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Den österlichen Mehrwert im Blick


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Pol, der zur Spannung beiträgt, wird erst deutlich, wenn man das erste Kapitel des Jesajabuches als Hintergrund hinzunimmt. Am Anfang des Buches steht es innerhalb der Gemeinschaft am Zion und in Jerusalem offenkundig nicht zum Besten. Der Anfang des Buches muss bei der Gemeinschaft Desiderate feststellen. Die Gemeinschaft folgt nicht ihren religiösen und gesellschaftlich-politischen Idealen und Satzungen, sondern verkehrt diese Ideale und Satzungen eher in ihr Gegenteil. Die Desiderate haben bereits zu fatalen Schlägen und zu Verlusten für die Gemeinschaft geführt und könnten noch weitere, ähnliche Folgen für sie heraufbeschwören.

      Die Spannung, die sich aus diesen beiden Polen ergibt, ruft im Jesajabuch eine eindringliche Fragestellung hervor: Wird die in Aussicht gestellte, erstrebenswerte Zukunft der Völker von der Gemeinschaft am Zion und in Jerusalem als etwas für sie Relevantes angenommen werden? Wird sie ihr Verhalten lenken können?

      Diese Spannung im Jesajabuch lädt letztendlich die Größe „Jerusalem und Juda“ ein, sich ihrer Rolle und Verantwortung in der Welt der Völker bewusst zu werden. Verkehrungen im Innenbereich sind eine schmerzliche und beklagenswerte Sache. Aber das Jesajabuch bleibt dem kleinen Innenbereich und dessen Mängeln nicht verhaftet, sondern bietet eine Art Selbstbesinnung anhand einer geweiteten Perspektive an. In der Besinnung reicht es nicht aus, nur auf sich selbst zu starren wie auf einen isolierten Binnenzirkel. Vielmehr ist es nötig, die förderliche und die fordernde Verwobenheit in die breite Völkerwelt in den Blick zu nehmen. Dieser neue, weite Blick über den Innenraum hinaus kann vielleicht eine Motivation dafür liefern, die eigene Lebensführung zu überdenken und neu zu gestalten.

      Wie das konkret in den Texten und im Buch aussieht, sei nun dargestellt. Zu beginnen ist mit dem oben schon zitierten Abschnitt Jes 2,1–5.

       Die Völker kommen

      Die zweite Überschrift im Prophetenbuch, Jes 2,1, wirkt wie eine kommentierende Stimme. Die Stimme stellt die Lektüre des Abschnittes 2,1–5 unter eine Regieanweisung. Was in diesem Abschnitt zu vernehmen ist, gehört zu „dem Wort“, welches Jesaja geschaut hat und welches sich auf die Zweiheit „Juda und Jerusalem“ bezieht. Beide Namen benennen Themen, die das Buch Jesaja durchziehen („Juda“ bis 65,9; „Jerusalem“ bis 66,20). Das Übergreifende im Buch gilt es zu beachten. Zwar wird unser Abschnitt nur „Jerusalem“ (vgl. 2,3) erwähnen und das ansprechen, was mit diesem Stadtnamen eng verbunden ist. Aber dem stellt die Überschrift 2,1 Signale voran, die sich an die erste Überschrift im Buch anlehnen (1,1). Die erste Überschrift bezieht sich auf das ganze Buch. Somit sind die wallfahrenden Völker zusammen mit dem wahrzunehmen, worum es der prophetischen Schrift laut ihrer ersten Überschrift insgesamt auch geht: Jesajas Vision über „Juda und Jerusalem“ (1,1). Wenn im Buch erstmals der Abschnitt 2,1–5 eine Wallfahrt der Völker zum Zion schildert, will die Schilderung anscheinend als eng auf das Buch bezogen wahrgenommen werden, und zwar derart, dass die Wallfahrt der Völker für die Konzepte im Buch bedeutsam ist. Juda und Jerusalem werden mit den Völkern konfrontiert. Man kann auch sagen: Die für das Buch ausschlaggebende theologische Größe „Israel“ wird auf die Völker bezogen.

      Von Jes 2,2 an kommt der literarische Prophet Jesaja sozusagen selbst zu „Wort“. Seine Stimme ist jetzt im Text zu vernehmen. Sofort richtet Jesaja seinen Blick auf die „zukünftigen Tage“. Er denkt dabei an keine jenseitige Ära, die erst nach dem Abbruch der Geschichte eintreten würde. Jesaja versteht die kommenden Tage und das, was sich an ihnen ereignen wird, binnengeschichtlich. Jesaja rechnet damit, dass Völker in die Stadt Jerusalem kommen werden. Aber es gibt noch einen zeitlichen Spielraum, bevor die Völker herbeiströmen. Dieser Spielraum wird für Jesaja noch wichtig werden.

      Jesaja ordnet das Kommen der Völker in eine hintergründige Topographie ein. Die Topographie stimmt nicht überein mit unserer Kenntnis über die faktische Lage der Stadt Jerusalem, über ihr Höhenniveau im Verhältnis zum Umland. Aber das Landschaftsbild, letztlich die Weltlandschaft, wird während des Kommens der Völker verwandelt sein. Das kontrafaktische Landschaftsbild hebt theologisch-konzeptionell auf die einmalige Bedeutung „des Berges des Hauses JHWHs“, des Zions, und von Jerusalem ab. Dieser Berg werde einst eine Festigkeit in der Schöpfung besitzen, er sei dann zugleich der höchste der Berge, und kein Hügel erreiche seine Höhe. Diese metaphorische Erhöhung Zion-Jerusalems wird mit der Aufwärtsbewegung der Völker zu dieser Stätte einhergehen: Sie werden „hinaufziehen“ wollen (Jes 2,3). Diese Aufwärtsbewegung der Völker schließt den Aspekt mit ein, dass die Völker solch „göttliche“ Höhe nicht mehr bei sich und in ihrem Umfeld werden finden können. Die Antike verband oft Götter und Berge, wobei die „Höhenverhältnisse“ Religiös-Theologisches zum Ausdruck brachten. Das Jesajabuch wird später – insbesondere ab Kapitel 40 – noch ausweisen, dass sich die Götter der Völker in der Geschichte als Nichtse entpuppen und dass sich Israels Gott JHWH allein als wahrhafte Gottheit erweist. Das klingt bereits in Jes 2 verhalten an. Die Völker werden schon vor ihrer Wallfahrt einsehen, dass ihnen Göttliches sowie göttliche Belehrung und Hilfe in der eigenen Umgebung und in dem ihnen sonst Zugänglichen entschwand, wohl aber in Zion-Jerusalem zu finden sein wird und dort als Geschenk entgegen genommen werden kann.

      Das attraktive, anziehende Zion-Jerusalem mit JHWHs Wohnung in der Welt wird noch vor der Ankunft der Völker eine erste, einstweilen noch provisorische Einigung unter ihnen herbeiführen. Jesaja gibt die künftigen Worte der Völker wieder und zitiert sie. Sie werden sich gemeinsam in vereinter Rede bekunden können. Zuerst werden sie sich auf eine Absicht geeinigt haben, und zwar auf ihre gemeinsame Wallfahrt: „Kommt doch, lasst uns hinaufziehen zum Berg JHWHs, zum Haus des Gottes Jakobs“ (Jes 2,3). JHWH wird für die Völker zugleich der Gott von Israels Erzvater Jakob sein. So werden die Völker auch etwas von der Geschichte JHWHs mit Israel mitbekommen haben und damit davon, wie sich JHWH über die Zeiten hin anhand von Jakob-Israel in der Welt kundgemacht hat. Die Völker werden erahnen, wer als der eine und einzige Gott im Tempel auf dem aufgesuchten Zion präsent ist. Aufgrund des Erahnten werden die Völker von JHWH Orientierung erwarten, und sie werden sich daran auch halten wollen. Denn in ihren Worten sind sie davon überzeugt, von JHWH unterwiesen zu werden, und sie erklären zudem gemeinsam ihre Bereitschaft, seiner Unterweisung zu folgen: „Er lehre uns von seinen Wegen, und wir wollen gehen auf seinen Pfaden (2,3).“ Mit der für die Bibel typischen Wegmetaphorik wird hier ein Verhalten angesprochen, welches im göttlichen Belehren vorgezeichnet und dann in lernbereiter Folgsamkeit der Völker vollzogen werden wird.

      Danach übernimmt wieder Jesaja das Wort. Dem Strömen, Gehen und Hinaufziehen der Völker zum „Berg des Herrn“ stellt er eine Gegenbewegung gegenüber: „Ja, von Zion geht Weisung aus und das Wort JHWHs von Jerusalem (Jes 2,3).“ Von zentraler Bedeutung ist der Begriff „Weisung“, hebräisch „Tora“, der kurz zuvor vorbereitet wurde durch das wurzelgleiche Verb „lehren“. Zwölfmal taucht der Begriff „Tora“ im Buch Jesaja auf (von Jes 1,10 bis 51,7) und damit vielleicht nicht rein zufällig in einer biblisch bedeutsamen Anzahl. Steht hier in Jes 2 die Tora in Parallele zum „Wort JHWHs“, dürfte Jesaja an keine feststehenden Tora-Gebote denken, sondern an eine durch das aktuelle Wort Gottes neu unterbreitete Tora. Jedenfalls wird die Tora den Völkern nicht verborgen bleiben, sondern die Tora wird sich aktiv den Völkern zuwenden.

      Jesaja entfaltet keine konkreten Inhalte des JHWH-Wortes, dafür aber den Zweck, wozu das göttliche Wort ergeht. Der Zweck besteht keineswegs darin, dass JHWH zum Strafgericht über die Völker anhebt. Er wird nicht „über“ dieses oder jenes Volk richten. Vielmehr wird JHWH „zwischen“ den Völkern richten. JHWH wird sich ihres Zusammenlebens und Miteinanders annehmen, für gerechte Rechtssprechung eintreten und auf diese Weise unter ihnen Schlichtung bewirken: „Er wird richten zwischen den Nationen und zwischen vielen Völkern schlichten (Jes 2,4).“

      Wird JHWH so die Angelegenheiten der Völker auf gerechte Weise entschieden haben, kommt es sodann unter den Völkern zu einem erstaunlichen Selbstlauf. Jesaja wendet sich mit poetisch dichten Worten diesem Selbstlauf zu, und dabei folgt nun die Formulierung, deren eindrückliche Wirkungsgeschichte im 20. Jahrhundert eingangs skizziert wurde: „Schwerter zu Pflugscharen“. Die Völker werden – so darf man meinen – wieder nach Hause reisen und dort eine so genannte „Rüstungskonversion“ vernehmen. Die teuren Materialien für Waffen und ihre aufwendigen Herstellungen hatten schon in der Antike wertvolle Ressourcen der Völker gebunden,