27 Fernrohr, 1823. Teilweise unleserliche Aufschrift des Namens Gian Marchet Colani (1772–1837), dem bekannten Gämsjäger aus Pontresina.
28 Laterne für Kerzenlicht, 19. Jahrhundert. Herkunftsort: Mathon.
Des Öfteren mussten die Landjäger ihre Touren auch allein durchführen. Zu dieser Auftragsart, welche sehr variierende Tagesabläufe bewirkte, gehörten auch die Tourführungen, die anlässlich spezieller Jahrmärkte angefordert wurden. Dazu zählten die traditionellen südalpinen Viehmärkte, die in Chur stattfindenden Mai- und Andreasmärkte sowie sonstige regelmässig organisierte Märkte.338 Der Verhörrichter erteilte jeweils vor Beginn der Viehmärkte allen Landjägern eine ausserordentliche Weisung betreffend Routenführung. Gewisse Landjäger mussten sogar über einige Wochen ihren Ausgangspunkt ändern und eine strategisch wichtige Stelle einnehmen, wobei in den meisten Fällen die Besetzung der Passgänge beabsichtigt war. Als Beispiel für diese alljährlich getätigte Praxis kann eine Anfang Oktober 1832 den betroffenen Landjägern erteilte Spezialweisung herangezogen werden:339
Landjäger Joseph Maculin (Grono) solle während der Rückkehr der Viehhändler von den Viehmärkten besonders auf der «dießeitigen Gränze bei Montecello bis St. Bernardin» eifrig (und dies bedeutete gerade auch während der Nacht, M. C.) patrouillieren. Er werde noch von Landjäger Mark Hartmann unterstützt, mit dem er gemeinsam, noch «vor Eintritt der strengern Jahreszeit», eine «Haupttour» durch das ganze Misox und das Calancatal zu machen und «Schriftenlose oder sonst verdächtige Fremde aus dem Kanton zu entfernen» habe. Hartmann (Castasegna) hingegen solle sich sofort nach Chur begeben. Er solle während der Rückkehr der Viehhändler mit mehreren Landjägern zu zweit Haupttouren durchführen, also mit dem erwähnten Maculin im Misox und im Calancatal, mit Peter Riedi im «ganzen Rheinwald» und mit Jakob Jecklin im Schams, das heisst von «Hinterrhein bis Bärenburg» bei Andeer. Jecklin (Thusis) solle während der Rückkehr der Viehhändler insbesondere in der Gegend zwischen Rofflaschlucht und Thusis patrouillieren. Landjäger Hercules Derungs d.Ä. (Filisur) müsse, solange Landjäger Johann Luzi Sutter in der Gegend des Berninapasses verweile, «hie und wieder eine Tour über Albula bis Silvaplana [und] dann von dort zurück […] über Scaletta und Davos nach Filisur […] machen». Landjäger Giovanni Misani (Poschiavo) solle sich auf den Berninapass begeben und mit dem von Samedan dorthin beorderten Landjäger Johann Luzi Sutter eine Haupttour durch das Val Poschiavo durchführen. Landjäger Ulrich Maculin (Disentis) müsse sich zusammen mit Korporal Joseph Casparin nach St. Mariaberg (Lukmanierpass, M. C.) begeben, um dort zu patrouillieren. Landjäger Joseph Janett (Savognin) schliesslich solle während der Zeit, in der Landjäger Mark Hartmann im Bergell abwesend sei, «hie und wieder eine Tour über Seth [Septimerpass, M. C.] bis Castasegna und von dort über Maloja und Julier zurück […] machen».
Solche im Zusammenhang mit den Märkten stehenden Weisungen hatten für die Landjäger in erster Linie häufige Nachtpatrouillen zur Folge. Andreas Flütsch beispielsweise, Landjäger am Grenzzoll in Brusio, meldete dem Verhörrichter im Oktober 1832, dass er wegen der ungewöhnlich hohen Anzahl Viehhändler unaufhörlich bei Tag und Nacht habe patrouillieren müssen.340 Weiter bedeuteten die Nachtpatrouillen aber auch häufiges auswärtiges Übernachten. Da laut Polizeileitung in solchen Stossphasen auch viele Fahrende in den Kanton einreisten, wurde eine Spezialweisung und Patrouillenverschärfung verfügt.341 Landjäger Michael Mutzner wurde vom Verhörrichter explizit dazu angehalten, während und im Anschluss an den Churer Markt «jeden Tag wahrend der Morgen und Abenddämerung bis eine Stunde Nachts von Parpan bis Lenz zu patroulieren, auch vom Markt zurückkehrende auf allenfälliges Verlangen zu eskortiren».342
Es lässt sich aus all den obigen Beispielen ganz allgemein eine Korrelation zwischen Nachtaktivität und Sicherheitsempfinden feststellen. Das nächtliche Erholungsbedürfnis wurde in der polizeiorganisationsbezogenen Beurteilungsweise sowohl der Abwendung von Bedrohungen als auch der effizienten Erfüllung des Hauptauftrags untergeordnet. So kann anhand der nächtlichen Aktivität gewissermassen die Prioritätensetzung des formalen Polizeisystems aufgezeigt werden. Dies ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Nächtliche Polizeiaktivität bedeutet nämlich auch, geleistete oder vollzogene Polizeiarbeit nicht unergiebig werden zu lassen beziehungsweise dank aktivem Vorgehen ein voraussehbares Problem sogar im Keime zu ersticken. In diesem Zusammenhang ist die Frage, inwiefern die im Kontext des Hauptauftrags verfolgte Gruppe der Fahrenden und Bürgerrechtslosen in den Augen der Mehrheit oder sogar der Polizeigremien selbst eine wirkliche Bedrohung darstellten, irrelevant. Ihre Existenz und ihre Handelspraktiken wurden im polizeilichen Diskurs als durchgehend problematisch betrachtet. Ihre Auswüchse mussten deshalb auch mit nächtlicher Polizeiaktivität eingedämmt werden. Dass das Urproblem (die Existenz von Fahrenden innerhalb des bürgerlichen Rechtsstaats) auch mit noch so grossem Polizeiapparat nicht beseitigt werden konnte, sollte sich erst in einer langen politischen Debatte mit einem daraus resultierenden Erkennungsprozess zeigen. So waren die Landjäger, und dies wird im Zusammenhang mit ihrer nächtlichen Tourführung vielleicht am klarsten erkennbar, ähnlich wie die Stadtdiener nichts anderes als Wächter in einem grossen Herrschaftsbereich, wobei ihr Verfügungsbereich im Gegensatz zu den Stadtdienern einfach mauerlos war: Während die Kriminellen in einem ummauerten Ort innerhalb dieses Gebiets verwahrt wurden, ging es bei der polizeilichen Ausübung des Hauptauftrags in der Tradition des fremdenpolizeilichen Credos um die Hütung des Gebiets vor illegalen Eindringlingen.
Im Idealfall waren die Patrouillen bei Tages- und Nachtanbruch durchzuführen. Den sich in Rongellen niederlassenden Landjäger Georg Niggli etwa wies der Verhörrichter an:
«Er hat […] täglich bei Tages und Nachts-Anbruch im verlornen Loch in der Via Mala und bisweilen auch in der Rofla auf der Landstraße und Fussweegen zu patrouillieren, die übrige Zeit aber in Schams und Avers Touren zu machen und alle Samstag den Wochen-Markt zu Thusis zu besuchen, um wegen Polizei-Patenten das Gehörige Hand zu haben.»343
Die zitierte Vorgabe verdeutlicht das vorherrschende organisationssystematische Mantra: Das zu diesen Tageszeiten vorhandene Licht war aus Sicht des Polizeibeamten insofern erwünscht, als es nicht zu hell war, um von der Zielgruppe gesichtet zu werden, und gleichzeitig nicht zu dunkel, um dieselbe zu übersehen.
Schliesslich soll zur Beantwortung der Nachtfrage noch auf die spezielle Situation der Landjäger am Grenzzoll eingegangen werden. Deren nächtliche Präsenz an der Zollstätte war in den allermeisten Fällen unabdingbar.344 Florian Flütsch etwa wurde vom Kleinen Rat explizit darauf hingewiesen, während der Nacht im Zollhaus zu bleiben345, obwohl für dessen Familie in der Nähe des Zollhauses in Castasegna eine kantonale Unterkunft gebaut worden war. Entsprechend wurde ihm im Zollhaus auch ein eigenes Bett aufgestellt. Der Grund für diese Aufforderung lag in der Bedeutung des Grenzübergangs, der auch über Nacht gesichert werden musste. Nach dem Bau der Kommerzialstrassen 1818 bis 1823 war über die Hauptrouten wie beispielsweise den Splügenpass sogar während der ganzen Nacht Durchgangsverkehr möglich. Diesbezüglich drückte Peter Conradin von Tscharner, eigentlich ein Befürworter der Kommerzialstrassen, in seinen Wanderungen durch die Rätischen Alpen auch einen gewissen Missmut über gegenseitige Entfremdung der Bündner aus:
«Mögen übrigens die großen Straßen entfernte Länder sich näher bringen; hier dienen sie eher dazu den Bündner dem Bündner zu entfremden. Denn wenn vorher in abgemessenen Tagereisen die Ermüdung des Fußgängers oder die Sorge für’s eigene Pferd auf kurzen Stationen eine mehrmalige Einkehr erforderte; so fährt man jezt mit Wechselpferden Tag und Nacht durch, und der von Chur Verreis’te kömmt über die Gränze hinaus nach Bellenz, ohne seinen Landsmann in Schams oder in Misox anders zu sehen als im Schlaf.»346
Vom erhöhten Durchgangsverkehr war auch der in Splügen stationierte Landjäger Christian Grass d. J. betroffen, welcher diesen auf dem Splügenpass täglich bis nach Mitternacht überwachte. Dazu wusste der Standeskassier zu berichten, dass der «als ein besonderer Günstling bezeichnete Graß in Splügen […] bei starrender Kälte bis 1 und