Martín Camenisch

" Hoch Geachter Her Verhörrichter …"


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die genaue Dienstverrichtung der Zollaufseher während der Nachtzeit und den tatsächlichen Beginn intensiver nächtlicher Zolleinnahme ist im Weiteren nichts Konkretes herauszufinden. Landjäger Christian Alig, am Endpunkt der über die San-Bernardino-Route führenden Kommerzialstrasse in San Vittore348 stationiert, wollte 1836 vom Verhörrichter wissen, ob der Kanton nun beabsichtige, die Zollstation mit Kerzen und Laternen zu versehen, wenn die Ware auch bei Nacht inspiziert werden sollte.349 Dies verdeutlicht, dass die durchgehende Zolleinnahme zu Beginn des Jahres 1836 noch von verschiedenen Komplikationen begleitet war. Trotz solcher organisatorischer Erschwernisse mussten die Landjäger am Grenzzoll auch während der verkehrsarmen Nachtstunden in ständiger Alarmbereitschaft stehen. Der Standeskassier war als Oberaufsichtsorgan nicht zuletzt auch deshalb der Meinung, die Landjäger am Grenzzoll an den Holzeinzugsgebühren beteiligt zu lassen, weil sie als permanente Nachtwachen dienten:

      «Diese Landjäger verdienen, da sie zu Sicherung unserer hauptfächlichen Einnahmen angestellt sind, wol einen Vorzug, vor denjenigen, die nur etwa Vaganten von einem Ort zum andern [transportieren], oder über die Grenze zu schieben haben; sie verdienen ferner einen Vorzug, weil sie zu Nachtwachen verpflichtet sind.»350

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      29 Die alte, über den Hinterrhein führende Holzbrücke bei Splügen, um 1828. Stahlstich von W. Brockedon, E. F. Finden.

      Als entscheidendes Argument taugte diese Differenzierung jedoch nicht, da die Landjäger am Grenzzoll bekannterweise nicht als einzige Polizeibeamte Nachtwache leisteten. Die Landjäger auf den Laufposten verrichteten wie oben geschildert immer wieder unentgeltlichen Nacht(wach)dienst, ganz zu schweigen von den im Zuchthaus Sennhof angestellten Landjägern. Betreffend Nachtzeit galt für Letztgenannte gemäss Instruktion die Regelung, dass jeder Landjäger «spätestens» um neun Uhr abends im Sennhof sein und «bis in der Früh» daselbst bleiben müsse.351 Dass ein nächtliches Fernbleiben für wachtpflichtige Landjäger klare Strafen (in der Regel Arrest) bedeuten konnte, zeigt ein Bericht des Verhörrichters an den Kleinen Rat. Auf den fehlbaren Landjäger Christian Juon bezogen schrieb er:

      «Es ist wohl wahr, daß andere Landjäger auch hie und wieder über Nacht ausblieben, aber gewöhnlich entschuldigten sie sich darnach mit mehr oder weniger plausibeln Gründen; jedes Mal wurden die Fälle im Notizenbuch bemerkt und die betreffenden mit angemeßener Strafe belegt, seit vorigen Herbst aber fand dieses, wie bereits mündlich angezeigt wurde, aus dem Grunde leider nicht mehr statt, weil zur Erstellung einer Kanzlei für den Herren Verhörrichter die bis dahin zu Arest benuzten Zimmer verwendet wurden, es zwar hieß, daß fernerhin der Thurm oder die Vagantenzimmer dazu genommen werden können; welches jedoch durchaus nicht schicklich war, indem ersterer meistens zu Gefangenschaften für Züchtlinge diente, leztere stetsfort mit zahlreicher Garnison besezt sind, von welcher beßer zu schweigen ist.»352

      Im Gegensatz zu den Landjägern im Zuchthaus mussten ihre Korpskameraden auf den grenznahen Laufposten explizit nächtliche Patrouillen durchführen. Eine relativ gute Vorstellung von solchen Patrouillen gibt die Auflistung, die Joos Grass Anfang November 1840 für den abgelaufenen Monat Oktober einsandte und welche sich tabellarisch gut rekonstruieren lässt. Dabei führt die Tabelle nur diejenigen Patrouillen auf, die entlang des Grenzgebiets durchgeführt wurden. Unerwähnt blieben folglich alle anderen Aktivitäten des betreffenden Landjägers – seine nächtlichen Patrouillen Richtung Oberengadin und Septimerpass miteingeschlossen.

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      Tabellarische Übersicht der an der Bergeller Landesgrenze durchgeführten nächtlichen Patrouillen des Landjägers Joos Grass, Oktober 1840.

      Grass schob den angegebenen Dienstzeiten noch einige besondere Bemerkungen nach:

      13. Oktober 1840: «Befelch zu Patrolieren bei Tag und bei Nacht zu verschiedener Zeit einer nach dem andern und sonst zu Wachen ohne besondere Verdacht nicht mehr.»

      20. Oktober: «Mußte ich den Dienst beim Zoll versehn, während der Herr Zoller und [Landjäger Florian] Flütsch gegangen wahren, ihren schon früher gekauften Wein Abzuholen.»

      20.–23. Oktober: «Ist mier befohlen die Abwege zu bewachen weil so viel Wein hekam.»353

      Die in Zusammenhang mit der Nacht vorgebrachten Ansprüche an die mit Abstand grösste Landjägergruppe (Laufposten) waren aus physischer und psychischer Sicht erwartungsgemäss am höchsten. Diese Feststellung bezieht sich auf ihre Pflichten betreffend nächtliche Patrouillen, Vagantentransporte und Gefangenenüberwachungen. Zudem konnten die Landjäger auf den Laufposten in Einklang mit dem formal-normativen Polizeisystem auch nachts für administrative Verrichtungen herangezogen werden. Ein Beispiel hierfür ist das Austragen von Nachtexpressen. Dies betraf in erster Linie die in Chur stationierten Landjäger, welche für die Bezirke in der Umgebung der Kantonshauptstadt zuständig waren und sich für administrative Verrichtungen am einfachsten anboten:

      «Öfters, besonders seit einiger Zeit traf es Landjäger über ihre Station, ja ein und zwei Tagreisen weit als Expressen mit Briefen zu gehen, auf daß die Antworten desto schleuniger und sicherer zurück gelangen. [/] Auf diese Weise mußten vorigen Herbst Landjäger [Joseph Anton] Schuler nach Splügen, [Peter] Nutt ins Engadin, dann kürzlich [Martin Antoni] Albin spät Abends nach Bonaduz, dergleiche wieder nach Dissentis und [Hercules (Franz)] Derungs Nachts nach Illanz und gestern wieder nach Sagens.»354

      Die Ausgangslage bei Zwischenfällen zu nächtlicher Stunde war, dies alles berücksichtigend, für die Landjäger am Grenzzoll und im Zuchthaus vergleichsweise vorteilhafter. Das Thema Licht spielte hierbei eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zur permanent verfügbaren Lichtquelle in Zollstationen und Zuchthäusern waren in einer Zeit, als die erste Strassenbeleuchtung noch in weiter Ferne lag, 355 die siedlungsfernen Orte, in denen sich die Landjäger auf den Laufposten bewegten, als deren Negativ gewissermassen die unheimlichen Flecken der Dunkelheit.

      Im Hinblick auf den jährlichen Anteil der Staatsausgaben für die Besoldung der Polizeibeamten ist es zum Einstieg in dieses Kapitel interessant, einen Blick auf Stefano Franscinis (1796–1857) «Neue Statistik der Schweiz» (1849) zu werfen: Der Tessiner Staatsrat und spätere Bundesrat verglich für die frühen 1840er-Jahre 17 verschiedene Kantone miteinander und unterstrich als erste Erkenntnis die Tatsache, dass die Polizeiausgaben in den Schweizer Kantonen «beinahe ausschließlich den Unterhalt der Landjäger [betreffen]» würden.356 Für den Kanton Graubünden, welchen Franscini mit einer «Stärke der Mannschaft» von 50 Polizeibeamten aufführte, gab er die Summe von 20 850 Schweizerfranken an, wobei dies «auf 1000 Seelen» 230 Schweizerfranken ergeben würde. Damit wurde Graubünden schweizweit an neunter Stelle aufgeführt.

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      31 Vergleich der Anzahl und Kosten von kantonalen Polizeikräften (1835–1844). Zusammengetragen von S. Franscini. [Anmerkungen von Franscini zur Tabelle: «1) Außer der Gensd’armerie hat der Kanton etwa sechzig Feldwächter (Gardes champêtres); 2) Das kleine Landjägerkorps kostet nur 3070 fl.; mit anderen 3000 werden Kosten für die Nachtwächter bestritten und circa 1117 für Verschiedenes; 3) In Folge der Ereignisse vom 8. Dezember 1844 und 31. März 1845 wurde die Polizeigewalt vermehrt; Ende 1845 zählte das Landjägerkorps 70 Mann.»]

      Darüber hinaus verwies Franscini in seinem zusammenfassenden internationalen Vergleich auf die Tatsache, dass die Polizeiausgaben in den umliegenden Staaten ungleich höher seien, weswegen die Schweiz von der «fremde[n] Diplomatie» auch mehrfach kritisiert worden sei. Diese Zahlen Franscinis nun geben trotz dem hohen Abstraktionsgrad eine gewisse Vorahnung vom Umfang der Finanzen, die der Kanton Graubünden dem Landjägerkorps bereitstellte. Im Hinblick auf den noch zu untersuchenden Alltag der Polizeibeamten ist daraus folgend von Interesse, welche konkreten finanziellen Bestimmungen für die einzelnen Landjäger galten. Methodisch ist diese Frage idealerweise durch die Unterteilung in