der Apophthegmata der ursprünglichen Form des Mönchtums, wie es im 4. und 5. Jahrhundert in der Sketis vorfindlich war, gegolten hätte.200 In der Tendenz ist hier L. Regnault zuzustimmen, jedoch muß einschränkend bemerkt werden, daß natürlich auch die Apophthegmata einen Redaktor mit gewissen Interessen hatten, die sich weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich auf die Bewahrung der ursprünglichen Überlieferung beschränkten.201
I.1.F. Menschenbild der alten Mönche
I.1.F.a. Auseinandersetzung mit den Gedanken, Leidenschaften und Dämonen.
Das menschliche Leben ist nach Meinung der alten Mönche geprägt von einem Kampf. Der Mensch muß sich auseinandersetzen mit seinen Gedanken (logismoi), mit den Dämonen