Martín Camenisch

" Hoch Geachter Her Verhörrichter …"


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      Dies alles berücksichtigend können zwei Dimensionen zeitlicher Grenzenlosigkeit im Landjägerberuf konstatiert werden: Erstens waren effektive Freiräume im Sinne eines vollkommenen Losgelöstseins vom Polizeiberuf innerhalb des Tagesbeziehungsweise Wochenablaufs eher eine paragrafische Floskel als tatsächliche Realität. Zweitens war die sich nach Kategorien der Altersdimension richtende Dienstzeit nach oben offen. Dieser konnte der Landjäger nur dann entweichen, wenn er seinen freien Dienstaustritt nahm, was unter Umständen jedoch mit negativen Konsequenzen finanzieller Natur verbunden war. Insofern bleibt die Frage, ob das Konstrukt der Freizeit im Polizeisystem effektiv nur theoretischer Art war, bestehen.

      Die Definition, gemäss welcher Freizeit als arbeitsfreie Zeit umschrieben wird, ist vergleichsweise jüngeren Ursprungs.290 In einem stark landwirtschaftlich geprägten Umfeld, als das sich das Graubünden des frühen 19. Jahrhunderts in weiten Teilen präsentierte, war Freizeit im Sinn des heutigen Begriffsverständnisses ausserhalb der von der langsam einsetzenden Tertiärisierung betroffenen Domänen ein kaum vorzufindendes temporales Phänomen. Eine Trennung von Arbeits- und Freizeit setzte sich insbesondere in denjenigen Berufsgebieten durch, wo Erwerbsarbeit im Anstellungsverhältnis ins Spiel kam. Dies war in einer vorwiegend von Selbstversorgung dominierten Gesellschaftsstruktur kein Thema. Daselbst war der Gedanke, einen Zeitraum des Alltags für arbeitsfreie Interessen zu verwenden, zwiespältig. Denn gemeint ist mit dem angesprochenen Zeitraum nicht die Ermöglichung eines Intermezzos für Geselligkeits- und Erholungsansprüche. Diese waren in Abhängigkeit von Charakter und Wohlstandssituation des vorindustriellen Menschen ohne Weiteres möglich, und man gestand sich solche Arbeitspausen auch zu.291 Im vorliegenden Betrachtungszusammenhang geht es viel eher um die Empfindungsebene dessen, was der moderne Freizeitbegriff mit sich brachte. In der erwähnten Tradition des bäuerlichen Alltags jedenfalls, der durch Ora-et-labora-Einheiten besetzt war, wurden auch Sonn- und Feiertage nicht als absolute Freizeittage verstanden.292 So kann man im Fall der Polizeibeamten fragen, ob sie dank der Einbindung in ein Erwerbsarbeitssystem einen Teil ihres Alltags tatsächlich als von allen Dienstfaktoren losgelöste Freizeit empfanden. Jedenfalls war der nach pekuniären Lohn- sowie amtlichen Anstellungsprinzipien funktionierende Polizeiberuf trotz allmählich einsetzendem Strukturwandel im Graubünden des frühen 19. Jahrhunderts nach wie vor ein Exotikum. So fällt es schwer, die von oben erfolgte Äusserung des Zugeständnisses freier Tage vollumfänglich als reines Regelwerk sine intentione abzutun. Allerdings steht auch fest, dass eine allfällige Freizeit (und dies haben die vorherigen Bemerkungen gezeigt) angesichts der permanenten Bereitschaftspflicht auf jeden Fall eingeschränkter Natur war. Zu diesem permanenten Pikettdienst nämlich gehörte einerseits die Alarmbereitschaft bei Gefahren oder beim Ertappen von Aufenthaltern ohne Aufenthaltsbewilligung, andererseits aber auch die bereitwillige Entgegennahme von ad hoc-Aufträgen. Letztgenanntes ständige Verfügbarsein während der Freizeit war von den Bündner Landjägern gegenüber zwei Seiten zu erfüllen, nämlich gegenüber dem Kanton als auch gegenüber den Ortsobrigkeiten. Ein Bericht des Landjägers Christian Bantli über die zeitraubende Tätigkeit der Überwachung des Gefangenen Joseph Kap gibt Einsicht in dieses Beziehungsgeflecht:

      «[I]ch hab schon zweÿ mahl die keten und Preson Schlüßel ab gegäben und wie ich wider um komme so seind die Herren; und der H-fisgall: Damone an mier; nemt ihr die Schlüßel auf diße können wier uns nicht verlaßen; so das ich nebst meinen anderen Pflichten hier wäder Son; noch Feirtäge kaum Zeit hab meine kleider und wafen in stand zu halten; wan ich mich von dem Kap los sprechen will; so sagen die Herren vier wollen es beÿ dem Herren Paron schon gut machen das ihr kein verweis bekommen.»293

      «Ich habe schon zweimal die Ketten und Gefängnisschlüssel abgegeben. Nichtsdestotrotz gelangen die Herren [der Ortsobrigkeit] als auch der [Kantonsverhörrichter] de Mont an mich: ‹Nehm[en Sie/Nimm du] die Schlüssel, auf die [ortseigenen Gefangenenüberwacher] können wir uns nicht verlassen.› Sodass ich nebst meinen anderen Pflichten hier weder am Sonn- noch an anderen Feiertagen kaum Zeit habe, meine Kleider und Waffen instand zu halten. Wenn ich mich von [der Gefangenenüberwachung] lossprechen möchte, sagen die Herren, dass sie [sich mit dem Verhörrichter schon arrangieren würden, dass ich] keinen Verweis [erhalte]. [Ergänzungen M. C.]»

      Die Gefangenenüberwachung, für welche die Ortsobrigkeiten die Dienste des Polizeikorps oftmals strapazierten, war bis zu einem gewissen Grad offiziell erlaubt: Einerseits war es der Polizeileitung genehm, wenn das Entfliehen von Verbrechern mittels polizeilicher Mithilfe unterbunden werden konnte. Andererseits war die Verfügbarmachung der kantonalen Polizeikräfte auch als wohlwollendes Zeichen gegenüber den Obrigkeiten zu verstehen, um deren Zustimmung für das Korps und den Kooperationswillen der lokalen Behörden zu forcieren. Trotz dem klaren zeitlichen Rahmen294 wurden diese Polizeidienste aber oft über Gebühr in Anspruch genommen, weshalb es in der Frage der Gefangenenüberwachung zu vielen Beschwerden durch den Verhörrichter kam.295 Die zitierten Aussagen Bantlis zeigen mitunter die obrigkeitliche Strategie, das verhörrichterliche Verständnis für ihre Anliegen zu gewinnen. Das Beispiel verdeutlicht weiter, dass der Kanton wegen der von zwei Seiten auf die Polizeibeamten zukommenden Aufträge eine möglichst lastfreie Freizeit gar nicht ermöglichen konnte. Offensichtlich musste dies die Polizeileitung nolens volens hinnehmen.

      Aus einer anderen Perspektive zeigt das zitierte Beispiel schliesslich auch, wofür die Freizeit gemäss formal-normativem Polizeisystem verwendet werden sollte: Indem Landjäger Christian Bantli auf den Unterhalt der Ausrüstung verwies, wusste er sich gegenüber seinem Vorgesetzten als gewissenhafter Polizeibeamter zu präsentieren, dessen Freizeit immer im Dienst des Polizeiwesens stand. Der Unterhalt der Ausrüstung wurde auch in den Intruktionen explizit vorgeschrieben, wobei dieser klar und deutlich nicht in die aktive Dienstzeit fallen sollte:

      «Dieselben haben bei Dienstfunktionen stets in ihrer Montierung, allzeit reinlich und ordentlich, auch in der Montur alle möglichst gleich gekleidet zu erscheinen, und haben für ihre Armaturstücke gehörige Sorge zu tragen.»296

      Hier zeigt sich, dass Freizeit nicht im Sinn von «Selbstentfaltung» verstanden wurde und den Gesetzmässigkeiten der Arbeitszeit zu folgen hatte. Im Wesentlichen indes schwiegen sich die Instruktionen über die Freizeit der Landjäger aus. Vom Verhörrichter ist einzig bekannt, dass er es «für Katholiken [als] ein[e] der ersten Pflichten» erachtete, «wenigstens an Sonn- und gebotenen Feiertagen eine heilige Messe anzuhören».297 Diese Ansicht erwähnte er zwar im Zusammenhang mit der Organisation von Gottesdiensten im Zuchthaus. Angesichts der Bedeutungszuweisung und der allgemein gefassten Formulierung jedoch tangierte sie jeden guten Christen und in diesem Sinn auch die Landjäger. Beim Wortlaut des Verhörrichters indes handelte es sich explizit nicht um eine Anweisung, sondern er betrachtete den Besuch des Gottesdienstes als innere Pflicht. So betonte er an anderer Stelle in einem Bericht an den Kleinen Rat betreffend Landjäger Simeon Fleisch, dass dieser «sehr irreligieus zu seyn und an nichts zu glauben» scheine, was er jedoch nicht als Anlass für eine Zurechtweisung, sondern als mögliche Begründung für dessen fehlerhaftes Verhalten aufführte.298 Der Anspruch des regelmässigen Gottesdienstbesuches konnte aber zuweilen überaus schnell fallengelassen werden: Nach einer angeblich durch den Landjäger Joseph Bergamin weitergeleiteten Anfrage der Obrigkeit von San Bernardino an den Verhörrichter, den Landjägerposten von Mesocco nach San Bernardino zu verlegen, antwortete dieser, dass Bergamin auch weiterhin in Mesocco stationiert bleiben müsse. Er habe «jedoch alle Sonn- und Feiertäge und nur wann es wohl möglich ist auch dann und wann einmal in der Woche nach Bernhardin zu gehen und sich dort aufzuhalten».299 Dies verdeutlicht, dass das Freizeitfenster in der Praxis oftmals dem polizeilichen Auftrag geopfert wurde. Diese Prioritätensetzung lässt sich auch in einem weiteren Bereich des polizeilichen Freizeitdispositivs der Bündner Landjäger feststellen: Obwohl das Wort «Urlaub» in den Quellen nirgends Erwähnung findet, kristallisierte sich im Lauf der Jahre die Praxis heraus, den meisten Landjägern auf deren Anfrage, sofern die Bedingungen günstig waren, einen Urlaub von einigen wenigen Tagen zu gewähren. Diese Heimreise konnte in den meisten Fällen nur einmal pro Jahr beansprucht werden, wobei Reisen nach Chur davon, sofern sie im Zusammenhang mit einer Problemlösungsabsicht standen, welche ihrerseits auch der Polizeileitung genehm war, nicht betroffen waren. Zu letztgenannter Kategorie zählten beispielsweise Schuldenbegleichungen an Personen,