Martín Camenisch

" Hoch Geachter Her Verhörrichter …"


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Landjäger auch für Uniformrestitutionen nach Chur gehen. Entsprechende Beispiele wiederholen sich im Quellenmaterial in überaus hoher Anzahl.

      Falls ein Urlaubsgesuch gutgeheissen wurde, hatte der Landjäger in der Regel für die Zeit seiner Abwesenheit einen Ersatzmann als provisorischen Polizeibeamten zu suchen. Oftmals schlugen die Landjäger dem Verhörrichter schon bei der Anfrage einen möglichen Stellvertreter vor. Landjäger Placidus Genelin beispielsweise gab für die Zeit seiner Abwesenheit am Markt von Lugano als Ersatzmann Domenig Kinzel von Grono an, welcher sechs Jahre in der Miliz gedient habe.300 In anderen Fällen wurde ein Landjäger als Ersatzmann eingesetzt, welcher zur Zeit der Anfrage entweder in Chur oder an einem nahe gelegenen Ort stationiert war. Für diese Praxis kamen insbesondere die Landjäger am Grenzzoll infrage: Der in Brusio am Zoll stationierte Landjäger Andreas Flütsch, welcher es nach eigenen Worten «sehr nothwendig» hatte, nach Hause zu gehen, schlug dem Verhörrichter den zur selben Zeit im Val Poschiavo stationierten Landjäger Paul Haag vor, wobei er im Fall eines ablehnenden Entscheids des Verhörrichters auch einen anderen Ersatzmann aufsuchen könne.301 Der Verhörrichter gewährte ihm 14 (!) Tage Urlaub und willigte mit der Voraussetzung ein, dass er sich im Fall einer längeren Abwesenheit «durch einen andern Vertrauten Mann ersezen zu laßen» habe.302

      Der Heimurlaub war der einzige Moment im Jahr, während dem der Landjäger frei von allen Dienstpflichten war. Aber selbst bei solchen Urlauben wurde von den Landjägern verlangt, die Heim- und Rückreise in Uniform zurückzulegen, um bei allfälligen Ereignissen als Dienstperson einschreiten zu können.303 Die Heimreise konnten die Landjäger anders als bei Urlaub höchstens in bewilligten Notfällen antreten. In seinem Rapport vom April 1840 beispielsweise ersuchte Landjäger Christian Grass d.Ä. um die Erlaubnis, für einige Tage nach Hause nach Serneus (Klosters) zu gehen, um das von grossen Windschäden zerstörte Dach persönlich reparieren zu können.304 Der Landjäger aus dem Prättigau erhielt die Erlaubnis, über die Karzeit drei bis fünf Tage nach Hause zu gehen.305 Sein Namensvetter Joos Grass als weiteres Beispiel hatte 1839 eine ähnliche Erlaubnis erhalten, nachdem auf seinem Maiensäss «ein Stall und eine Hütte verbrunnen» seien.306 Schliesslich zählten auch längere Krankheiten zu den sogenannten Notfällen. Dem bei der Tardisbrücke stationierten Landjäger Johann Luzi Sutter beispielsweise schickte der Verhörrichter, nachdem Sutter wegen seines Unwohlseins um einen Ersatzmann für drei bis vier Tage gebeten hatte, den Landjäger Joseph Sandriser. Dieser sei unmittelbar nach Ankunft wieder nach Chur zurückgekehrt, «da Sutter wieder gut seÿ».307

      Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass ein abschliessendes Urteil betreffend gefühlter Freizeit im Sinne einer Restzeit für die Selbstverwirklichung ambivalent ausfallen muss. Jedoch kann festgehalten werden, dass die Erwerbsarbeit im Vergleich zu der überwiegenden Mehrheit der Bündner Familienorganisationen eine historische Anomalie bildete. Jedenfalls definierte dieses Arbeitssystem das Verhältnis von Arbeits- und Familienzeit von Grund auf neu. Davon waren jene zahlreichen Polizeibeamten betroffen, welche eine Familie gegründet hatten. Obwohl auf die Ausprägungen dieses Verhältnisses insbesondere im Kapitel zu den Interaktionen eingegangen wird, 308 kann die strikte Trennung der beiden Alltagsbereiche als gewisses Novum betrachtet werden. In ihren Untersuchungen zu den Formen des Familienlebens hat Rosenbaum die Freizeit auch als Resultat des Entstehungsprozesses einer bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet, wobei sie dabei insbesondere auf die Trennung von Arbeits- und Wohnstätte verwies.309 Diese Konstellation ist im Fall der Landjäger eindeutig festzustellen und unterstreicht die Tendenz hin zu einer erlebten Freizeit. Im Grossen und Ganzen aber unterstand die Freizeit, sofern nicht wirklicher Urlaub gewährt wurde, der permanenten Einwirkung des Bereitschaftsgebots und war insofern nie eine Freizeit im modernen Sinn. Mit Blick auf die Zeitfrage lässt sich schliesslich festhalten, dass die Tätigkeit der Landjäger ganz dezidiert durch diametral entgegengesetzte Zeitdefinitionen bestimmt war: In Akutsituationen bedeutete jede verstrichene Sekunde verlorene Zeit. Zugleich hatten sie infolge ihrer Pflicht zur permanenten Alarmbereitschaft alle Zeit der Welt und mussten diese auch dafür verwenden. So verdeutlicht letztlich gerade das Kapitel Freizeit die militärischen Wurzeln des Landjägerkorps und das diesbezügliche Erbe, das den Transformationsprozess überlebt zu haben scheint. Alarmbereitschaft und Soldatentum waren bis zur Professionalisierung des Militärwesens ein untrennbares Beziehungspaar, nur dass im Fall der Polizeibeamten der Feind im Inneren gesucht und bekämpft wurde. Wie im nächsten Unterkapitel noch eingehender gezeigt wird, war dieses permanente Verbundenheitsgefühl mit dem Dienst für die Landjäger insbesondere in der Kurzzeitperspektive, das heisst im Wechsel von Tages- und Nachtzeit, spürbar.

      Nacht

      Die Erforschung der Nacht nach geschichtlichen Gesichtspunkten kann nicht auf eine lange Tradition zurückblicken. Im Zentrum der Untersuchungen stand zumeist die Beleuchtungsgeschichte als Teilgebiet der Technikgeschichte. Sozialgeschichtliche Forschungsarbeiten zum Nachtleben sind dagegen dünner gesät. Die bisherigen Untersuchungen konzentrierten sich in erster Linie auf das Stadtleben und behandelten, was das frühe 19. Jahrhundert betrifft, insbesondere Sicherheits-, Sittlichkeits- und in deren Folge auch Disziplinierungsfragen.310 Auf der Nacht auf dem Lande dagegen ruht nach wie vor ein verdeckender Schleier. Dieser Themenbereich ist im vorliegenden Zusammenhang insofern von Bedeutung, als die Bündner Landjäger in ihrer grossen Mehrheit nicht in der Stadt, sondern in mittelgrossen bis sehr kleinen Dörfern und Weilern stationiert waren.311 Aufgrund ihres Hauptauftrags, illegale fremde Aufenthalter zu vertreiben, erfolgten ihre Patrouillen über weite Strecken abseits des besiedelten Gebiets. Im polizeilichen Raumdiskurs traten diese Zufluchtsorte fernab der Siedlungen mit Bezeichnungen wie «Schlupfwinkel» oder «Ausörter» in Erscheinung.312 Es wurde bereits erwähnt, dass die Landjäger gemäss Paragraf 7 der Instruktion von 1828 Tag und Nacht in Alarmbereitschaft zu stehen hatten. Abgesehen von dieser passiven Dienstpflicht wurde in den Instruktionen betreffend aktive Bereitschaft während der Nachtzeit nichts verfügt. Gewohnheitshalber galt jene Weisung, welche der Verhörrichter auch dem in Splügen stationierten Landjäger Johann Steger auferlegt hatte: Dieser sollte «seine Touren so einrichten, daß er gegen Abend immer nach Haus kommen» könne.313 Anders jedoch scheint es sich im Fall eines Transports verhalten zu haben: Die betroffenen Personen sollten, sofern nicht explizit krank oder in ihrer Mobilität schwer beeinträchtigt, so schnell als möglich, das heisst ohne allzu starke Berücksichtigung von Tages- und Nachtzeit, weitertransportiert werden. Daraus wird ersichtlich, dass eine aktive Nachtdienstpflicht insbesondere darin bestand, zu transportierende Personen während der Nachtstunden zu beaufsichtigen und zu verpflegen. Hingegen sollten für die externe Verköstigung der «Schüblinge» nicht zu viele Pausen eingelegt werden, da dadurch aus Sicht des Kantons Spesen eingespart werden konnten. Es sei, so hatte der Verhörrichter dem in Splügen als Nachfolger Stegers stationierten Landjäger Sixtus Seeli zu verstehen gegeben, immer schnellstmöglich weiterzumarschieren:

      «Anbei muß man aber bemerken, daß die Landjäger mit Schüblingen, die nicht krank sind, Stationen von 4 bis 6 Stunden ohne einzukehren machen sollten, 18 [Kreuzer] für einmal Eßen wohl viel ist, indem den Leüten nur Suppe und Brod abzureichen kommt, man bemerkte auch im Unkosten-Verzeichniß, daß Seeli mehrere Schüblinge ohne Ursache über Mittag und Nacht in Splügen verpflegte. [/] Da dieses nur Zeit verloren und Unkosten vermehrt ist, wird selbes ihm verwiesen und er beauftragt, in Zukunft mit den eintretenden Schüblinge gleich so weit als möglich weiter zu gehen.»314

      Wenn der Verhörrichter dem Landjäger Johann Steger mitteilte, dass «auch bei etwa vorfallenden Eskortirungen von Schüblingen» versucht werden solle, abends «so viel als möglich nach Hause eilen» zu können, 315 dürfte dies wohl eher eine Ausnahmeregelung gewesen sein. Im Regelfall jedenfalls war, angesichts der Tatsache, dass mit der obrigkeitlichen Unterstützung nicht hinlänglich zu rechnen war, 316 anders vorzugehen: Der in Ponte stationierte Landjäger Christian Grass d.Ä. beispielsweise wurde dafür kritisiert, transportierte Personen «über Nacht und Mittag» an seinem eigenen Stationsort verpflegt zu haben. Weiters wurde ihm vorgehalten,

      «daß er für die Pitsch Largiader mit 48 [Kreuzern] über Nacht besonders aber mit 24 [Kreuzern] Frühstük den 17. Apr. in Brail zu viel für Zehrung [ausgelegt habe], indem der