Gegenwart weiterverfolgen.276
Die zeitgenössisch-diskursive Praxis birgt noch weitere bemerkenswerte Aspekte. In vergleichsweise ruhigeren Zeitabschnitten taucht der Landjäger als eine Art Aufseher auf. Gemäss polizeilichem Raumdiskurs, der an einigen Stellen an das Vokabular eines Wildhüters erinnert, soll der Polizeibeamte neuralgische Zonen unter permanenter Aufsicht halten. Als der Landjäger Johann Weber den Posten im Oberengadin übernommen und kurz darauf dem Verhörrichter den Wunsch des Landammanns Curdin von Planta weitergeleitet hatte, Samedan als Unterkunftsort auszuwählen, liess ihn der Verhörrichter wissen, dass die beste Stationierung in Ponte sei, nämlich so, dass er von seinem Hause aus immerwährend freie Sicht zum Albulaberg habe.277 Hier fungiert der Polizeibeamte als Späher, der sein Territorium vor unerwünschten Eindringlingen freihalten sollte.
24 Das Oberengadin, um 1835. Aquatinta von J. J. Meyer, J. J. Sperli d.Ä. In der Reihenfolge ihrer Entfernung die Ortschaften Cresta, Celerina, Samedan, Bever und das am Fuss der Albula-Alpen mit dem Piz Kesch gelegene Ponte.
Dem Landjäger Georg Niggli, der sich 1830 für einige Zeit in Rongellen oberhalb der Viamala-Schlucht postiert hatte, wurde aufgetragen, «irgend in einem Haus an der Landstraße, Quartier zu nehmen, um auch wenn er zu Hause ist alles zu sehen, was paßiert».278 Das Quartier Nigglis erinnert in diesem Kontext an das Bild eines Jagdhochstands. Falls der Landjäger seine Hütte selbst bauen musste, wie der Verhörrichter dies dem kurzzeitig in Roveredo postierten provisorischen Landjäger Jan Gees vorgeschlagen hatte, 279 liest sich das wie eine in die Alltagspraxis umzusetzende Bestätigung dieser diskursiven Konzeption.
Die Abwesenheit des Aufsehers hingegen würde für die verachteten Menschengruppen allzu schnell einladend wirken und den eigenen Überwachungsraum zu deren Asyl verkommen lassen. Dies schien der Verhörrichter bei dem in Alvaneu Bad stationierten Landjäger Michael Mutzner festgestellt zu haben, weshalb er ihn auch dezidiert rügte: In seiner Abwesenheit sei er seinen Arbeitskollegen undienlich gewesen, als sie seine Hilfe benötigt hätten. Dies insbesondere,
«als Landjäger [Christian] Desax die entronenen Weibsbilder zu verfolgen hatte, wovon zweÿ gerade 3 Tage in seinem Muzners Bezirk verweilten, und leicht hätten aufgefangen werden können, wenn er in selben gewesen wäre».280
Durch solche ‹Versäumnisse› konnte die eigentliche Randzone (das heisst der Aktivraum beziehungsweise Aufenthaltsraum der verfolgten Personen) ins Zentrum, also in den Raum zu stehen kommen, in dem die verfolgten Individuen definitionsgemäss am wenigsten vermutet wurden. Daraus kann die Erkenntnis gewonnen werden, dass als Folge dieser Strukturen und insbesondere im Hinblick auf den reduzierten Korpsbestand eine permanente Wachsamkeit der Polizeibeamten gefordert wurde, wobei mit der Permanenz mitunter auch die direkte Beziehung zum Thema Zeit ersichtlich wird.
2.6 Zeit
Die obigen Ausführungen haben gezeigt, wie eng der Zeit- mit dem Mobilitäts- und Raumaspekt gekoppelt war. Es stellt sich deshalb die zentrale Frage, ob der Landjäger tatsächlich fortwährend unterwegs war. Das Bild der ständigen Mobilität drängt sich insofern auf, als Polizist sein nicht explizit bedeutete, zu einer bestimmten Tages- oder Wochenzeit von einem absoluten Zustand eines Staatsangestellten in den absoluten Zustand eines Privatmanns zu wechseln. Im Folgenden werden Tragweite und Ausgestaltung des organisatorischen Zeitdispositivs von zwei Seiten betrachtet: In einem ersten Schritt wird nach der allgemeinen Dichotomisierung in Dienst- und Freizeit gefragt, wobei der Massstab im Wesentlichen auf ganzheitliche und langfristige Dimensionen ausgerichtet ist. Demgegenüber widmet sich der zweite Teil dieses Unterkapitels den kurzfristigen Zeitfragen, die nach Aspekten des Gegensatzes zwischen Ruhe- und Aktivitätsphasen fragen und insbesondere das Thema Nacht behandeln.
Freizeit
Eine zentrale Frage taucht bei der Untersuchung des Quellenmaterials immer wieder auf: Existierte für die Landjäger die temporale Kategorie Freizeit? Eine rasche Beantwortung dieser hier am Anfang gestellten und nicht ganz leicht zu erörternden Frage fällt zunächst negativ aus. Als Belege dafür dienen beispielsweise Weisungen wie die klare Mahnung, welche der Verhörrichter dem Landjäger Hercules Derungs d.Ä. zukommen liess, als dieser wirtschaftlichen Nebentätigkeiten nachging: «Dieses kann einem in fortwährender Thätigkeit stehen sollenden Angestellten durchaus nicht angehen.»281 Die Gegenposition kann aus den Instruktionsabschnitten herausgelesen werden, die sich mit der Zeitfrage befassten. So hiess es dort, dass die Landjäger an «Sonn- und gebotenen Feiertagen und einem beliebigen freien Tage in der Woche» nicht patrouillieren müssten. Im zweiten Teil des Paragrafen indes wurde dieses theoretische Freizeitfenster postwendend relativiert. Darin hiess es, dass diese Tage nur dann dienstfrei seien, wenn nicht «mehrere Landstreicher bemerkt» würden oder falls nicht andere Polizeimassnahmen «sonst irgend nothwendig» seien.282 Die Fragilität dieses Freizeitzuspruchs ist somit offenkundig. Die Aussagen verdeutlichen, dass die Landjäger ihre Pflicht nie wirklich ablegen konnten und in ständiger Pikettbereitschaft zu stehen hatten. Das formal-normativ definierte Zeitprofil rief im Endeffekt nicht mehr und nicht weniger als nach einem permanent auf Kontrolle und auf Transparenz ausgerichteten Landjägerleben. Das Risiko, an einem freien Tag durchreisende Zielpersonen unbehelligt gewähren zu lassen, war zu gross, als dass der Polizeibeamte seine Aufmerksamkeit für bestimmte Zeitintervalle vollends hätte fallen lassen können. Durch die permanent rückverfolgbare Linienführung seiner Wanderwege konnte ihm eine Dienstvernachlässigung auch vergleichsweise leicht nachgewiesen werden. Als Beispiel kann der Verweis des Verhörrichters an die Adresse des in Zernez stationierten Landjägers Jakob Guler angeführt werden, dass dieser seine Patrouillen zu selten über den Ofenpass hinüber ins Val Müstair gemacht habe. Dieses gehe aus den Einträgen in seinem Tourbuch sowie natürlich aus dem Schreiben der Obrigkeit von Val Müstair hervor, «während es doch in seiner Instruktion heiß[e], daß der Landjäger nur den Sontag und noch ein Tag in der Woche frei habe, und jede Woche alle Ortschaften seines bezirkes besuchen soll[e]».283 In der Instruktion von 1840 schliesslich wurde der Wunsch nach regelrechter Überwachung polizeilicher Mobilität erstmals auch in ganz konkreter und genuin paragrafischer Ausformulierung festgelegt.284 Der Verhörrichter jedenfalls zeigte sich besonders dann unzufrieden, wenn er von nach Chur gelieferten und daselbst verhörten Fremden deren Einreiseweg vernahm und daraus Verdacht auf nicht erfolgte Gebietskontrolle durch den am betroffenen Durchgang stationierten Landjäger schöpfte. Der in Fläsch stationierte provisorische Landjäger Johann König beispielsweise wurde, nachdem von Landjägern Reklamationen eingegangen waren, dass eine grosse Anzahl Vaganten als ihren Einreiseweg den Fläscherberg angegeben hatten, diesbezüglich heftigst ermahnt.285 Die Gewährung freier Tage widersprach der gleichzeitig von oben geforderten permanenten Aufmerksamkeitspflicht. Dieses Dilemma offenbarte sich auch in der Forderung nach dem permanenten Tragen der Uniform. In einer das gesamte Landjägerkorps betreffenden Verordnung des Kleinen Rates an die Landjäger an den Zollstätten hiess es:
«Sämmtliche Landjäger, die an den Zollstätten sowohl als die andern, sind angewiesen, sich durchaus aller ihrem Berufe fremdartigen Beschäftigungen zu enthalten. Eben so wird es ihnen zur Pflicht gemacht, bei Strafe im Unterlaßungsfalle aus dem Dienste entlaßen zu werden, einmals in andrer Kleidung zu erscheinen, als in ihrer Uniform.»286
Der Polizeibeamte war bis zur Entstehung einer Pensionskasse für Landjäger, sofern es nicht zu einem freiwilligen oder erzwungenen Dienstaustritt kam, gewissermassen ein Polizist für die Ewigkeit. Dies galt sowohl aus lang- als auch aus kurzzeitiger Perspektive: Die Landjäger hätten für ihre Pflichten «Tag und Nacht bereit zu stehen», 287 wobei betreffend obere Dienstalterslimite keine Vorschriften vorlagen.288 Eine Dienstentlassung, die nicht disziplinarischer Natur war, stand in der polizeilichen Korpsorganisation kaum zur Debatte. Das Alter konnte insofern nur indirekt einen Dienstentlassungsgrund darstellen; dann nämlich, wenn es die Anforderungen an den Landjäger so stark beeinträchtigte, dass er diese nicht mehr ausreichend erfüllen konnte und es zu Dienstvergehen, etwa der Entweichung von Häftlingen oder nicht zufriedenstellenden Patrouillierungsintensitäten,