Hansruedi Kaiser

Situationsdidaktik konkret (E-Book)


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die Lernenden am Ende ihrer Ausbildung beherrschen müssen.

      • Ein neues Vorgehen, das von den Lernenden in den Unterricht eingebracht wird und das die Lehrperson nicht kennt.

      Neue Vorgehensweisen können die Lernenden unmittelbar im betrieblichen Alltag von anderen Mitarbeitenden lernen. Sie können sie auf eigene Faust oder im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen im Internet entdecken. Oder vielleicht bekommen sie die Gelegenheit, an einer betrieblichen Weiterbildung teilzunehmen, bei der beispielsweise die ganze Belegschaft im Umgang mit neuen Maschinenmodellen geschult wird.

      Da die Lehrperson das neue Vorgehen noch nicht kennt, gerät sie in die Rolle einer Lernenden. In diesem Moment sollte sie genau das tun, was gute Lernende auszeichnet: einerseits das neue Wissen mit dem vorhandenen verbinden und andererseits Anwendungsfragen und Anwendungsprobleme klären. In dieser Rolle dient sie den Lernenden als Modell, indem sie öffentlich und zusammen mit der ganzen Klasse dazulernt.

       Schritt 1: Kontext sicherstellen

      Die Lehrperson stellt sicher, dass alle von derselben Situation ausgehen. Bringt also jemand die App aus dem Beispiel spontan in den Unterricht mit, könnte eine erste Frage der Lehrperson lauten: «Moment, in welcher Situation soll das nützlich sein?»

       Schritt 2: Verständnissicherung

      Die Lehrperson versucht, das neue Vorgehen selbst einzusetzen. Sie lässt sich dabei von den Lernenden so lange helfen, bis sie sicher ist zu verstehen, wie dieses Vorgehen funktioniert. Sie ermuntert die anderen Lernenden dasselbe zu tun.

       Schritt 3: Fachliche Analyse

      Die Lehrperson fragt sich laut denkend und im Austausch mit den anderen Lernenden, nach welchen Prinzipien das Vorgehen funktioniert. Hier kommt der vorhandene fachliche und theoretische Wissensvorsprung der Lehrperson (im Beispiel der Satz des Pythagoras) zum Tragen. Unter Umständen wird aber auch eine (gemeinsame) Recherche beispielsweise im Internet nötig.

       Schritt 4: Erfahrungsbasierte Analyse

      Die Lehrperson erinnert sich an Fälle aus ihrer beruflichen Praxis, bei der sie selbst entsprechende Aufgaben zu lösen hatte (z.B. einen rechten Winkel überprüfen), und diskutiert mit den anderen Lernenden, ob das neue Vorgehen in all diesen Fällen einsetzbar gewesen wäre. Sofern die anderen Lernenden auch über entsprechende Erfahrungen verfügen, können auch sie diese als Testfälle einbringen.

       Schritt 5: Klärung von Anwendungsproblemen

      Die Lehrperson und die Lernenden fragen sich, ob sie nun in der Lage wären, das neue Vorgehen tatsächlich im beruflichen Alltag einzusetzen. Sie probieren es aus und diskutieren später ihre Erfahrungen und die aufgetretenen Schwierigkeiten.

      DIE LEHRPERSON ALS LERNMODELL IM ÜBERBLICK

      1. Kontext sicherstellen

      2. Verständnissicherung

      3. Fachliche Analyse

      4. Erfahrungsbasierte Analyse

      5. Klärung von Anwendungsproblemen

      A4.4 Anregungen zu den einzelnen Schritten

       Zu Schritt 1: Sicherstellen, dass alle von derselben Handlungssituation ausgehen

      Genauso wie bei Handeln vorbereiten ist es wichtig, dass alle Beteiligten möglichst plastisch dieselbe Gebrauchssituation vor Augen haben. Nur so ist ein konstruktives gemeinsames Lernen möglich. Gestaltet man gerade eine Unterrichtseinheit nach dem Rezept Handeln vorbereiten und bringen die Lernenden – wie im Beispiel mit dem rechten Winkel – die neue Vorgehensweise bei Schritt 3 oder auch später ins Spiel, dann sollte dies schon der Fall sein. Vorausgesetzt ist natürlich, dass die neu eingebrachte Vorgehensweise sich tatsächlich auf die betreffende Situation bezieht. Ist dies nicht der Fall oder taucht die neue Vorgehensweise sonst einmal während des Unterrichts spontan auf, muss als Erstes sichergestellt sein, dass man sich über den Kontext einig ist.

      Zu diesem Zweck befragt die Lehrperson zuerst einmal die Lernenden, die das neue Vorgehen in den Unterricht mitbringen (z.B. die App bzw. deren Einsatz), zur Gebrauchssituation. Wann wird das Verfahren eingesetzt? Zu welchem Zweck? Unter welchen Umständen? Die anderen Lernenden können ebenfalls Fragen stellen. Sind diese geklärt, berichten alle, ob und in welcher Form ihnen diese Situation bekannt ist.

       Zu Schritt 2: Verfahren grundsätzlich in den Griff bekommen

      Um sich differenzierter mit dem Verfahren auseinanderzusetzen, muss man es zuerst einmal im Prinzip verstehen. Das entspricht den Schritten 5 und 6 von Handeln vorbereiten. Zuerst sind die Lernenden, die das neue Verfahren eingebracht haben, im Sinne von Schritt 5 in der Verantwortung, den anderen das Vorgehen modellhaft zu demonstrieren (z.B. die genaue Handhabung der App im Kontext). Die Lehrperson kann hier die Rolle eines/einer aktiven Lernenden einnehmen und nachfragen, wenn ihr irgendetwas unklar ist. Sie kann auch in einem Protokoll das Verfahren schriftlich festhalten.

      Anschliessend geht es im Sinne von Schritt 6 von Handeln vorbereiten darum, mit spontan kreierten Beispielen erste Erfahrungen zu sammeln und allfällige Unklarheiten zu beseitigen. Die Lehrperson kann hier beim Einstieg helfen, indem sie zusammen mit der ganzen Klasse ein Beispiel kreiert und durcharbeitet (z.B. indem sie die Rechtwinkligkeit einer Ecke der Wandtafel überprüft). Anschliessend ist sie selbst Lernende und entwirft, tauscht und bearbeitet weitere Beispiele.

       Zu Schritt 3: (Kritische) Analyse des Vorgehens vor dem Hintergrund des fachlichen Wissens

      Bis zu diesem Punkt wurde das Verfahren einmal zur Kenntnis genommen – ohne einen Gedanken daran, warum es funktioniert oder ob es überhaupt funktionieren kann. Dies holt die Lehrperson nun nach, indem sie laut denkend Verbindungen zu ihrem Fachwissen herstellt (z.B. dazu, dass in rechtwinkligen Dreiecken die Gesetzmässigkeit gilt, die sich durch den Satz des Pythagoras darstellen lässt, und dass die App diese Gesetzmässigkeit nutzt). Sofern die Lernenden bereits über das entsprechende Wissen verfügen, kann die Lehrperson diese auch auffordern, diese Aufgabe zu übernehmen. Wie sehr die Lehrperson hier ins Detail gehen will, hängt davon ab, was zum Verständnis des Vorgehens unbedingt nötig ist (Hintergrund: C3 Situierte Abstraktion). Darüber hinaus spielen die zur Verfügung stehende Zeit, das Vorwissen und die Interessen der Lernenden und die relevanten Ziele des Lehrplans eine Rolle (z.B. braucht man für den Gebrauch der App den Satz des Pythagoras nicht zu kennen; er kann aber im Lehrplan verlangt sein oder bei den Lernenden auf Interesse stossen).

      Es kann vorkommen, dass die Lehrperson spontan die Verbindung zu ihrem fachlichen Vorwissen nicht herstellen kann oder gar nicht über entsprechendes Wissen verfügt (z.B. da sie immer mit dem Verhältnis 3:4:5 gearbeitet hat und den Satz des Pythagoras gar nicht kennt)[2]. Dann kann sie diese fachliche Einordnung auf die nächste Woche verschieben und die relevanten Zusammenhänge in der Zwischenzeit so weit wie möglich aufarbeiten. Alternativ können sich aber auch alle an einer gemeinsamen Recherche im Internet oder an anderen Orten beteiligen (Beispiel: C8 Gewisse Ungewissheit, Beispiel 2).

      Haben die Lernenden das neue Verfahren im Rahmen einer betrieblichen Weiterbildung kennengelernt, können sie möglicherweise nützliche Hinweise geben. Auf jeden Fall sollte diese theoretische Einbindung stattfinden. Ein mögliches Resultat der dabei angestellten Überlegungen kann auch sein, dass das Verfahren gar nicht funktionieren kann oder zumindest nicht in der Form, wie es von den Lernenden vorgestellt wurde.

       Zu Schritt 4: (Kritische) Analyse des Vorgehens vor dem Hintergrund des Erfahrungswissens

      Auch wenn das Verfahren grundsätzlich funktioniert, heisst das noch nicht, dass es – zumindest in der vorgestellten Form – im beruflichen Alltag zu gebrauchen ist. Um das zu klären, kann die Lehrperson ihren ganzen Erfahrungsschatz an erinnerten Situationen zur Verfügung stellen, in denen das neue Verfahren prinzipiell anwendbar sein