Regina Bäumer

Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele


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verbinden sich beide Anthropologien des Origenes. Sie ist der Ort des „Bildes-des-Bildes-Seins“ des Menschen, ihr Pädagoge und Mentor ist der Hl. Geist, der Repräsentant Gottes im Menschen ist.229

      Dieses grundlegend positive Bild des Menschen, der den Geist Gottes nicht verlieren kann und der das Bild Gottes in sich nicht löschen kann, was immer er auch tun, bildet die Grundlage für die Art und Weise der Geistlichen Führung im alten Mönchtum.

      „Der Altvater Antonios sprach zum Altvater Poimen: ‘Das ist das große Werk des Menschen, daß er seine Sünde vor das Angesicht Gottes emporhalte, und daß er mit Versuchung rechne bis zum letzten Atemzug.’ “ (Antonios 4)(Apo 4)230

      Die Väter vertrauen darauf, daß Gott auch durch die Sünde hindurch den Menschen für sich aufbrechen kann. Ja, oft scheint die Sünde die Voraussetzung zu sein, daß einer versteht, daß er nicht aus eigener Kraft, sondern nur aus Gnade und Barmherzigkeit Gottes bestehen kann.

      „Der Altvater Sarmata sprach: ‘Mir ist ein Mensch lieber, der zwar gesündigt hat, aber einsieht, daß er gesündigt hat, und bereut, als ein Mensch, der zwar nicht gesündigt hat, sich aber für einen hält, der Gerechtigkeit übt.’ “ (Sarmata 1)(Apo 871)

      Die Väter rechnen auch mit Umwegen und Irrwegen des Menschen und sind bereit, Ratsuchende auf ihren Irrwegen zu begleiten und sie nach ihren Umwegen weiter voll Vertrauen Gottes Wege zu lehren.

      „Ein Bruder fragte den Abbas Poimen: ‘Was soll ich tun?’ Der Greis sagte: ‘Wenn Gott uns seinen Schutz gewährt, worum sollen wir uns sorgen?’ Der Bruder wandte ein: ‘Um unsere Sünden!’ Darauf antwortete der Alte: ‘Gehen wir in unser Kellion und gedenken wir unserer Sünden, und der Herr geht in allem mit uns.’ “ (Poimen 162)(Apo 736)

      Der Glaube an Gottes Barmherzigkeit, der nicht nur theoretisch behauptet, sondern praktisch gelebt wird, schließt das Wissen ein, daß geistliche Wege nicht immer gerade und zielstrebig verlaufen. Im Christentum geht es nicht um stets aufsteigende, glatte Biographien, im Gegenteil, zum christlichen Wachstumsverständnis gehören notwendigerweise Brüche, Sprünge, Umwege, Krisen, ja oft sind diese erst Auslöser eines nächsten Reifungsschrittes.231 „Im geistlichen Wachstum kann nichts erzwungen werden. Mit Wachstumsschüben ist ebenso zu rechnen wie mit schöpferischen Inkubationszeiten - einschließlich regressiver Wachstumsverweigerungen und progressiver Überhastungen.“232

      „Ein Bruder in der Sketis bei Abbas Paphnutios wurde von der Unkeuschheit angefochten und sagte: ’Auch wenn ich zehn Weiber nähme, könnte ich meine Begierde nicht stillen.’ Der Greis munterte ihn auf, indem er sagte: ‘Nein, Kind, der Kampf kommt von den Dämonen.’ Aber er folgte ihm nicht und ging nach Ägypten und nahm sich ein Weib. Nach einiger Zeit begab es sich, daß der Greis nach Ägypten hinaufzog, und er begegnete dem Bruder, der Körbe mit Tongefäßen trug. Paphnutios erkannte ihn nicht, er aber sagte zu ihm: ‘Ich bin dein Schüler N. N.’ Als der Greis ihn in dieser Unehre sah, weinte er und sprach: ‘Wie hast du die Ehre von damals aufgegeben und bist in diese Unehre gekommen. Es fehlte nur, daß du zehn Weiber genommen hast.’ Da seufzte er auf und sagte: ‘In Wahrheit, ich habe nur eines genommen und habe Mühe, daß ich ihr genug Brot verschaffen kann.’ Und der Greis sprach zu ihm: ‘Komm wieder zu uns!’ Und er sagte: ‘Gibt es da eine Buße, Abbas?’ Der sagte: ‘Ja, sie ist möglich!’ Und er verließ alles und folgte ihm. Und er kam in die Sketis, und durch Erfahrung wurde er ein angesehener Mönch.“ (Paphnutios 4)(Apo 789)233

      Diese Art des Umgangs mit dem Sünder geschieht in einer Zeit, in der mit Sünde meist nur schwerwiegende Vergehen bezeichnet wurden.

      „Jemand erzählte von einem Bruder, der in Sünde gefallen war. Er kam zum, Altvater Lot, verstört trat er ein und ging hinaus und konnte nicht ruhig sitzen bleiben. Da fragte ihn Abbas Lot: ‘Was hast du, Bruder?’ Er antwortete: ‘Ich habe eine große Sünde begangen und vermag sie den Vätern nicht zu bekennen.’ Da sprach der Alte: ‘Offenbare sie mir, und ich werde sie tragen.’ Da bekannte er ihm: ‘Ich bin in die Sünde des Ehebruchs gefallen und habe, um mein Ziel zu erreichen, gemordet.’ Der Alte erwiderte ihm: ‘Habe Vertrauen, es gibt eine Reue. Wohlan, setze dich in deine Höhle, faste je zwei Tage, und ich werde mit dir die Hälfte der Schuld tragen.’ Nach drei Wochen wurde dem Alten die Gewißheit, daß der Herr die Buße des Bruders angenommen habe. Und er verharrte im Gehorsam gegen den Greis bis zu seinem Tode.“ (Lot 2)(Apo 448)

      Selbst wenn die Väter Zeuge von Verfehlungen werden, sie lehnen es ab zu verurteilen:

      „Es kam einmal ein Knabe, damit er von der Besessenheit geheilt werde. Die Brüder brachten ihn in das Koinobion des Ägypters. Der Alte kam heraus und sah, wie der Bruder mit dem Knaben sündigte. Er verurteilte ihn jedoch nicht, sondern sagte: ‘Wenn Gott, der sie gebildet hat, sie nicht mit Feuer verbrennt, wer bin dann ich, daß ich sie tadle?’ “ (Johannes der Perser 1)(Apo 416)

      Johannes Cassian erzählt in seinen Collationes ein Beispiel, wie ein Altvater den anderen scharf zurechtweist, weil er es an Barmherzigkeit hatte fehlen lassen:

      „Laßt mich ein Beispiel erzählen, ohne den Namen des betreffenden Altvaters zu nennen. Zu diesem Altvater - er ist mir bestens bekannt - kommt eines Tages ein junger Mönch, keineswegs einer der Erschlafften und Trägen, und offenbart ihm seine sexuellen Anfechtungen. Er war dadurch in großer Unruhe und glaubte nun, er werde in seiner Qual durch das Gebet des Altvaters getröstet werden und ein Heilmittel für seine Wunden erhalten. Der aber schimpft ihn mit den bittersten Worten aus, nennt ihn einen Elenden und Unwürdigen, der nicht den Namen eines Mönches verdiene, weil er sich durch ein solches Laster und seine Begierden aufreizen lasse. Durch diesen unangebrachten Vorwurf verwundet der Greis den jungen Mann zutiefst. Er schickt ihn, der tödlich verzweifelt und aufs tiefste niedergeschlagen ist, aus seiner Zelle weg. Und jener geht, schwermütig niedergedrückt. Jetzt denkt er nicht mehr an Heilmittel gegen seine Leidenschaft, sondern überlegt, wie er seine Begierden befriedigen kann. Da begegnet ihm Abbas Apollo, der bewährteste der Väter. Er schaut dem jungen Mann ins Antlitz und erkennt, welche Last ihn beschwert und welcher Kampf in seinem Innern tobt. Er redet ihn an und fragt nach der Ursache solcher Verstörung. Als dieser dem Abbas, der ihn sanft anspricht, nicht einmal eine Antwort geben kann, merkt dieser mehr und mehr, daß jener einen Grund haben muß, nicht über seine Verzweiflung reden zu wollen. Jetzt bedrängt ihn der Abbas, und der Junge bekennt, er sei auf dem Weg in ein Dorf, um sich eine Frau zu nehmen und ins Weltleben zurückzukehren, da er nach der Meinung jenes Altvaters ja doch nicht zum Mönch tauge. Er könne sich gegen den Stachel der Begierde nicht mehr wehren und wisse kein Mittel gegen solche Versuchung. Der Vater Apollo tröstet ihn aufs liebreichste und sagt ihm, er selbst werde täglich durch dieselben Stacheln sexueller Begierden gequält. Darum dürfe er nicht in solche Verzweiflung fallen und nicht erstaunt sein, daß dieser Kampf so erbittert sei. Daraus könne er lernen, daß nicht der eigene Kampfeseifer, sondern vielmehr des Herrn Barmherzigkeit und Gnade zum Sieg verhelfe. Apollo bittet den jungen Mann, einen Tag zu warten und in seine Zelle zurückzukehren.

      Mit höchster Eile begibt er sich zum Kellion des erwähnten Altvaters. Als er sich dem Ort nähert, betet er mit ausgebreiteten Händen unter Tränen: ‘Herr, der Du allein der milde Richter bist, der die im Menschen schlummernden Kräfte und seine verborgenen Schwächen kennt, der Du zugleich im geheimen zu heilen verstehst, erlege die Anfechtung jenes jungen Mannes diesem Greise auf, damit er noch , im Alter belehrt werde, herabzusteigen zu den Niederlagen der Kämpfenden und mitzufühlen mit den Schwächen der Jugend!’ Mit einem Seufzer beendet er sein Gebet und sieht, wie ein Teufel vor dem Kellion steht und mit feurigen Pfeilen hineinschießt. Der Greis muß sofort verwundet worden sein, denn er stürzt heraus und rennt wie von Sinnen herum, heraus und hinein. Aufgeregt will er auf demselben Weg entfliehen, auf dem der junge Mann von dannen gegangen war. Abbas Apollo sieht, daß der Alte wie wahnsinnig ist, wie von Furien gehetzt, und begreift, daß der Feuerpfeil, den der Teufel auf ihn abgeschossen hat, ihm im Herzen steckt und diese ganze Verwirrung des Geistes und diesen Aufruhr der Sinne hervorruft. Da tritt er zu ihm und sagt: ‚Wohin rennst du, und aus welchem Grund benimmst du dich, die Würde deines Alters vergessend, wie ein Kind? Jener, ganz konfus vom Widerstreit zwischen Gewissen und schändlicher Leidenschaft, glaubt, der