offizielle Übergabe über die Grenzen abgeschoben, was nach ihrer Rückkehr zur erneuten Abschiebung führen konnte, sodass es im Extremfall theoretisch zu mehrfachen Überführungen ein- und derselben Person kommen konnte. Insbesondere Wirsing hat in seiner Untersuchung zu den süddeutschen Staaten des frühen 19. Jahrhunderts auf diesen Umstand hingewiesen. Ein extremes Beispiel aus den Verhandlungen der zweiten Kammer der Ständeversammlung des Königreichs Bayern aus dem Jahr 1827/28 zitierend schreibt er, dass ein- und derselbe Vagant in einem Quartal von der Gendarmerie 54 Mal über die Grenzen geführt worden sei, wodurch in der Statistik 54 Vaganten erscheinen würden.255 Ob auch in Graubünden dieselbe Person mehrmals verzeichnet wurde, geht aus diesen Zahlen nicht hervor, ist angesichts der genauen Zahl und der strengen Buchführung mit Übersicht über alle berichteten Personennamen und von den Landjägern erfassten Signalemente jedoch eher unwahrscheinlich.
22 Cyprian Axt, 38 Jahre, aus Tautmergen, Württemberg. Polizeifahndungsfotografie von Carl Durheim, Bern 1852/53.
23 Das Rheintal von Pfäfers aus betrachtet, um 1815. Gouache von J. A. Knip. Am rechten Rheinufer Maienfeld mit der St. Luziensteig und dem zum Rhein abfallenden Fläscherberg an der Grenze zum Fürstentum Liechtenstein.
Als Beispiel für einen polizeilich dokumentierten «Schüblings»-Transport kann der Rapport des provisorischen Landjägers Johann Weber an den Verhörrichter herangezogen werden, welcher sich durch sehr genaue Angaben zu den Übergabezyklen auszeichnet:
«Mitkommend erhalten Sie die Liste die vom 27 Feber bis 4 April durch den unterzeichneten aufgefundenen Vaganten und Transportirten Arrestanten den Patesta Barmolin aus Welsch Lavin dem Landjager Petter Clavadetscher übergeben zu Zernetz den 2 März, und den Victor Canepa aus der Provinzia Babio [Bobbio? M. C.] übernohmend. 3. März vom H. Pass-Commissair zu Madulain u. übergeben dem landjäger [Jakob] Wunderer zu Berganova [Borgonovo, M. C.] den 4. März, und 16 März die Maria Margreth Tschudi übernohmen von Landjäger Petter Clavadetscher, u. dem Landjäger [Leonhard] Fausch zu Avaneuer Land übergebend. 17 März am 18 v. Landjäger Fausch den Petter Joh. Malgrit übernohmen und dem Landjäger [Johann] Bäder in Cierfs [Tschierv, M. C.] übergeben den 20. März, und der Landjäger Petter Clavadetscher schon am Morgens fruh sich nach dem Münster Thall begeben hatte für seine Tur zu machen. […] Unterthänigster Diener [/] Joh. Weber prov Landjäger.»256
Falls möglich wurden Papierlose zuweilen auch für weitere Abklärungen zum Verhörrichter nach Chur transportiert. Dorthin wurden sowohl ausgeschriebene Personen als auch einheimische Gefangene überbracht, welche die Gemeinden zur Verwahrung nach Chur in den Sennhof transportieren lassen wollten. Nach der Abklärung in Chur wurden ausgeschriebene nicht einheimische Personen wieder von Landjäger zu Landjäger bis zur Grenze des den Häftling in Empfang nehmenden Staats transportiert. Schliesslich gab es noch diejenige Gruppe einheimischer Gefangener, welche die Landjäger von Gericht zu Gericht transportieren sollten. Diese Variante war gewissermassen eine Fortsetzung der ursprünglich im Freistaat der Drei Bünde durch den Gerichtsweibel gehandhabten Praxis der vorrevolutionär-protopolizeilichen Gefangenentransporte. In diesem Zusammenhang kann das Beispiel des im Einleitungskapitel erwähnten Landjägers Michael Mutzner herangezogen werden: Der Aufruf zur Verhaftung des Jakob Anton Peterelli von Savognin sei, so Mutzner an den Verhörrichter, durch Landammann Rudolf von Planta und Kommissär Gilli erfolgt.257 Übernommen habe er Peterelli in der Wohnung des Doktors Andreas Bernhard in Zuoz. Nach Präsentation vor den Auftraggebern habe er den Gefangenen «beim Weißen Creüz auf dem Rathaus in beisein des L[and]Weibels» eine Nacht lang überwacht. Danach habe er ihn später «mit Begleit des Weibels beim Herren Gillj» zu Landammann Rudolf Biveron in Pontresina geführt. Letztgenannter habe ihm ein Schreiben an Landvogt Peterelli und an die Obrigkeit von Savognin gegeben, gemäss dem «sie disen mann bei Haus Halten sollen in betretungsvall mann disen auf ihrer Spesen Überlieferren werde».
Abschliessend gilt zu unterstreichen, dass die Landjäger für jegliche Art von Transporten, insbesondere bei Gefangeneneskortierungen, auf die Hilfeleistungen von freiwilligen Ortsbürgern, welche dann vom Kanton vergütet wurden, zählen konnten.258 Die Regelung hatte jedoch nicht absoluten Charakter, sondern war an die jeweiligen Gegebenheiten gebunden: In seiner Weisung an den in Splügen stationierten Landjäger Peter Clavadetscher etwa schrieb der Verhörrichter betreffend Gaudenz Mani, der «wegen Miteskorte über den Bernhardin-Berg bei Transportierung des Vidua und des Negro» behilflich gewesen sei, dass man demselben zwei Gulden zukommen lasse. Das Gesetz schreibe zwar vor, dass man Helfern in der Regel zehn Kreuzer pro Stunde ausbezahle, Mani jedoch erhalte wegen der schlechten Witterung den Sold für zwölf Stunden.259 Ein weiterer Beweis für die Relativität der gesetzlichen Bestimmung zeigt das Beispiel des Johann Sprecher. Der Verhörrichter liess den in Davos stationierten Landjäger wissen, was im Gegensatz zur Behandlung von verurteilten oder ausgeschriebenen Häftlingen bei einem Vagantentransport zu gelten habe: Es sei im Fall Sprechers, da es sich in den Augen des Verhörrichters offenbar um eine vergleichsweise kleine Gruppe handelte, «wegen zweÿ erwachsenen Personen und 2 Kindern wohl nicht nöthig [gewesen,] einen Gehülfen zu nehmen».260
2.5 Der polizeiliche Raumdiskurs
Die Auseinandersetzung mit der polizeilich definierten physischen Lebenswelt der Landjäger enthüllt eine eigene Lexik, die in ihrer Bedeutung und Eigentümlichkeit eine spezielle Betrachtung erfordert. Der Begriff Raumdiskurs wird im Sinne Foucaults als ein «sprachlich produzierter Sinnzusammenhang» verstanden, «der bestimmte Vorstellungen forciert, die bestimmte Machtstrukturen und Interessen gleichzeitig zur Grundlage haben und erzeugen».261 Die Diskursanalyse setzt mit anderen Worten bei der organisationsintern verwendeten Lexik an. Im Zentrum des Interesses steht die Suche nach dem Sinnzusammenhang, der sich hinter den mehrschichtigen Dimensionen der gewählten Begriffsgruppen versteckt.
Im Grunde genommen wäre das Zirkulationsund geografische Haupttätigkeitsfeld der Bündner Landjäger des frühen 19. Jahrhunderts schnell umschrieben: Es umfasste das ganze Kantonsgebiet. Insofern gab es, so wie es im polizeilichen Diskurs ganz allgemein und bis in die Gegenwart die Regel ist, keine wirklichen Verbotszonen, sondern nur das ganze Hoheitsgebiet. Damit ist jedoch bereits die erste Problematik angesprochen: die Privatsphäre. Sie konnte von der Polizei nur dann betreten werden, wenn sie durch hoheitliche beziehungsweise rechtliche Befugnis dazu aufgefordert wurde. Dies verdeutlicht, dass der polizeiliche Handlungsspielraum tatsächlich voll umfassend war, dass die Polizeibeamten jedoch Zonen eingeschränkten Rechts berücksichtigen mussten. Das Überschreiten einer festgelegten Grenze, welche in einem modernen Rechtsstaat durch eine gerichtliche Befugnis erfolgen kann, blieb im jungen und sehr föderalistisch geprägten Kanton Graubünden, in Abwesenheit zentralisierter Gerichte für die einheimische Bevölkerung und angesichts der erhaltenen starken Autonomie der Gerichtsgemeinden, de facto nur den lokalen Obrigkeiten vorbehalten. Primär steht hier deshalb die Umschreibung desjenigen Handlungsraums im Fokus, den die Landjäger ohne spezielle Verfügung zu durchstreifen und zu überwachen hatten.
Der Diskurs innerhalb der Polizeiinstitution konzentrierte sich erwartungsgemäss weniger stark auf die Beschreibung schöner Pässe und idyllischer Szenerien, wie sie in der damaligen Reiseliteratur anzutreffen war, 262 sondern interessierte sich vielmehr für die Schattenseiten der Landschaftstopografie. Die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Geowissenschaften manifestierende Unterteilung in sogenannte Aktiv- und Passivräume263 kann im polizeilichen Raumdiskurs als ein entgegengesetzten Vorzeichen unterworfenes Dichotomisierungsschema betrachtet werden. Passivräume waren hierbei nicht Zonen abwesender anthropogener Aktivität, sondern als Rückzugsort und Versteck diejenigen Territorien, in welchen die gesuchten oder ausgeschriebenen Personen am ehesten zu vermuten waren. Als Beispiele für die Rückzugsräume verdächtiger Personen können die zahlreichen Weisungen betrachtet werden, die der Verhörrichter den jeweiligen Landjägern bei einem bevorstehenden Postenwechsel zur Erinnerung weitergab. Dem in Mesocco stationierten Landjäger Joseph Sandriser etwa, welcher von Johann Baptista Bergamin abgelöst werden