diesen Verweis wusste Grass zu antworten:
«[H]ab ich es ihnen ihm Rapport gemäldet, das ich sie habe müßen über Pfingsten hir behalten, wegen schlechten Wetter, den Glauben Sie mir nur ich hab noch am Pfingstmontag genug zu schaffen mit ihnen, den ich muste sälbsten ein Kind über ziehen oder tragen, darmit ig ab dem Weg komme, und mit ihnen mehr verzegren als wirklich Rächt ist, sonst hat ich noch ein nacht müsen aus bleiben.»318
Die an Landjäger Grass gerichtete Weisung des Verhörrichters verdeutlicht drei wesentliche Aspekte: Erstens zeigt sich ganz allgemein, dass der nächtliche «Schüblingstransport» grosse Bedeutung hatte. Zweitens wird deutlich, dass die Polizeileitung an einem raschen nächtlichen Transport interessiert war. Die oberste Priorität bei der Umsetzung des formal-normativen Hauptauftrags war drittens, und dies unabhängig von der Tageszeit, ein möglichst effizientes Zeit- und Kostenbudget. Diesem Ziel fiel die Nacht gleich in doppelter Hinsicht zum Opfer, denn Übernachtung kostete unnötige Zeit und Geld. Obiges Zitat verdeutlicht zudem, dass eine Rückvergütung der Spesen bei unverhältnismässigem Vorgehen der Landjäger nicht zwingend gewährleistet war. Dies erklärt auch Grass’ d.Ä. Verhalten: Er versorgte die zu transportierenden Personen in oder in der Nähe seiner Unterkunft. Dies konnte im Fall kooperierender Obrigkeiten eine Räumlichkeit der Gemeinde, ein sehr einfacher Unterschlupf wie etwa ein Stall oder eine Scheune oder aber sogar ein Platz im Freien sein. Zuweilen wurden die Personen auch in der Unterkunft des Landjägers selbst verwahrt. Landjäger Michael Mutzner etwa berichtete im November 1829 dem Verhörrichter, dass er von Landammann Rudolf von Planta aufgefordert worden sei, einen gewissen Untervazer namens Johann Schalldorf, den er verhaftet hatte, über Nacht in sein Quartier zu nehmen:
25 Passage in der Viamalaschlucht bei Nacht, um 1820. Sepiatusche von unbekanntem Künstler.
«[Sodass ich] den Schalldorf den 13ten Arÿthieren Mußte. in Zuoz, und von 11 Ur. bis 7 Ur. hier vor der Behörde hatte und mit ihme nachts nach Samedan Mußte, beim Herrn Landammann Rudolf Planta gebracht, den ich von ihm Beordert in mein Quathier nahm […].»319
Hierbei erweist sich ein Vergleich mit einem der nächsten Rapporte, in dem Mutzner über den Transport des Bündners Jakob Anton Peterelli nach Savognin berichtete, als interessant: Angesichts der Tatsache, dass es sich sowohl beim transportierenden Landjäger (Michael Mutzner) als auch beim Landammann von Samedan (Rudolf von Planta) in beiden Fällen um dieselben Personen handelte, wird ersichtlich, inwiefern sich die nächtliche Verwahrungspraxis je nach Bürgerstatus der Personen unterscheiden konnte. Im Gegensatz zum fremden Johann Schalldorf, den Mutzner in seinem Quartier überwachen musste, wurde der Kantonsbürger Peterelli «beim Weißen Creüz auf dem Rathaus in beisein des L[and]Weibels» verwahrt.320
Der grosse Anteil der «Schüblingstransporte» erfolgte während der schneefreien Monate, da Fahrende und Vaganten die Wintermonate wegen des rauhen Klimas in vielen, insbesondere den hoch gelegenen Bündner Tälern wie dem Engadin, eher mieden und sich in tiefere Lagen zurückzogen. Dies lässt sich auch aus den Rapporten der Landjäger und den ihnen beigefügten «Schüblingslisten» herauslesen, welche in den Sommermonaten deutlich mehr eingetragene Personen enthielten als während des Winters. In den von Kälte und Schnee dominierten Monaten sandten die Landjäger dem Verhörrichter auch weitaus häufiger inhaltslose Rapporte, welche immerfort einen ähnlich reduzierten, die Vorkommnisse zusammenfassenden Satz enthielten, wonach im abgelaufenen Monat «nichts Neues» vorgefallen sei. Als Beispiel für eine grössere Anzahl entsprechender Rapporte kann der Bericht des in Thusis stationierten Landjägers Jakob Jecklin aufgeführt werden, wobei anzumerken ist, dass zahlreiche Rapporte noch wortkarger verfasst wurden:
26 Landammann Rudolf von Planta (1789–1840). Öl auf Leinwand, von Frizzoni.
«[Es] ist mir noch Bis daher nicht verdächtigs Bekant geworden was wider die Landjäger Instrukion Laufen möchte, sonderen alles in ruhiger Verhältnis. so wohl in den dörferen, abgelegenen häuseren als auf den Straaßen und abwägen meines Bezirgs.»321
Anders als beim Transport von «Schüblingen» war die nächtliche Verwahrung ausgeschriebener Verbrecher und eingefangener Deserteure unter strikterer Überwachung zu vollziehen. Als Landjäger Sixtus Seeli sich etwa in seinem Rapport an den Verhörrichter darüber beklagte, dass das Fehlen von Lichtquellen die nächtliche Gefangenenüberwachung erschwere, unterschied derselbe zwischen der Verwahrung von Vaganten und «wichtigen Gefangenen»:
«[…] Lur schriver dils 7. jener vai jou vieu Ca ei viengig bucca pagau pli. par Cazola par La nog. singiur Barron cheu a spliga vein nuss aung nagiennas parschuns a zenza aver parschuns a stuver viller lanog senza Cazola san ins bunamen bucca star Rissponzavels par par sunas mal faigias […].»322
«[In] Eurem Schreiben vom 7. Januar habe ich gesehen, dass [die Kosten] für die Nachtlampe nicht mehr [rück-]vergütet würden. Herr Baron, hier in Splügen haben wir noch keine Gefängnisse und man kann, ohne solche zu besitzen und die ganze Nacht ohne Licht hüten zu müssen, beinahe nicht die Verantwortung [übernehmen] für grobschlächtige Person[en].»
Die Weisung des Verhörrichters lautete, dass es legitim sei, das Licht «bei wichtigen Gefangenen z. b. Verbrecher» brennen zu lassen. Bei «bloß zu Transportirenden Vaganten», so lautete seine Weisung weiter, dürfte «solches jedoch wohl überflüßig seyn».323
Eine weitere nächtliche Polizeitätigkeit konnte schliesslich das Patrouillieren bei Dunkelheit sein. Hierbei können zwei Arten unterschieden werden: Einerseits konnte das Patrouillieren, je nach punktueller Weisung des Verhörrichters, singulären und ganz spezifischen Charakter haben. Andererseits gab es aber auch Zeitperioden, während denen einer oder mehrere Landjäger über mehrere Tage oder Wochen jede Nacht Streifzüge unternehmen mussten. In beiden Fällen lässt sich seitens der Führungsgremien der Wunsch herauslesen, jegliche Art von nächtlicher Tourführung wenn möglich zu zweit oder in einer grösseren Gruppe durchzuführen.
Punktuellen Charakter hatte die zielgerichtete Nachtstreife mit einer einheimischen polizeilichen Hilfsmannschaft der jeweiligen Gemeinde beziehungsweise des betroffenen Gerichts. Landjäger Johann Bäder berichtete dem Verhörrichter im Herbst 1834 von der Nachtstreife, welche er mit einer sechs Mann starken Dorfgruppe in den Alpen von S-charl durchgeführt habe, um dort eine «Bande» aufzuspüren:
«[…] und da ich am abend nach Schuls zurück kam lies mich der Dorf-Meister zu sich rufen und sagte, daß ich geschwind nach Scharl gehen solte es halte sich dort in den Schulser Alppen eine Bande auf, er wolle mir sogleich einige Manschaft nach schicken und in Scharl erwarten ich machte mich geschwind fort und kam in der Nacht um 9 Uhr in Scharl an und wartete alda bis 12 Uhr dan kam die Manschaft und ich nahm 6 Mann mit mir und Streifte die ganze Nacht alle Alppen durch so wie auch den 19ten und habe nichts angetrofen den es war gar nichts an der Sache als die Alp-Knächten haben den Tag hindurch einige […] Wurzengraber gesehen […].»324
Das geschilderte Ereignis zeigt, dass obrigkeitliche Weisungen in der Regel nicht im Zusammenhang mit dem Hauptauftrag erfolgten, sondern vielmehr dann zur Anwendung kamen, wenn die Lokalbehörden eine konkrete Gefahrensituation für ihre Dorfgenossen vermuteten oder wenn sogar ein Dorfmitglied festgesetzt werden musste, welches auf der Flucht war und dem man den Prozess machen wollte. Für die polizeiliche Hilfestellung wurden in der Regel ortseigene Bürger bewaffnet und dem Landjäger zur Verfügung gestellt, wobei es sich oftmals um ehemalige oder aktive Milizpflichtige handelte. Im Vergleich zur Aufbietung eigener Milizen zugunsten des sich im schleppenden Aufbau befindlichen Militärwesens scheint eine unmittelbare Verfügbarmachung zum Vollzug polizeilicher Verrichtungen innerhalb des eigenen Gerichtes trotz Ausnahmen auf weniger Ablehnung gestossen zu sein.325 Dass den Landjägern einheimische Hilfskräfte zur Aufspürung fremder Einwohner zur Verfügung gestellt wurden, scheint eher weniger häufig der Fall gewesen zu sein. Das Beispiel des Landjägers Michael Mutzner bildete deshalb eher die Ausnahme: In einem