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Den österlichen Mehrwert im Blick


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erfolgt. Der Prophet redet in Jes 1,10 anscheinend zu den Bewohnern Jerusalems, sozusagen zum Rest Israels. Dieser Rest war zwar gerade einem Geschick entgangen, wie es ehedem Sodom und Gomorra ereilt hatte. Doch in puncto Schuld und Sündhaftigkeit sieht Jesaja sein Israel immer noch auf derselben Stufe wie die einstigen Bewohner von Sodom und Gomorra stehen. Jesaja redet deshalb seinen Hörerkreis in Israel mit den Worten an: „Anführer von Sodom [...] Volk von Gomorra!“ Mit diesem provozierenden und schockierenden Tonfall streicht Jesaja erneut die Dringlichkeit der Belehrung heraus. Israel befand sich – noch – in der Gefahrenzone, in der ihm Untergang und Auslöschung drohen. So lenkt Jesaja mit einem Höraufruf die Konzentration auf die Lehrinhalte, durch die Israel aus der Gefahr herauskommen wird, falls es diese Inhalte auch beachtet und beherzigt. Die Lehrinhalte benennt Jesaja mit zwei Begriffen, die er später ebenso bei seiner Schilderung der Völkerwallfahrt einsetzen wird (2,3) und die dort chiastisch gewendet, also in umgekehrter Reihenfolge auftauchen: „Wort JHWHs“ und „Tora (unseres Gottes)“ (1,10). Lesende werden sich so in 2,3 leicht daran zurückerinnern können, dass vor der Tora für die Völker zuerst dem gefährdeten Israel eine Tora JHWHs mitgeteilt wurde. Die Lesenden werden diese erste Tora für Israel auch bei Jesajas Appell in 2,5 mitdenken können, mit dem der Prophet Israel, das „Haus Jakob“, auffordert, sich im „Licht JHWHs“ zu bewegen. Dem gefährdeten Israel hat Jesaja jedenfalls in 1,10 zugerufen: „Hört das Wort JHWHs, Anführer Sodoms! Horcht auf die Tora unseres Gottes, Volk von Gomorra!“

      Nach diesem Aufruf kommt Jesaja, der Prophet und berufene Rufer (vgl. Jes 6), seinem göttlichen Botendienst nach und unterbreitet Israel die Tora in Form einer belehrenden Rede JHWHs: Jes 1,11–17. Die Gottesrede wendet sich als Erstes Israels Kult, dessen Gottesdienst und dessen religiöser Praxis zu und übt daran heftige Kritik (1,11–15). Die Kritik geht auf göttlicher Seite mit weitreichenden Konsequenzen einher. Diese Konsequenzen reichen von JHWHs Erklärung, keinen Gefallen an Israels Opferdarbringungen zu haben (1,11), bis zu JHWHs Ansage, Israels Gebete nicht erhören zu wollen (1,15). Andere Prophetenbücher verwenden ebenso diesen Topos einer so genanten „Kultkritik“. Der Topos lehnt keineswegs jeglichen Kult und alles liturgische Agieren ab. Wohl aber entlarvt der Topos Haltungen und Verhaltensweisen in Israel, die mit einer aufrichtigen religiösen Hinwendung zu JHWH unvereinbar sind. Das alltägliche Verhalten und der soziale Umgang untereinander müssen in Israel dem Wollen und den Anliegen JHWHs entsprechen. Nur so wird Israel kultisch und religiös JHWH begegnen können. Andernfalls wird die Begegnung unmöglich. U.a. ein Detail deutet die gegenwärtige Unmöglichkeit zur Begegnung mit JHWH an. In Israel opferte man mit „Händen“ (1,12) und betete mit ausgebreiteten „Handflächen“ (1,15), doch die „Hände“ waren voller Bluttaten (1,15). Opfer und Gebete konnten die Bluttaten, die Gewaltausübungen am Nächsten (vgl. Gen 4), nicht verschleiern, und JHWH musste sich so von Israel abwenden. Folgerichtig unterbreitet deshalb die Tora am Schluss, was JHWH von Israel einfordert und was Israel tun soll (Jes 1,16–17). Bezeichnend sind die beiden letzten Forderungen. Israel hat „Waise“ und „Witwe“ bei Rechtsangelegenheiten aktiv zu unterstützen. Waise und Witwe stehen in der Antike und Bibel beispielhaft für die Kreise der Wehrlosen und Schutzbedürftigen. Damit schlägt die Tora einen Bogen, der von der Kultkritik bis zu den göttlichen Sozialforderungen reicht.

      Die Tora stellt Israel vor die Entscheidung. Das macht die folgende Gottesrede deutlich (Jes 1,18–20). Diese Rede ahmt einen Rechtsstreit vor Gericht nach. JHWH setzt sich wie in einem Rechtsstreit mit Israel als seinem Gegenüber auseinander. JHWH zeigt sich bereit, auch die schwersten Vergehen in Israel zu vergeben (1,18). Die göttliche Bereitschaft zur Vergebung gestattet Israel aber keineswegs, dass es sich bequem zurücklehnen kann. Die Tora hat soeben Israel kundgemacht, was JHWH wirklich gefällt. Nun macht JHWH klar, dass Israel auf die Anliegen in der Tora reagieren muss. Diese Reaktion wird die Weichen stellen, wie sich Israels Zukunft und Geschick gestalten werden. Macht sich Israel willig und gehorsam die göttlichen Anliegen zueigen, wird es ein glückliches Leben im Land führen (1,19). Falls nicht, kommt ein gewaltsames Sterben auf Israel zu (1,20).

      Eines ist noch zu den sozialethischen Ansprüchen JHWHs an Israel zu sagen. Diese Ansprüche werden in Kapitel 1 insbesondere mit den Begriffen „Recht“ (Jes 1,17) und „Gerechtigkeit“ benannt. Israels Geschick ist an das Ausüben von Recht und Gerechtigkeit gebunden. Literarische Pendelschläge machen das deutlich: Der Vers 1,21 muss eine Totenklage anstimmen; denn in Jerusalem waren zwar früher Recht und Gerechtigkeit vorhanden gewesen, beide Größen sind aber momentan abhandengekommen. Durch deren Verdrängen ist die Stadt JHWH untreu geworden und benimmt sich wie eine Dirne. Es werde schon ein Gerichtshandeln Gottes nötig sein müssen (1,24–25), das Jerusalem wieder auf ihren früheren Stand bringt, damit man sie „Stadt der Gerechtigkeit“ (1,26) nennen kann. Der Vers 1,27 schließlich bezieht Recht und Gerechtigkeit in eine mögliche zukünftige Erlösung ein: „Zion wird durch Recht erlöst, und ihre Umkehrenden durch Gerechtigkeit.“

      Damit ist ein wenig das Kapitel Jes 1 beschrieben, auf dessen Hintergrund die Schilderung der Völkerwallfahrt und Jesajas Appell an seine Adressaten in Jes 2,5 zu stehen kommen. Auf diesem Hintergrund werden an Jes 2,1–5 einige Aspekte sichtbarer. Diese lassen sich in vier Punkten bündeln.

      (1) Von Jes 1,1 bis Jes 2,5 wechseln die Perspektiven auf eine Weise, dass sich ein Kreis schließt. Sieht man von Randerscheinungen ab, so hat sich das erste Kapitel mit dem Binnenraum Israel befasst und ist auf diesen Binnenkreis konzentriert gewesen. Der erste Abschnitt des zweiten Kapitels weitet danach den Blickwinkel und nimmt die Völkerwelt, „alle Nationen“ (2,2), in den Gesichtskreis mit hinein. Nach dieser geweiteten Perspektive kehrt der Schlussvers des Abschnittes 2,5 wieder zum Binnenraum zurück. Ein wichtiger Effekt dieser Perspektivwechsel besteht darin, dass nun der Binnenraum Israel, das lebendige „Haus Jakob“, in eine Horizonterweiterung gebracht worden ist. Spricht Jesaja in 2,5 Israel auffordernd an, muss dieses Israel dabei die künftige Umtriebigkeit in der Völkerwelt mitbedenken.

      (2) Wenn der Vers Jes 2,5 an Israel appelliert, sich im „Licht JHWHs“ aufzuhalten, dann geht dieser Appell nicht einfach davon aus, dass Israel bei einem neutralen Nullpunkt anzufangen hat, als ob nichts gewesen wäre. Kapitel 1 hat gezeigt, dass sich Israel an einem Tiefpunkt befindet. Mit der Metaphorik des Verses 2,5 gesprochen, hält sich Israel noch wie in einer Finsternis auf, dem Gegenpol von Licht, und in keiner bloßen Grauzone. Schuld und Sünde, kultische Defizite und sozialethische Mängel haben Israel von seinem Gott JHWH entfernt und das Gottesvolk belastet. Israel steht vor einem langen Weg ins Licht, den es – wie Jes 1 darlegte – mit JHWHs Hilfe und orientiert am Maßstab Tora und an Recht und Gerechtigkeit beschreiten kann. Die beiden angesprochenen Wege, der der Völker und der Israels, sind einander ähnlich, aber sie sind auch voneinander unterschiedlich. In Zukunft wird die globale Völkerwelt sowohl eine örtliche als auch eine innere Bewegung vollziehen (2,2–4), aber der Binnenraum, das Haus Jakob, möge jetzt eine sehr weitgreifende innere Bewegung vollziehen (2,5).

      (3) Der Binnenkreis Israel weiß durch den geweiteten Gesichtskreis zur Genüge um die hoffnungsvollen und vielversprechenden Chancen für ein Zusammenleben in der Welt. Nationen und Völker werden in einen Friedenszustand eintreten können. Das Aussichtsreiche und Erfolgversprechende für das globale Miteinander werden dem Binnenkreis Israel wie ein Anreiz vor Augen gestellt, selber aktiv zu werden und sich zu bewegen. Was den wallfahrenden Völkern widerfahren soll, kann und darf Israel als anspornende Motivation aufgreifen. Der Gedanke bei der Motivation für den Binnenraum kann etwa so beschrieben werden: Handeln und leben wir als Haus Jakob derart, dass unsere eigene Gemeinschaft dem zukünftigen Friedenszustand und Glück unter den Völkern entspricht! – Falls aber diese Motivation nicht greift, könnte sich zumindest hypothetisch auch ein sehr düsteres Szenario einstellen, das nicht nur Israel, sondern auch die Völkerwelt betrifft:

      (4) Denn der Binnenkreis Israel ist in der literarischen Darstellung von Jes 1,1–2,5 alles andere als eine in seiner Existenz gesicherte Größe. Jes 1 hatte an Vernichtungen von Teilen Israels erinnern müssen. Die Gründe und Auslöser für die Vernichtungen herrschen aber immer noch im verschonten Rest-Israel vor. Falls dieses Rest-Israel weiterhin auf dem sündhaften Stand von Sodom und Gomorra verbleiben würde, droht dann diesem Israel nicht doch noch der Untergang (vgl. 1,20)? Im Falle eines solchen Untergangs könnten die Völker in Zukunft auch keinen bewohnten Zion und keine belebte Stadt