Territorien zur vertikalen Integration der Herrschaft zwischen regierenden Eliten und Regierten sowie zwischen Zentrum und Peripherie eingesetzt worden.178 Dabei unterstreicht Windler die Bedeutung der Intensität der Aussenverflechtung und die dadurch vermittelten Ressourcen für die frühneuzeitliche Staatsbildung in den eidgenössischen Orten.179 Auf diesem Befund aufbauend, sollen – gemäss der in Kapitel 1.2 formulierten Fragestellung und These – die Logiken, Praktiken und Wirkungen der grenzüberschreitenden Verflechtung der eidgenössischen Eliten auf «Staat» und Gesellschaft genauer in den Blick genommen werden. Die Untertanenproteste 1513–1516 stellen in dieser Hinsicht einen Glücksfall dar. Denn der dürftige Forschungsstand zur frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft lässt sich nicht zuletzt auf ein quellenspezifisches Problem zurückführen. Wegen ihres informellen Charakters haben Klientelbeziehungen kein systematisches Quellengut hinterlassen. Private Briefe, die weitaus beste Quelle für Patronagebeziehungen, sind in der Eidgenossenschaft um 1500 vergleichsweise rar.180 Im Verlauf der Proteste wurden die Pensionäre indessen nicht nur beim Namen genannt, sondern die Untertanen erreichten durch erheblichen Druck, dass die aussenpolitischen Verstrickungen der Ratsherren mittels Verhören aufgedeckt und deren klientelistischen Beziehungen dadurch gerichtsbeziehungsweise aktenkundig wurden. Durch diese Gerichtsakten und die überlieferten Pensionenlisten aus fürstlichen Kanzleien, welche die Pensionentransfers ausführlich dokumentieren, wird das engmaschige Beziehungsnetz zwischen einheimischen Eliten und fremden Patrons systematisch nachvollziehbar. Es werden nicht wie üblich nur vereinzelte Fragmente klientelistischer Beziehungsnetze sichtbar, sondern das gesamte vertikale Beziehungsgeflecht der politisch-militärischen Elite – oder zumindest grosser Teile davon. Die Untertanenproteste in Bern, Luzern, Solothurn und Zürich ermöglichen es, die Praktiken der politischen Einflussnahme um 1500 dicht zu beschreiben, die Verflechtung der Elite in Bern, Luzern, Solothurn und Zürich – insbesondere mit Frankreich – in einem bislang unbekannten quantitativen Ausmass systematisch zu erfassen und als Soziogramme grafisch darzustellen. Die klientelären Netzwerke in den Orten sind jedoch nicht als voneinander isoliert zu betrachten. Aufgrund der günstigen Quellensituation im Umfeld der Unruhen wird ersichtlich, dass einzelne Akteure aus unterschiedlichen Orten in ortsübergreifende Netzwerke eingebunden waren. Die verschriftlichten Aussagen dieser Akteure spiegeln die kommunikative Praktik der französischen Diplomatie und der zwischenörtischen Netzwerke wider, welche über einzelne Schlüsselfiguren funktionierte.181
Inwieweit diese Gebilde politisch effizient182 und stabil waren, ist schwierig zu beurteilen. Der politische Output dieser Beeinflussungspraktiken steht denn auch nicht im Fokus der Untersuchung, da empirische und methodische Grundlagen für die Messbarkeit von Erfolg und Misserfolg fehlen. Grundsätzlich lässt sich jedoch festhalten, dass kein Automatismus zwischen Zahlung und Leistung (bzw. politischem Erfolg) bestand. Die Frage nach der Stabilität der Verflechtung hingegen wirft ein quellenkritisches Problem auf, das nicht ignoriert werden kann. Klientelistische Beziehungen waren zwar häufig von Dauer, 183 dennoch handelte es sich bei solchen Netzwerken auch um prekäre, ephemere Gebilde. Insbesondere an deren äusseren Rändern handelte es sich, so scheint es, partiell um synaptische Verbindungen, die nur kurz aufblitzten und sich dann wieder auflösten. Denn auch einmalige Zahlungen (sogenannte «Schenkinen») an verschiedenste Empfänger gehörten zur diplomatischen Praxis der Gesandten, ohne dass dadurch eine dauerhafte Beziehung zwischen einem Patron und einem Klienten konstituiert worden wäre. Bei diesen Zahlungen scheint der Verdacht auf einfache Bestechung in der Tat gerechtfertigt zu sein.184 Mit Blick auf die Quellen erweist sich die Unterscheidung in der Praxis jedoch als schwierig bis unmöglich. Die in Kapitel III.2 grafisch festgehaltenen Netzwerke von 1512/13 stellen aus diesen Gründen eine zeitlich begrenzte, gewissermassen fotografische Momentaufnahme dar, wobei insbesondere deren Kapillaren einem steten Wandel unterlagen. Ohnehin scheint eine messerscharfe Abgrenzung einfacher gesellschaftlicher Kommunikation vom Netzwerkbegriff nicht immer möglich. Der Netzwerkbegriff, der suggeriert, dass etwas Bestehendes lediglich sichtbar gemacht werden müsse, hat die Tendenz, die Nähe des Konzepts zur trivialen gesellschaftlichen Kommunikation zu kaschieren.185 Um beide Bereiche einigermassen sinnvoll voneinander unterscheiden zu können, ist der kontinuierliche Ressourcenaustausch zwischen Patron und Klient entscheidend. Dabei wirkte die Logik, dass Patron und Klient bezüglich des Leistungsaustauschs nie quitt waren, stabilisierend auf die Beziehung.186
1 Streit um Mailand und gescheiterte Friedensgespräche – Vorgeschichte
Im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts wurde Italien zum Ziel der expansiven Pläne Frankreichs und Spaniens. Beide Länder hatten in jener Epoche bereits ein hohes Mass an monarchischer Konzentration erreicht und strebten mit der Herrschaft über Italien die Verfügung über den Reichtum der Handelszentren und über die Agrarproduktion im Norden und in der Mitte Italiens an. Die Herrschaft über die Halbinsel versprach die Sicherung der Vormacht im Mittelmeer und war gleichzeitig der Schlüssel zur europäischen Hegemonie.1 1494 war die Konsolidierung der französischen Monarchie im Innern so weit abgeschlossen, dass Karl VIII. einen Feldzug nach Neapel in Angriff nehmen konnte. Mit diesem Feldzug beabsichtigte er, die angiovinischen Ansprüche auf die Herrschaft des Hauses Anjou in Neapel mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Der Gegensatz zwischen den Valois und Habsburg wurde nach dem Konflikt der beiden Häuser um das burgundische Erbe (1477–1493) nun auf der Apenninenhalbinsel fortgesetzt und brachte das fragile italienische Staatensystem in kurzer Zeit zum Einsturz.2
Die Jahre zwischen dem Zug Karls VIII. nach Neapel 1494 und dem Sieg von König Franz I.in Marignano 1515 zeichnen sich durch zahlreiche militärische Kampagnen sowie eine ausserordentlich dynamische Koalitions- und Bündnispolitik der involvierten Machtblöcke aus. Bereits 1494 kam Frankreich neben der Überlegenheit seiner Artillerie und seiner schweren Kavallerie auch der Einsatz eidgenössischer Reisläufer zugute.3 Bis 1509 lieferten die Orte dem französischen König die begehrten Söldner. In den Jahren zwischen 1509 und 1511 kam es allerdings zu einer aussenpolitischen Neuausrichtung der eidgenössischen Orte. Diese wandten sich von Frankreich ab, worauf die 1509 abgelaufene Soldallianz von 1499 nicht mehr erneuert wurde. Es folgten ein Bündnisschluss mit dem Papst 1510 und 1511 der Abschluss der Erbeinung mit Maximilian I.4 Der 1512 aus eigenen machtpolitischen Antrieben unternommene Pavierzug führte zur Kapitulation Cremonas, Pavias und Mailands sowie der Vertreibung der Franzosen aus der Lombardei. Dadurch spitzte sich der Konflikt um den Zankapfel Mailand merklich zu.5 Am 29. Dezember 1512 setzten die Eidgenossen ohne Rücksicht auf die Interessen des Kaisers, den formellen Oberlehensherren Mailands, Massimiliano Sforza, Sohn Ludovico Sforzas, als mailändischen Herzog ein.6 Im Gegenzug verlangten die Eidgenossen und die Drei Bünde von Mailand Geldzahlungen und Gebietsabtretungen (Lugano, Locarno, Maggiatal, Domodossola, Veltlin, Drei Pleven).7 Der französische König Ludwig XII. zeigte sich allerdings keineswegs gewillt, den Verlust des Herzogtums, auf das er erbrechtliche Ansprüche geltend machte und das er immerhin seit der Eroberung im Jahr 1499 zu halten vermochte, hinzunehmen.8 Eine militärische Kampagne gegen die Eidgenossen kam für das unterlegene Frankreich zu jenem Zeitpunkt jedoch nicht infrage. Vielmehr wandte sich Ludwig auf diplomatischem Weg an seine Widersacher, um das reiche und verkehrspolitisch bedeutsame Südalpengebiet zurückzugewinnen. Er ersuchte bei den vom Papst zu Beschützern der Freiheit der Kirche erhobenen Eidgenossen um Friedensverhandlungen. Damit begann eine Phase erhöhter diplomatischer Geschäftigkeit in den einzelnen Orten und an den eidgenössischen Gesandtenkongressen. Seit Juli 1512 haben sich verschiedene Dynasten für eine Vermittlungstätigkeit zwischen der Eidgenossenschaft und dem französischen König anerboten. An einer solchen Annäherung konnte Papst Julius II., der grosse Gewinner des Sommers 1512, kein Interesse haben und mahnte die Eidgenossen eindringlich, nicht auf die Vermittlungsangebote Savoyens oder Lothringens einzugehen.9 Der Papst schien mit seinem Anliegen bei den Boten durchzudringen. Die angebotenen Dienste wurden zwar an den Tagsatzungen verhandelt, blieben jedoch folgenlos. Es gelang den Orten nicht, sich auf einen Bedingungskatalog für